Bei Markus Hadeland war noch mehr zu holen, dachte Emma, als sie zurück auf den Campingplatz fuhr. Polizei und Rotes Kreuz standen noch immer an der kleinen Freilichtbühne. Auch der Wagen der Taucher war noch da, bis jetzt schienen sie aber noch nichts gefunden zu haben.
Sie fuhr bis vor die Hütte. Markus Hadeland hatte sich gefreut, als er sie am Abend zuvor im Pub gesehen hatte, doch kaum hatte sie Fred erwähnt, hatte er dichtgemacht und war ihr anschließend aus dem Weg gegangen.
Sie schickte ihm eine Nachricht und fragte, ob sie sich im Laufe des Tages sehen könnten.
Beteilige mich an der Suche nach Rita , kam es prompt zurück.
Emma entschloss sich, den Druck etwas zu erhöhen.
Habe gerade ein interessantes Gespräch mit Freds Mutter geführt. So langsam kommen die Geheimnisse dieses Ortes an die Oberfläche.
Was sie da behauptete, war weit von der Wahrheit entfernt, andererseits könnte sie durchaus recht haben. Emma fügte hinzu, dass sie sich gern irgendwo treffen könnten, wo nicht so viele Augen und Ohren waren. Bevor Markus’ Antwort kam, hatte Emma Zeit, zu essen und die E-Mail eines Lesers zu lesen, der darauf hinwies, wie sexy das Foto in ihrer Byline sei.
W ie wäre es um sieben bei mir zu Hause? Wenn’s geht, zu Fuß.
»Hm«, sagte Emma laut.
Vielleicht wollte Markus nicht, dass jemand sah, dass sie bei ihm war. Was ein bisschen beunruhigend war. Trotzdem sagte sie zu.
Heute Abend um sieben Uhr also.
Das bedeutete mindestens noch eine weitere Nacht hier.
Sie suchte die Nummer von Samantha Kasin heraus und rief sie an. Keine Antwort.
Samanthas Auto stand neben dem Rezeptionsgebäude. Emma zog Jacke und Schuhe an.
Der Herbsttag war kühl, aber es war windstill.
Samantha hob den Blick, als Emma in die Rezeption kam. Das Licht des Bildschirms färbte ihr Gesicht weiß.
»Hallo«, sagte Emma lächelnd.
Sie hatte Samantha noch nie mit Brille gesehen. Sie stand ihr gut. Emma hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als Samantha die Brille auch schon wieder abgesetzt und seitlich neben die Maus gelegt hatte.
»Was kann ich heute für Sie tun?«, fragte sie.
Die Falten auf ihrer Stirn wirkten tiefer.
»Ich wollte fragen, ob ich noch etwas länger bleiben könnte«, fragte sie. »Wenigstens eine Nacht. Vorerst.«
»Da muss ich schauen, so ausgebucht, wie wir zurzeit sind«, sagte sie blinzelnd.
Emma lachte.
»Bleiben Sie, solange Sie wollen«, sagte Samantha. »Ich bin ja froh, wenn jemand hier ist.«
»Wie machen wir das mit der Bezahlung?«
»Das regeln wir, wenn Sie sich entschlossen haben, nach Hause zu fahren«, sagte Samantha. »Kein Problem.«
»Hört sich gut an.«
Emma drehte sich um, um wieder zu gehen, entschied sich dann aber anders.
»Samantha, ich … ich habe heute mit Sissel Salvesen gesprochen.«
Samantha sah sie abwartend an.
»Wir haben über Sissels Sohn gesprochen, Ihren Cousin Fred.«
Samantha sagte nichts, starrte sie nur an.
»Er ist 2007 im Osenvatnet ertrunken. Sie waren dabei. Sie und Jarl Inge.«
Samantha blieb noch immer still.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, ist Freds Tod nie untersucht worden?«
Samantha seufzte.
»Wollen Sie auch darüber schreiben?«
»Nicht unbedingt.«
»Ich dachte, Sie wollten was über Walter schreiben?«
»Das tue ich auch, ich versuche es jedenfalls. In dem Sommer, in dem Walter Kroos hier war, ist aber irgendetwas vorgefallen, das ich noch nicht ganz einordnen kann. Vielleicht ist das der Grund, dass er jetzt nach Norwegen gekommen ist.«
Wieder schwieg Samantha.
