Emma warf einen resignierten Blick auf die Unordnung auf der kleinen Anrichte und sehnte sich nach ihrer eigenen Wohnung, wo sie alles unter Kontrolle hatte und wusste, wo was hingehörte. Jetzt suchte sie nach Spülmittel, Bürste, Lappen und Trockentüchern.
Es war ein schöner Abend gewesen, wenn auch mit einem etwas beklemmenden Ende. Außer dem köstlichen Essen und Wein hatte Markus auch Kaffee und Cognac mitgebracht. Mit zunehmendem Alkoholpegel war er selbstsicherer geworden und hatte begonnen, klare Signale zu senden, was er sich als Nachtisch wünschte. Irgendwann hatte er Emma gefragt, ob zu Hause in Oslo jemand auf sie wartete. Die Erwartung in seinem Blick war unmissverständlich gewesen.
Emma zweifelte nicht daran, dass sie ihn mochte, aber eben nicht auf diese Weise. Was sie ihm auch klar zu verstehen gegeben hatte, um Missverständnisse zu vermeiden. Kurz darauf war Markus aufgestanden, hatte seinen Rucksack gepackt und gesagt, dass früh am nächsten Morgen ein paar undankbare, uninteressierte Schüler auf ihn warteten. Und die Art, wie er das gesagt hatte, hatte Emma verstehen lassen, dass die Adjektive durchaus auch auf sie gemünzt waren.
Emma warf die Essensreste weg und spülte ab. Die Mülltüte stellte sie neben die Tür, dachte dann aber, dass es am nächsten Morgen in der ganzen Hütte nach kaltem Essen riechen würde. Nach draußen wollte sie den Beutel nicht stellen, um keine Tiere anzulocken. Glücklicherweise war es nicht weit bis zum nächsten Müllcontainer.
Sie machte ein paar prüfende Schritte.
Der Knöchel war noch geschwollen, aber trotzdem hinkte sie zum Eingang und versuchte, die Schuhe anzuziehen. Der Schmerz war auszuhalten, außerdem gab der hohe Schaft dem Knöchel etwas Halt. Sie zog die Jacke an und öffnete die Tür.
Draußen stellte sie den Müllbeutel ab und schloss die Jacke. Es war kalt. Im Licht des Vollmonds war es weniger unheimlich, so spät noch draußen zu sein. Emma scannte die Umgebung und entdeckte unter einer der Laternen einen Müllbehälter.
Langsam und sorgsam darauf bedacht, den Fuß nicht zu stark zu belasten, ging sie los. Sie öffnete den Deckel des Mülleimers und warf den Beutel hinein. Ein übler Gestank schlug ihr entgegen. Vermutlich wurde hier außerhalb der Saison nicht so oft geleert. Sie warf den Deckel zu, drehte sich um und ging ein paar Schritte, ehe sie stehen blieb und zurückhinkte.
Erneut schlug ihr der beißende Gestank entgegen. Sie hielt die Luft an und sah in den Container. Unter ihrem eigenen Abfall lag eine Tüte mit dem unverkennbaren gelb-blauen Lidl-Logo.
Lidl, dachte sie.
Der deutsche Discounter hatte in den Zweitausendern versucht, in Norwegen Fuß zu fassen, doch inzwischen waren alle Filialen von Rema 1000 übernommen worden. Lidl existierte Emmas Wissen nach weiterhin sowohl in Dänemark als auch in Schweden, weshalb die Tüte natürlich von skandinavischen Gästen stammen konnte.
Oder von deutschen. Insbesondere einem Deutschen.
Sie sah sich um. Vielleicht verriet der Inhalt der Tüte ja etwas über die Person, die sie weggeworfen hatte. Der Gestank hielt sie davon ab, sie aufzureißen, außerdem war der Container so tief, dass sie die Tüte nicht erreichen konnte, ohne sich mit dem ganzen Oberkörper hineinzubeugen. Mit einem Mal fühlte sie sich beobachtet, obwohl sie niemanden sah. Sie schüttelte sich.
Sie schloss den Container und ging, so schnell sie konnte, zurück zu ihrer Hütte. Als sie umständlich die Schuhe auszog, ärgerte sie sich, so schnell gelaufen zu sein. Der Schmerz pulsierte in dem wieder dickeren Knöchel.
Emma hinkte zu ihrer Tasche, die über der Lehne des Stuhls hing und einen Notvorrat an Schmerztabletten enthielt. Sie drückte zwei der vier Tabletten aus der Packung und schluckte sie mit dem Rest Wasser aus ihrem Glas. Vielleicht konnte sie mit den Pillen ein bisschen schlafen.
Dreieinhalb Stunden später blinzelte sie zum x-ten Mal auf ihr Handy.
03.06 Uhr.
Sie seufzte.
