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Blix köpfte sein Ei, löffelte den Inhalt auf eine Scheibe Brot und streute Salz darauf. Er aß langsam und trank nach jedem zweiten Bissen einen Schluck Milch.

Jarl Inge Ree kam spät zum Frühstück. Er wirkte müde, wie nach einer Nacht mit wenig Schlaf, war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Bandage an der Nase saß schief. Er ging in die Küche und kam nach einer Weile mit einem Stapel Brotscheiben auf dem Teller zurück. Er hatte freie Platzauswahl, setzte sich aber genau gegenüber von Blix an den großen Tisch.

»Neuigkeiten?«, fragte er und schmierte eine dicke Schicht Fischpaste auf eine der Scheiben.

»Nein«, antwortete Blix.

Ree sah sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand ihr Gespräch belauschte.

»Hast du mit jemandem gesprochen?«, fragte er mit leiser Stimme.

»Ich habe gestern Abend mit Emma Ramm telefoniert«, antwortete Blix. »Sie ist noch immer in Osen. Die Suche nach Rita Alvberg geht heute weiter.«

Ree schmierte die nächste Scheibe, ohne die erste gegessen zu haben.

»Was ist mit der Polizei?«, fragte er. »Wissen die inzwischen mehr über Walter Kroos?«

»Von denen habe ich seit unserem Gespräch gestern nichts gehört«, antwortete Blix.

Der Holländer setzte sich zu ihnen. Ree begann zu essen. Durch das Kauen löste sich die Nasenbandage an einer Seite. Er ließ das Brot auf den Teller fallen, fluchte und drückte die Bandage wieder fest, sie löste sich aber gleich wieder.

»Verflucht!«, schimpfte er, dieses Mal lauter.

»In ein paar Wochen ist das wieder in Ordnung«, sagte Blix.

Ree nahm das Messer, als müsste er sich an etwas festhalten.

»Meine Nase ist mir doch scheißegal«, fauchte er.

Der Holländer, der vermutlich kaum ein Wort verstand, lächelte. Ree drehte sich zu ihm.

»Was gibt es da zu grinsen?«

»Nichts«, antwortete der Holländer. »Sorry.«

Es wurde still. Die anderen Insassen verfolgten jetzt interessiert, was vor sich ging.

»Ist hier irgendetwas witzig?«, wollte Jarl Inge wissen.

Noch ehe der Holländer antworten konnte, hatte Ree sein Gesicht auf den Teller geschlagen. Die Gabel flog zu Blix’ Seite des Tisches. Der Holländer schob sich vom Tisch weg und stand auf. Rote Marmelade tropfte auf sein T-Shirt.

Ree war sofort auf den Beinen, bereit weiterzumachen.

Blix stand auf, nahm Teller und Milchglas und trat einen Schritt zur Seite. Er durfte nichts tun, was seinen morgigen Freigang gefährdete.

Der Grubber war plötzlich zur Stelle und trat zwischen die beiden Streithähne.

»He, Chef«, sagte er zu Ree. »Entspann dich. Du kommst morgen hier raus. Mach das nicht kaputt.«

Jakobsen kam zu ihnen, blieb aber ein paar Meter entfernt stehen.

»Was ist hier los?«, fragte er und hielt das Funkgerät bereits in der Hand, um Verstärkung zu rufen.

Jarl Inge Ree drehte sich zu ihm um.

»Nichts«, sagte er. »Nur ein kleines Missverständnis.«

»No Problem«, fügte der Holländer hinzu.

Jakobsen musterte ihn, sah in die Runde und richtete sich schließlich an Blix.

»Alles in Ordnung«, sagte Blix.

Jakobsen blieb noch eine Weile stehen.

»Räumt euren Dreck auf«, sagte er.

»Ich kümmre mich drum«, sagte Grubber und stellte ein Glas auf, das umgekippt war.

Jakobsen ging zurück in den Wachraum.

Blix trank den Rest Milch und nahm Glas und Teller mit in die Küche. Danach ging er in seine Zelle und legte sich auf das gemachte Bett.

Es dauerte nicht lang, bis es an der Zellentür klopfte.

Blix richtete sich auf und schnitt eine Grimasse. Die Schmerzen in der Schulter waren immer noch da. Er würde mehr Schmerzmittel brauchen.

»Ja?«, rief er.

Jarl Inge Ree kam herein und blieb vor ihm stehen.

»Gibst du mir Bescheid, sobald du was hörst?«

»Ich halte dich informiert«, versprach Blix.

Ree blieb stehen. Er zögerte.

»Vielleicht könntest du anrufen und fragen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt?«

»Ich kann nicht einfach anrufen, ohne selbst irgendwelche Neuigkeiten zu haben«, sagte Blix und hielt inne.

»Außer du weißt mehr über Walter Kroos.«

Rees Stimme wurde lauter.

»Ich weiß einen Dreck über den«, sagte er. »Nur das, was ich schon gesagt habe.«

Blix zögerte kurz.

»Die Polizei glaubt, dass du mehr weißt«, sagte er dann.