»Ich weiß, was Ihnen in diesem Sommer passiert ist.«
Die Muskeln in Samanthas Gesicht spannten sich an.
»Es war … Im Dorf kursieren Gerüchte, dass Walters Vater Sie vergewaltigt hat. Andererseits deuten einige Dinge darauf hin, dass das nicht stimmt.«
»Dinge?«, fragte Samantha verächtlich. »Was für Dinge?«
Es widerstrebte Emma zutiefst, Samantha an dieses traumatische Erlebnis zu erinnern. Es war das Unangenehmste an ihrem Job, immer wieder im Privatleben anderer Menschen herumzuwühlen, das sie eigentlich nichts anging.
»Ich kann meine Quellen nicht nennen«, sagte sie.
Samantha schüttelte resigniert den Kopf und starrte Emma wütend an, bis ihr Blick mit einem Mal weicher wurde.
»Haben Sie feste Schuhe?«, fragte sie.
»Wie bitte?«
»Lust auf einen Spaziergang? Ich war den ganzen Tag drinnen und brauche ein bisschen frische Luft.«
»Ja, äh … gerne.«
Samantha stand auf und nahm eine Outdoorjacke vom Stuhl. Dann beugte sie sich über die Tastatur und schaltete den Computer aus, bevor sie die Schlüssel vom Tisch nahm.
Emma ging vor ihr nach draußen.
»Es lässt sich leichter reden, wenn man läuft«, sagte sie lächelnd. »Das ist jedenfalls meine Erfahrung.«
Emma wusste nicht, wie sie den überraschenden Stimmungswechsel deuten sollte, als sie vom Rezeptionsgebäude in Richtung der Hütten gingen.
»Wohin gehen wir?«, fragte Emma.
»Der Wald ist immer ein guter Ausgangspunkt«, sagte Samantha.
»Suchen sie da nicht gerade nach Rita?«
»Schon, aber wir gehen nicht dorthin, wo sie suchen.«
»Okay, ich folge Ihnen.«
Sie waren erst wenige Meter gelaufen, als Samantha sagte:
»Ich … muss mich bei Ihnen entschuldigen. Als Sie hier angekommen sind, habe ich gesagt, dass ich … dass ich nicht weiß, wer Walter Kroos ist. Das war … eine Lüge. Ich kenne Walter. Aber vermutlich wissen Sie das schon lange.«
Emma antwortete mit einem bestätigenden Nicken.
»Die Frage hat mich kalt erwischt. Und … in dem Moment wollte ich mich nicht dazu äußern, wie wir uns kennengelernt haben.«
Sie suchte nach den Worten, schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Er war im Sommer 2004 hier«, sagte sie. »Walter und ich sind von Anfang an gut miteinander ausgekommen. Wir haben ein bisschen Zeit miteinander verbracht. Ich weiß nicht, was daraus geworden wäre – vermutlich nichts –, aber das alles hat ein jähes Ende gefunden, als ich an jenem Abend im Kiosk … vergewaltigt wurde.«
Sie sah zu Emma.
»Es war Fred, der das getan hat.«
Samantha zog die Schultern hoch und atmete tief aus.
»Ihr Cousin«, sagte Emma, obwohl sie die Antwort längst kannte.
Samantha nickte.
»Aber weil Fred so war, wie er war, wurde das von der Familie unter den Teppich gekehrt. Das war vermutlich am einfachsten für alle«, sagte sie. »Fred kannte keine Grenzen, nicht wie andere Menschen. Er konnte nicht einschätzen, was richtig und was falsch war. Er hat sich genommen, was er wollte, sei es die Schokolade aus dem Kiosk … oder etwas anderes. Die Familie hat vermutlich versucht, ihn zu beschützen. Deshalb wurde Borvik auch aufgefordert, das nicht weiterzuverfolgen.«
»Borvik?«, hakte Emma nach.
»Ja«, sagte Samantha verächtlich. »Er war auch da. Aber wie auch immer – es war nicht meine Entscheidung, dass Fred nicht bestraft wurde. Ich hatte nichts zu sagen. Im Nachhinein betrachtet mag das sogar richtig gewesen sein. Fred wäre vermutlich niemals verurteilt worden, was in einem kleinen Ort wie unserem vermutlich nur zu unendlich viel Gerede geführt hätte. Vielleicht auch an anderen Orten, was weiß ich … Ich war damals ja keine Unbekannte.«
Sie zeigte auf einen Pfad, der in den Wald führte.
