» Du musst heute den Boden wischen.«
Samantha wischte sich die frische Farbe von der Hand und dachte an die Worte ihres Vaters an jenem Abend. Wie viel heute anders sein könnte, hätte sie sich damals geweigert.
Es war kurz nach zehn gewesen.
Sie saßen an einem Plastiktisch hinter dem Kiosk, weil es von dort nicht weit bis zu den Getränken im Lagerraum war. Mutter hatte sie nicht im Haus haben wollen, weil sie früh ins Bett musste. Und die Abende mit dem Vater und ihrem Onkel waren immer spät und laut.
Onkel Abel wollte alles über den Songcontest wissen. Wie die Moderatorin und die anderen Fernsehleute hinter den Kulissen waren. Fred sagte nichts, er starrte vor sich hin und trank Brause.
»Du musst heute den Boden wischen.«
Samantha sah ihren Vater entgeistert an.
»Komm schon«, sagte er. »Ich hab von acht bis acht gearbeitet. Und was hast du gemacht?«
Samantha hätte sagen können, dass sie sich auf die Show am nächsten Tag vorbereitet hatte, mit dem Ziel, es ins Finale zu schaffen und ihrem Leben eine Wendung zu geben – nicht nur für sich selbst, sondern vielleicht für sie alle. Aber sie hatte den Mund gehalten.
»Deine Mutter hat Rückenschmerzen«, sagte ihr Vater. »Das weißt du. Du kannst uns ruhig ein bisschen unterstützen. Noch bist du kein Superstar. Und der Boden ist verdreckt.«
»Aber warum jetzt, Papa?«
»Wann willst du es denn sonst machen? Morgen? Du schläfst ja immer bis in die Puppen.«
Das stimmte nicht, sie schlief höchstens bis neun, aber ihr Vater war der Einzige, der nicht kapierte, dass Teenager viel Schlaf brauchten.
»Ganz deiner Meinung, Kenneth«, sagte Onkel Abel mit schiefem Lächeln. »Die Jugendlichen von heute müssen lernen, mit den Füßen auf der Erde zu bleiben.«
»Bodenhaftung, sag ich ja«, stimmte ihm ihr Vater zu.
Beide lachten.
»Willst du ihr nicht helfen?«, sagte Onkel Abel und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. Fred starrte mit seinen etwas zu großen Augen weiter vor sich hin.
»Das ist nicht mein Kiosk«, sagte er und hörte sich an wie ein trotziger Sechsjähriger und nicht wie ein Einundzwanzigjähriger. Samantha hatte nie ganz verstanden, was Fred eigentlich fehlte, aber sie hatte auch nie gefragt.
Die Familien trafen sich normalerweise ein- bis zweimal im Jahr, im Sommer und an den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. In der Regel endete es damit, dass die Brüder sich heillos betranken und Fred im Fernsehraum Zeichentrickfilme schaute. Samantha sollte sich dann immer »um ihn kümmern«, Karten spielen oder so was.
Aber mit Fred etwas zu unternehmen war echt schwer. Und noch dazu seltsam und unangenehm. Er war nicht in der Lage, sich mit anderen zu unterhalten. Beantwortete höchstens Fragen, stellte aber nie selber welche. Und wenn er ausnahmsweise mal den Mund aufmachte, sagte er Dinge, die sie nicht verstand.
Sie stand widerwillig auf und seufzte. Nahm den Wischer und einen Eimer. Es musste reichen, wenn sie die schlimmsten Flecken wegwischte und es anschließend ordentlich nach Kernseife roch.
Die Luft im Kiosk war stickig und schwül.
Samantha schob die Vordertür auf, um für Durchzug zu sorgen. Dann zog sie den dünnen Kapuzenpulli aus und fing im hinteren Teil des Ladens an. Sie seufzte, als sie die geplatzte Mehltüte und den weißen Fächer auf dem Boden sah.
Wütend holte sie ein Kehrblech und einen Besen aus dem Lagerraum und fegte das Mehl auf. Als sie danach die Packung hochhob, ärgerte sie sich, das nicht zuerst getan zu haben.
Genervt stöhnend entsorgte sie das Mehl im nächsten Abfalleimer und fegte noch einmal.