Ihr Fuß pochte. Jede Position war unangenehm. Auch ein Kissen unter dem Knöchel hatte nicht geholfen. Und all das, was Markus über Samantha und Fred erzählt hatte, war dem Schlaf nicht sonderlich zuträglich.
Etwas ließ ihr keine Ruhe.
» Völlig darauf fixiert.«
Exakt dieselbe Wendung hatte Samantha bei ihrer Beschreibung von Fred verwendet. Auch sonst waren die beiden Geschichten, die sie gehört hatte, auffällig identisch. Emma fragte sich, ob Samantha das Gespräch mit ihr vorher geplant hatte. Vielleicht sogar geübt. Dass selbst Markus, der Samantha so gut kannte, die Geschichte über Fred seltsam vorkam, bestätigte Emma nur in dem Gefühl, dass da etwas nicht stimmte.
Sie schlug die Decke zur Seite und stellte die Füße auf den kalten Hüttenboden. Als sie aufstand, spürte sie wieder die Schmerzen durch den Knöchel schießen. Sie schluckte die letzten beiden Schmerztabletten und fragte sich, wann am nächsten Tag die Geschäfte öffneten.
Emma trat an das Fenster, von dem aus sie den See sehen konnte. Die Oberfläche glitzerte silbern im Licht des Vollmonds. Das Wasser war still. Dahinter zeichneten sich ein dunkler Wald und eine kleine Erhebung ab. Der Anblick ließ sie langsamer atmen.
Dann kniff sie die Augen zusammen.
Am Steg bewegte sich etwas.
Im Mondlicht war nicht mehr als eine Silhouette zu erkennen.
Emma legte die Hände ans Fenster, um besser zu sehen. Es sah aus, als schleppe jemand etwas zum Ende des Stegs. Sie hinkte zu ihrem Bett und holte das Handy. Öffnete die Kamerafunktion und versuchte, den Steg einzuzoomen, aber das Bild wurde zu körnig.
Die Person bewegte sich langsam, blieb stehen. Legte etwas ab. Aus der Distanz waren unmöglich Details zu erkennen, aber allein der Zeitpunkt war verdächtig. So spät würde es eine Ewigkeit dauern, bis die Polizei hier war. Und was sollte sie ihnen sagen? Sie hatte ja keine Ahnung, was dort vor sich ging.
Vor drei Tagen war sie nach Osen gekommen.
Drei Tage intensiver Recherche und Wühlerei, die immer deutlicher zu Tage förderten, welche Wunden und nachhaltigen Verletzungen sich einige der Dorfbewohner zugezogen hatten. Und alles hing irgendwie mit dem Sommer zusammen, in dem Walter Kroos mit seiner Familie hier gewesen war. Es fehlten ihr im Moment noch die letzten Puzzlesteinchen, um alles zu verstehen, obgleich sie das Gefühl hatte, der Wahrheit näher zu sein als jemals zuvor. Das, was dort am Strand vor sich ging, musste nicht zwingend etwas mit Rita Alvberg, Walter Kroos oder Samantha Kasin zu tun haben. Emma hatte aber das dringende Bedürfnis, das herauszufinden.
Sie verlagerte das Gewicht auf beide Füße.
Es tat weh.
Hatte sie es geschafft, zum Müllcontainer zu gehen, würde sie es auch zum Badesteg schaffen, Schmerzen hin oder her.
Emma zog sich die Jacke an und schlüpfte nach draußen. Dieses Mal versicherte sie sich, dass sie ihr Handy eingesteckt hatte. Von den stechenden Schmerzen ließ sie sich nicht aufhalten.
Der Himmel war sternenklar und die Vegetation ringsherum taunass. Emma machte kleine Schritte und achtete genau darauf, wohin sie ihren Fuß setzte, um keine Geräusche zu machen. Immer wieder blieb sie stehen und lauschte, hörte aber nichts.
Am Strand stellte sie sich hinter einen dicken Baum. Es war niemand zu sehen, aber auf dem Steg lag etwas. Ein Bündel. Als Emma gerade überlegte, ob die Person gegangen war, hörte sie ein Geräusch aus einem der Bootshäuser. Gleich darauf glitt ein Kahn heraus, das Wasser gluckste unter dem Bug.
Ein Mann mit Kapuze über dem Kopf ruderte langsam hinaus. Im offenen Wasser drehte er sich zur Seite, machte ein paar Schläge mit dem linken Ruder und nahm Kurs auf den Steg.
Emma nahm das Handy und entsperrte es. Mit der Jacke schirmte sie das Licht des Displays ab. Dann öffnete sie die Kamerafunktion, vergewisserte sich, dass der Blitz ausgeschaltet war, und startete die Videoaufnahme. Die Bilder würden grobkörnig sein, aber anders ging es nicht. Sie filmte, was auf dem Wasser vor sich ging.