»Aber gerade weil es in so einem kleinen Ort passiert ist, dauerte es nicht lange, bis alle wussten, dass etwas passiert war. Trygve Klepp hatte Walters Vater am Kiosk gesehen, was das Gerücht befeuerte, dass er mich vergewaltigt hatte. Diese Geschichte war leichter zu verkaufen, um es ein wenig zynisch auszudrücken. Walter und seine Familie reisten am nächsten Tag aus Osen ab und waren damit weg. Es ist immer leichter, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben, der nicht mehr da ist und sich nicht dagegen wehren kann.«
»Verstehe«, sagte Emma, um überhaupt etwas zu sagen.
Samantha erzählte weiter, wie die Dorfgemeinschaft sie aufgefangen hatte, nachdem die Vergewaltigung ihre Gesangskarriere ein für alle Mal beendet hatte. Sie war mit vielem durchgekommen, weil sie die war, die sie war, und so hatte sie ihre Grenzen extrem ausgetestet. Sie hatte viel getrunken und allerlei Drogen ausprobiert.
»Es gab niemanden, der mich aufgehalten hätte«, sagte sie. »Niemanden, der mir auch nur zu widersprechen wagte.«
»Nicht einmal Ihre Eltern?«, fragte Emma.
»Meine Eltern«, sagte Samantha verächtlich. »Die haben so getan, als würden sie es gar nicht sehen. Oder sie haben einfach weggeschaut. Ich glaube, sie wussten schlicht und ergreifend nicht, wie sie mit dem Geschehenen umgehen sollten. Vermutlich ist das auch gar nicht so leicht«, sagte sie, als wollte sie sie entschuldigen. »Wenn so etwas in einer Familie passiert. Und Mama war wegen all ihrer Krankheiten ja nicht richtig fit, und dann wurde auch noch Papa krank. Das war schon schwierig genug.«
Ohne dass Emma es mitbekommen hatte, befanden sie sich plötzlich im dichtesten Teil des Waldes. Samantha ging vor ihr den schmalen Pfad entlang. Sobald der Weg wieder breiter wurde, wartete sie, damit Emma neben ihr laufen konnte. Samantha sagte ihr, wie die einzelnen Waldstücke hießen und wo man gute Moltebeeren oder andere essbare Gewächse finden konnte.
Mehrmals hörte Emma Zweige knacken und dachte an die Suchmannschaften oder irgendwelche Tiere.
»Wer weiß alles, was wirklich passiert ist?«, fragte Emma.
Samantha schüttelte den Kopf.
»Nur wenige. Rita. Sie war an dem Abend da und hat mir geholfen.«
»Was ist mit Markus?«
Samantha rang sich ein kurzes Lachen ab.
»Wir waren schließlich ein paar Jahre verheiratet«, antwortete sie. »Ich musste es ihm sagen. Jarl Inge weiß es auch. Wir hatten über Jahre eine On-off-Beziehung.«
Aus alter Gewohnheit tastete Emma ihre Jackentasche ab, um sicherzugehen, dass sie ihr Handy dabeihatte. Es war nicht da. Normalerweise ging sie ohne ihr Telefon nirgendwohin. Aber sie hatte nur kurz in der Rezeption vorbeischauen wollen und später nicht mehr an das Handy gedacht.
»Es war doch sicher nicht leicht, nach diesen Geschehnissen noch Umgang mit Ihrem Onkel und Ihrem Cousin zu haben?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Samantha. »Wir hatten aber glücklicherweise nicht viel mit ihnen zu tun. Gewöhnlich kamen sie ein- oder zweimal im Jahr zu Besuch, aber nach dem Sommer dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich wieder blicken ließen. Eigentlich nur, wenn Onkel Abel Papa bei juristischem Kram für den Campingplatz helfen musste. Ich bin dann immer zu Rita oder einem meiner anderen Freunde gegangen. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Aber im Sommer 2007 war Fred dann doch wieder hier?«, sagte Emma. »Drei Jahre danach. Das Jahr, in dem er …«
»Ja«, sagte Samantha. »Er war da.«
Sie atmete schwer.
»Das war … ziemlich speziell.«
»Wie meinen Sie das?«
Samantha schien darüber nachzudenken, was sie sagen sollte.