»Wieso glauben die das?«, sagte Ree. »Ich habe mit dem Typ seit siebzehn Jahren nicht mehr geredet.«

»Er erinnert sich auf jeden Fall an dich«, sagte Blix. »Die deutschen Justizbeamten haben in seiner Zelle einen Zettel mit deinem Namen gefunden.«

Ree starrte ihn an, öffnete den Mund und kam einen Schritt auf ihn zu.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. »Was für ein Zettel?«

Blix zuckte mit den Schultern.

»Mehr weiß ich auch nicht.«

Ree fluchte noch einmal.

Es war gut einen Tag her, seit Blix das letzte Mal mit Fosse gesprochen hatte. Er war selbst neugierig, ob es irgendeine Entwicklung gab.

»Ich kann versuchen anzurufen«, sagte er und stand vom Bett auf.

»Ich warte hier«, sagte Ree, ohne zu fragen, ob das in Ordnung war.

Blix ging zum Wachraum. Jakobsen sah ihn misstrauisch an.

»Ich muss mal telefonieren«, sagte er. »Mit Gard Fosse.«

Jakobsen erhob sich widerwillig, nahm einen Ordner heraus und wählte eine Nummer, die dort verzeichnet war.

»Bleiben Sie am Apparat, dann verbinde ich Sie mit Alexander Blix«, sagte er, als sich am anderen Ende jemand meldete. Er legte das Gespräch auf das Zweitgerät und reichte es Blix.

Blix nahm es mit in die Telefonnische, um ungestört sprechen zu können.

»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Fosse sofort.

»Eigentlich nicht«, antwortete Blix. »Außer dass Jarl Inge ziemlich gestresst ist und gerne wüsste, ob ihr mehr über Walter Kroos wisst.«

»Wie deutest du das?«, fragte Fosse.

»Keine Ahnung«, antwortete Blix. »Er behauptet, alles gesagt zu haben, was er weiß, aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.«

Er hörte Verkehrslärm im Hintergrund.

»Ihr habt ihn noch nicht geschnappt?«

»Wir hatten gestern einen Einsatz in einer Jugendherberge in der Nähe von Horten«, sagte Fosse. »Wir hatten da einen vielversprechenden Tipp bekommen, aber der Betreffende war ein deutscher Landschaftsarchitekt. Es sind mehr als hundert Hinweise eingegangen. Die Leute wollen ihn überall gesehen haben, von Kristiansand im Süden bis nach Hammerfest im Norden. Du weißt ja, wie das ist. Wir wissen, dass eine Mitarbeiterin der Heilsarmee am Tag seiner Einreise vor dem Bahnhof in Oslo mit ihm gesprochen hat. Sie hat ihm den Weg zu einer Wechselstube erklärt. Dort hat er Euros im Gegenwert von fast 9000 Kronen eingetauscht. Danach verliert sich seine Spur.«

»Was ist mit der vermissten Frau?«, fragte Blix. »Rita Alvberg?«

»Die wird noch immer vermisst«, stellte Fosse fest.

Blix hatte noch weitere Fragen zu Samantha Kasin und der Vergewaltigung, kam aber nicht mehr dazu, sie zu stellen.

»Du, da kommt gerade ein Anruf, den ich annehmen muss«, sagte Fosse. »Ich rufe dich heute Nachmittag wieder an.«

Das Gespräch endete in einem langen Piepton. Blix gab das Telefon zurück und ging in seine Zelle. Ree hatte sich auf den Stuhl am Schreibtisch gesetzt.

Blix fasste das Wenige, was er erfahren hatte, zusammen. Ree starrte seufzend auf den Boden. Nach einer Weile hob er den Kopf und heftete seinen Blick auf ein Foto von Iselin.

»Das ist meine Tochter«, sagte Blix.

Ree erwiderte nichts, blieb aber sitzen, als wartete er darauf, dass Blix mehr über sie erzählte. Jarl Inge Ree war eigentlich der Letzte, mit dem er über seine Tochter reden wollte.

»Sie ist nur dreiundzwanzig Jahre alt geworden«, sagte er trotzdem und setzte sich aufs Bett.

Wenn er offen über Iselin redete, würde Ree vielleicht auch über Samantha reden.

»Von den dreiundzwanzig Jahren habe ich vielleicht ein Jahr mit ihr zusammengelebt«, fuhr er fort. »Es gab immer irgendeinen Fall. Überstunden. Die Bedürfnisse anderer, andere Prioritäten. Meine Frau und ich haben uns scheiden lassen, als sie noch klein war. Iselin wohnte bei ihr. Erst vor ein paar Jahren bekamen wir richtig Kontakt.«

Er nahm das Kopfkissen und stopfte es sich in den Rücken.

»Sie hatte gerade erst auf der Polizeischule angefangen, als sie ermordet wurde«, erzählte er weiter, schlug ein Bein über das andere und kämpfte gegen die Tränen an.

»Hört sich … echt schrecklich an«, sagte Ree. »Ich weiß nicht, ob ich es ertragen würde, ein Foto von ihr an der Wand zu haben.«

Blix richtete sich auf und räusperte sich.

»Die Menschen sagen immer, dass wir … weiterleben müssen. Aber das ist verflucht schwer. Jeder neue Tag ist eine echte Herausforderung.«

Beide schwiegen.

»Was willst du machen, wenn du rauskommst?«, fragte Blix.

Ree sah nachdenklich zu Boden. »Einen Tag nach dem anderen angehen«, sagte er und stand auf.