Das Boot bewegte sich ungleichmäßig und langsam vorwärts. Der Mann platschte mit den Rudern, irgendwann legte er dann aber doch am Steg an. Unsicher stand er auf, wartete ein paar Sekunden, bis er im Gleichgewicht war, und stellte einen Fuß auf den Steg.
Das Boot schaukelte, als er sich mit dem anderen Fuß abstieß und nach oben kam. Fast wäre der Kahn abgetrieben, doch im letzten Moment gelang es ihm, ihn zurück an den Steg zu ziehen.
Emma machte einen Schritt zur Seite für eine bessere Kameraposition. Immer wieder hob sie den Blick, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort vor sich ging.
Während der Mann an dem Bündel zerrte, trieb der Kahn wieder etwas vom Steg weg. Er musste ihn mit einem Fuß festhalten und verlor fast die Balance, aber schließlich gelang es ihm, das Bündel oder die Plane oder was es auch war, ins Boot zu ziehen.
Er richtete sich auf und sah sich um.
Emma zog sich hinter den Stamm zurück, unsicher, ob er sie gesehen hatte. Der Mann konzentrierte sich aber wieder auf sein Vorhaben und drehte das Boot mit dem Achterende zum Steg. Dann stellte er einen Fuß hinein. Als er sich mit dem anderen Fuß am Steg abstoßen wollte, rutschte die Sohle auf dem nassen Holz weg. Er verlor das Gleichgewicht, warf sich nach vorn in Richtung Boot, aber der Sturz ins Wasser war nicht mehr zu vermeiden. Er verschwand unter Wasser, und das Boot trieb ab.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wieder an die Oberfläche kam. Er schnappte nach Luft und ruderte mit den Armen, um sich die Kapuze vom Kopf zu ziehen. Das Boot trieb weiter ab. Er schwamm hinterher, aber der Abstand wurde immer größer. Irgendwann gab er es auf. Emma konnte das Boot im Dunkel nicht mehr sehen, filmte aber weiter in der Hoffnung, dass der Mondschein sein Gesicht erleuchtete.
Er drehte um und schwamm zum Steg, kam in den nassen, schweren Kleidern aber nur langsam vorwärts. Er atmete schwer und schnell. Als er den Steg erreicht hatte, klammerte er sich eine Weile fest.
Im nächsten Augenblick drehte er den Kopf und sah direkt in Emmas Richtung. Gleichzeitig schien der Mond auf sein Gesicht. Aus der plötzlichen Eile, mit der der Mann auf den Steg kletterte, schloss Emma, dass er sie gesehen hatte. Sie drehte sich um und lief weg.
Der verletzte Fuß zwang sie aber zur Langsamkeit, die Schmerzen schossen bei jedem Schritt nach oben in ihr Bein, außerdem ging es bergauf. Emma versuchte, im Laufen die Nummer des Notrufs zu wählen. Kurz darauf meldete sich jemand.
Ohne nach hinten zu blicken, versuchte sie, die Situation zu erklären. Ihr Atem ging keuchend. Sie verhaspelte sich und musste noch einmal ansetzen.
»Bleiben Sie am Apparat«, sagte die Frau, als Emma zum Ende gekommen war.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe!«, sagte sie. »Ich brauche beide Hände.«
»Stecken Sie das Handy in die Tasche«, sagte die Frau. »Nur nicht auflegen.«
Emma folgte den Anweisungen und drehte beim Laufen immer wieder den Kopf, um zu sehen, ob der Mann ihr folgte.
Sie konnte nichts erkennen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er aufholte und sie jagte.
Emma hinkte, so schnell sie konnte, setzte einen Schritt vor den anderen, rechnete jeden Augenblick damit, seinen Atem hinter sich zu hören, schnelle Schritte, und von ihm zu Boden gerissen zu werden. Sie mobilisierte die letzten Kräfte und ignorierte die Schmerzen. Die Milchsäure in ihren Schenkeln wurde spürbar, als sie wenige Hundert Meter vor sich die Straße sah.
Sie stellte sich vor, dass vor ihr die Straßenbahn war, die sie erreichen musste. Als sie sich das nächste Mal umsah, stieß sie mit dem rechten Fuß gegen einen Stein. Die Schmerzen schossen in ihren großen Zeh, aber den Mann sah oder hörte sie noch immer nicht.
Emma tastete in der Jackentasche nach dem Hüttenschlüssel, aber bevor sie ihn richtig packen konnte, rutschte er ihr aus den Fingern und fiel zu Boden. Sie fand ihn in der Dunkelheit nicht gleich, warf sich auf die Knie und tastete alles ab. Endlich umklammerten ihre Finger den Schlüssel, Kies und Gras. Sie rappelte sich auf und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Auf den letzten Metern zur Hütte wurde ihr schwindelig, aber sie schaffte es, mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss zu schieben und die Tür zu öffnen.
Sie war drinnen.
Sie war in Sicherheit.