»Ich wusste, dass sie kommen würden, und bin deshalb zu Jarl Inge gegangen. Damals waren wir zusammen. Mal wieder«, fügte sie lächelnd hinzu. »Wie so oft sind wir zum Steg gegangen.«
Der Pfad teilte sich und führte rechts und links um eine Baumgruppe herum. Samantha nahm den rechten, Emma den linken Weg. Als sie auf der anderen Seite wieder zusammenkamen, erzählte Samantha weiter.
»Ich bin die absolute Wasserratte. Eisbaden ist nicht mein Ding, was zurzeit ja total populär ist, aber im Frühjahr bin ich immer eine der Ersten im Wasser. Und ich schwimme bis spät in den Herbst. Ich bin das gewohnt. Es gefällt mir.«
Sie bog einen Zweig zur Seite, der über den Pfad ragte, und ließ Emma passieren.
»Und weil wir am See waren und es so schön warm war, habe ich mich ausgezogen und bin nackt ins Wasser gesprungen. Es waren ja nur Jarl Inge und ich da, niemand sonst in der Nähe. Dachten wir jedenfalls.«
Sie gingen eine kleine Anhöhe hoch. Samantha atmete keuchend.
»Was ich nicht wusste, war, dass Onkel Abel Fred instruiert hatte, sich bei mir zu entschuldigen. Da ich nicht zu Hause war, hat sich Fred auf die Suche gemacht. Irgendwann tauchte er dann am Steg auf. Fred war oft mit uns dort gewesen und kannte den Weg, außerdem wusste er, dass ich diesen Platz liebe.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie können es sich vielleicht denken – ich war im Wasser, nackt, und plötzlich stand Fred auf dem Steg. An Land gehen konnte ich da nicht, um es mal so zu sagen.«
Emma nickte.
»Er stand einfach nur da und sagte, dass er mit mir reden wollte. Ich hatte kein Interesse daran, aber er weigerte sich zu gehen. Sein Vater hatte ihm die strenge Order erteilt, mit mir zu reden, und er wirkte völlig darauf fixiert. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr zu stoppen. Mir wurde langsam kalt. Und dann, ganz plötzlich, machte er einen Schritt nach vorn, landete im Wasser und schwamm auf mich zu.«
Emma sah die Szenerie vor sich.
»Ich bin weiter rausgeschwommen, weil ich nicht wollte, dass er zu mir kam. Weiß Gott, was ihm für Ideen gekommen wären, wenn er bemerkt hätte, dass ich nackt war. Plötzlich begann er, mit den Armen im Wasser herumzuplatschen und zu prusten. Ich habe erst kapiert, was da los war, als Jarl Inge zu schreien anfing und ich sah, dass er wild mit den Armen ruderte. Ich war, wie gesagt, ziemlich weit draußen. Jarl Inge sprang ins Wasser. In voller Montur.«
Samantha machte eine Pause.
»Fred war bereits untergegangen«, fuhr sie fort. »Als mir der Ernst der Lage klar wurde, bin ich natürlich auch losgeschwommen. Jarl Inge ist immer wieder getaucht, konnte Fred aber nicht finden. Das Wasser ist, wie Sie ja selbst gesehen haben, ziemlich moorig. Schließlich … mussten wir aufgeben.«
Samanthas Wangen glühten rot.
»Wir haben natürlich die Polizei gerufen, die nach gut zwanzig Minuten auch da war. Ich hatte mich in der Zwischenzeit wieder angezogen, aber Jarl Inge, der Arme, saß vollkommen durchnässt da. Fred haben sie erst am nächsten Tag gefunden. Sein Körper war wieder an die Oberfläche gekommen, weit von dem Platz entfernt, an dem er untergegangen war.«
Sie kamen in einen von Moos überwucherten Bereich.
»Das ist hier eine gute Pilzgegend«, sagte Samantha. »Viele Pfifferlinge.«
Emma blickte in die Richtung, in die Samantha zeigte, obwohl sie sich eigentlich gar nicht für Pilze interessierte. Sie dachte an Abel Kasin, der seinen eigenen Sohn dazu gebracht hatte, in den Tod zu springen. Die Schuldgefühle würden ihn vermutlich bis an sein Lebensende verfolgen. Sie verstand, warum Sissel Salvesen gesagt hatte, dass er sich nicht dazu äußern würde.
