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Samantha hatte nur noch einen Gedanken: Die Polizei so schnell wie möglich loszuwerden und nicht über die Schwelle zu lassen. Die Zeit reichte nicht, um das Frühstück, Geschirr und Gläser wegzuräumen, die verrieten, dass sie vor Kurzem oder gerade einen Gast gehabt hatte.

Sie machte die Tür auf und trat auf den oberen Treppenabsatz. Schaute zu Arvid Borvik und einem Mann herunter, den sie noch nie gesehen hatte.

»Hallo, Samantha«, sagte Borvik. »Darf ich dir Nicolai Wibe von der Polizei in Oslo vorstellen?«

Er nickte. Sie sah ihm in die Augen, die sie misstrauisch anblickten.

»Wibe unterstützt uns bei den Ermittlungen zu Ritas Verschwinden«, fuhr Borvik fort. »Und dann ist er noch das Bindeglied einer laufenden Polizeiaktion, die zentral aus der Hauptstadt koordiniert wird.«

Samantha schluckte.

»Dürfen wir reinkommen?«

Sie legte eine Hand auf den Türknauf.

»Ich habe es ein bisschen eilig, muss gleich zur Arbeit. Wie kann ich helfen?«

Borvik und Wibe wechselten rasche Blicke.

»Du hast vielleicht in den Nachrichten gesehen, dass Walter Kroos aus einem Gefängnis in Deutschland ausgebrochen ist«, sagte Borvik. »Erinnerst du dich an Walter?« Er schob die Daumen so unter den Gürtel, dass die übrigen Finger an der Seite herunterhingen. »Vom Sommer 2004«, fügte er hinzu.

Samantha sah Borvik scharf an.

»Ja, ich erinnere mich an Walter.«

Der Osloer Kommissar machte einen Schritt nach vorn.

»Hat Kroos in irgendeiner Form Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«, fragte er.

»Nein.«

»Was ist mit den letzten Jahren – hatten Sie irgendwann Kontakt zu ihm?«

Sie schüttelte den Kopf.

Borvik nickte seinem Begleiter zu, um zu signalisieren, dass er weitermachte.

»Walter Kroos ist in Norwegen«, begann er. »Wir wissen nicht, wo oder welche Pläne er hat, aber wir sind hier, um dich … zu warnen.«

»Mich zu warnen?«

»Ja, für den Fall, dass …«

Borvik schien unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte.

»Dann betrachte ich mich hiermit als gewarnt«, sagte sie. »War es das? Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir.«

»Nur noch ein paar Fragen«, sagte Borvik. »Wann hast du Rita das letzte Mal gesehen?«

Auf der Straße fuhr ein PKW vorbei. Samantha folgte ihm mit den Augen, während sie nachdachte.

»Irgendwann im letzten Herbst, glaube ich«, sagte sie. »Ich habe sie im Pub getroffen. Sie war zu Hause, weil ihre Mutter krank war.«

Borvik nickte und zog die Daumen hinter dem Gürtel hervor.

»Wir setzen heute die Suche nach ihr fort.«

»Viel Erfolg. Ich hoffe wirklich, dass ihr sie findet.«

»Du weißt nicht zufällig etwas von einem bestimmten Ort, an dem sie gerne war, oder ob sie mit irgendwem aneinandergeraten ist?«

Samantha schnaubte. »Es ist ewig her, dass Rita und ich wirklich miteinander zu tun hatten.«

»Die Antwort ist also Nein?«, mischte der andere Polizist sich ein.

»Ich habe keine Ahnung, ob sie irgendwelche Probleme hatte, nein. Früher war sie viel unten am Steg, aber das haben Sie ja schon überprüft, soweit ich es mitbekommen habe.«

»Haben wir«, sagte Borvik. »Du … hast dich nicht an der Suchaktion nach ihr beteiligt?«

»Ob du’s glaubst oder nicht«, sagte Samantha, »aber nicht nur Polizisten haben einen Job zu erledigen.«

»Du renovierst gerade, wie ich sehe.«

»Gut beobachtet, Arvid. Dir entgeht aber auch gar nichts.«

Der Polizist ließ die Spitze unkommentiert.

»Okay«, sagte er stattdessen. »Wir wollen dich nicht länger aufhalten. Du meldest dich, wenn du was von Walter Kroos hörst?«

»Du wirst der Erste sein, den ich anrufe.«

»Danke für das Gespräch.«

Samantha zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Lehnte sich an den Türrahmen und kniff die Augen zu. Wartete, bis die beiden Männer wieder abgefahren waren, ehe sie sie wieder öffnete.

Walter wartete auf dem Flur vor den Schlafzimmern.

»Wie war es?«

»Gut«, antwortete sie barsch. »Kein Grund zur Beunruhigung.«

»Was wollten sie?«

»Sie haben Fragen zu Rita gestellt«, seufzte sie. »Ob sie irgendwelche Feinde hat und so.«

Sie verdrehte die Augen.

Walter blieb stehen.

»Kann ich wieder ins Wohnzimmer kommen?«, fragte er.

»Ich denke schon«, sagte sie.

Walter machte einen Schritt auf sie zu, alle Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

Es war an der Zeit, ihm den Rest zu erzählen, dachte Samantha.

Und dafür würde sie mit Arvid Borvik anfangen müssen.