Endlich konnte sie mit dem Wischen anfangen. Mit langsamen, trägen Bewegungen schrubbte sie den feuchten Boden. Wie sehr sie dieses Wischen hasste.
Die Türglocke ging. Samantha verdrehte die Augen und rief:
»Wir haben geschlossen.«
Keine Reaktion.
Sie schrubbte weiter. Als sie sich aufrichtete, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, hörte sie Schritte. »Wir haben geschlossen«, wiederholte sie, diesmal lauter. »Ich mach hier nur noch sauber.«
Immer noch keine Antwort.
Sie stellte den Schrubber weg und ging um das nächste Regal, aber es war niemand da.
»Hallo?«, sagte sie.
Es war ganz still.
Sie zog die Schultern hoch und ging zurück zum Eimer. Bückte sich, um den Lappen auszuwringen. In diesem Moment hörte sie Schritte direkt hinter sich und fuhr herum.
»Ach, hallo«, sagte sie lächelnd. »Du bist das. Shit, hast du mich erschreckt.«
Sie hatte das plötzliche Bedürfnis, sich ihren Pulli wieder überzuziehen. Erst jetzt sah sie, dass es da, wo er stand, feucht war; es würde Fußabdrücke geben.
»Was willst du?«, fragte sie.
Er sagte nichts.
»Brauchst du was?«
Wieder keine Antwort.
»Okay«, sagte sie. »Dann mach ich hier mal weiter.«
Samantha wrang die letzten Tropfen aus dem Lappen. Sie wollte nach dem Schrubber greifen, der an dem Regal mit den Konserven lehnte, als sie seinen festen Griff um ihr Handgelenk spürte.
»Was soll das?«, sagte sie.
Plötzlich war sein Gesicht direkt vor ihr. Er versuchte, sie zu küssen, aber sie konnte sich befreien. Im nächsten Augenblick packte er sie auch mit der zweiten Hand und stieß sie so gegen das Regal, dass mehrere Waren zu Boden gingen.
»Hör auf«, sagte sie und rief gleich noch: »Lass das!«
Ohne Erfolg.
Er war stark.
Viel stärker als sie, sie hatte keine Chance, sich zu befreien. Und als er unvermittelt und brutal seine Hand an ihren Schritt schob, bekam sie echte Panik. Seine Augen funkelten vor aggressiver Geilheit. Sie versuchte zu schreien, worauf er ihr hart eine Hand auf den Mund drückte.
Er zwang sie auf den Boden.
Und dann war er über ihr. Presste mit seinen Knien ihre Beine auseinander.
Das hier passiert nicht wirklich, dachte sie. Lieber Gott, das hier passiert nicht. Er nahm für einen Augenblick die Hand von ihrem Gesicht, um sich die Shorts runterzuziehen. Sie schrie kurz um Hilfe, aber da schoss die Faust auch schon wieder auf sie zu und traf sie hart am Kopf. Ein scharfer Schmerz strahlte bis in den Nacken aus, ihr Gesicht fühlte sich taub an. Trotz allem versuchte sie, ihn von sich zu schieben.
Es ging nicht.
Er wollte ihr die Bikinihose runterziehen.
Sie hielt sie fest, wild entschlossen, nicht loszulassen. Aber er zog ihre Hand einfach weg, sodass der schon etwas mürbe Stoff der Hose riss. Entblößt lag sie vor ihm. Sein Unterkörper drückte sich an ihren. Und als er mit einem hitzigen Grunzen in sie eindrang, klingelte die Türglocke.
Samantha hatte die Glocke nie rausgeschmissen.
Sie klingelte auch jetzt wieder, als sie aus dem Kiosk ging und hinter sich abschloss. Die kalte Luft auf ihrem Gesicht tat ihr gut. Sie hatte einen schweren Kopf von den vielen Stunden in dem frisch gestrichenen Raum trotz der weit aufgerissenen Fenster.
Sie sah sich um.
Die Polizei war noch nicht fertig, aber sie wollte, sie konnte nicht warten.
Sie hob den Blick und atmete tief ein.
Dann nahm sie Kurs auf K-1492.