In einem kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit trat Emma auf eine glatte Wurzel und knickte um. Muskeln und Bänder im rechten Fuß gaben nach. Sie schrie auf, als ein stechender Schmerz durch ihren Knöchel schoss, der sie fast in die Knie gezwungen hätte, aber sie konnte sich auf dem anderen Bein halten. Die Schmerzen ließen ihre Haut bis in den Nacken hoch kribbeln.
»Alles in Ordnung?«, fragte Samantha.
Emma spürte, wie ihr Knöchel im Schuh anschwoll.
»Mist«, sagte sie und biss die Zähne aufeinander. »Das tat verdammt weh.«
Sie beugte sich vor und hielt die Luft an. Dann drückte sie sich langsam hoch.
»Wird schon gehen«, sagte sie und versuchte, den Fuß aufzusetzen. Wieder schoss der Schmerz durch ihren Knöchel. »Wird schon gehen«, sagte sie, als wollte sie sich selbst Mut machen.
Emma war froh, nicht allein zu sein. Die kreuz und quer verlaufenden Wege verwirrten sie, und sie war sich nicht sicher, ob sie ohne Samantha zurückfinden würde. Und das auch noch ohne Handy.
Sie warteten ein paar Minuten, bis die Schmerzen sich etwas legten. Samantha stand neben ihr und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
»Wenn wir dieselbe Strecke zurückgehen, ist es weiter«, sagte sie. »Nehmen wir diesen Weg«, sie zeigte geradeaus, »sind wir in einer halben Stunde zurück. Schaffen Sie das? Können Sie so weit laufen?«
»Ich muss .«
Emma versuchte sich an einem Lächeln.
Langsam, Schritt für Schritt, gingen sie weiter. Es tat schrecklich weh, aber sie machte kleine Schritte und achtete darauf, den rechten Fuß nicht zu sehr zu belasten. Samantha drehte sich immer wieder um und vergewisserte sich, dass sie mitkam.
Emma versuchte, ihre Gedanken von dem Schmerz abzulenken.
»Warum hat Ihr Onkel Fred allein losgeschickt, um Sie zu suchen?«
Samantha verdrehte die Augen.
»Konnte er sich nicht denken, dass das für Sie vielleicht ein bisschen beängstigend ist? Dass Fred vielleicht besser in Begleitung eines Erwachsenen gekommen wäre?«
»Mein Onkel mag ein guter Anwalt sein«, sagte Samantha, »ein Menschenkenner ist er aber nicht. Und später hat er immer wieder beteuert, dass es Fred viel besser gegangen wäre, was auch immer das heißen mag.«
Emma humpelte weiter.
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte sie.
Es vergingen ein paar Augenblicke, bis Samantha antwortete.
»Damit Sie wissen, was passiert ist«, sagte sie. »Sie reden mit den Leuten hier. Von denen manche keinen Schimmer haben und nur die Gerüchte wiederkäuen, die hier kursieren. Und das geht schnell in die falsche Richtung.«
Emma zog den Fuß hinter sich her.
»Ich versuche zu verstehen, warum Walter ausgebrochen und nach Norwegen gekommen ist. Die Gerüchte über seinen Vater werden wohl kaum bis nach Deutschland durchgedrungen sein. Und selbst wenn, wäre das doch kein Motiv für einen Ausbruch.«
Samantha zuckte mit den Schultern.
»Irgendwohin muss man ja gehen«, meinte sie. »Vielleicht hat ihm Norwegen gefallen.«
Sie gingen weiter.
»Es kann nicht einfach für Sie sein, über diese Dinge zu reden«, sagte Emma.
Samantha blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
»Nichts davon ist einfach«, sagte sie. »Weiterzuleben mit so tiefen Narben. Aber ich tue, was ich kann.«
»Ich finde, Sie machen das super«, sagte Emma. »Sie haben die Leitung des Campingplatzes übernommen. Sie renovieren. Und dazu dann noch die Flucht von Walter Kroos, da kommt die ganze Vergangenheit wieder hoch, nicht zuletzt dank Leuten wie mir.«
Samantha lächelte.
»Sie machen doch auch nur Ihren Job. Aber Sie verstehen sicher, dass ich nicht will, dass Sie darüber schreiben.«
»Natürlich.«
Es begann, kalt zu werden, als sie einen breiteren Weg erreichten, wo Emma etwas leichter vorankam. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden.
Hinter einer Kurve trat ein Mann aus dem Wald auf den Weg, blieb stehen und sah sie an. Sie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben.