Die zwei Boote lagen nebeneinander am Ufer, ein Stück auf den Sand gezogen. Emma erahnte das Bündel in dem einen und schoss ein paar Fotos. Aus der Entfernung und in dem Zwielicht war das Ergebnis nicht sonderlich gut, aber es musste reichen.
Den Polizisten schien ihre Anwesenheit nicht ganz recht zu sein, aber sie sagten nichts. Auch nicht, als sie näher kam und offensichtlich weiterknipste. Emma schloss daraus, dass keiner von ihnen die Befugnis hatte, sie offiziell zum Gehen aufzufordern. Nachdem sie die Bilder gemacht hatte, die sie haben wollte, richtete sie sich auf einem großen Stein im Übergang zwischen Sand und Gras ein und schickte eine lange Nachricht an Anita Grønvold.
Emmas Chefin bei news.no war in der Regel früh auf den Beinen. Ihre ersten Instruktionen und Ermahnungen gingen häufig kurz nach fünf raus.
»Schick mir ein paar Zeilen, wie du das Ganze erlebt hast«, schrieb sie. »So detailliert wie möglich. Augenzeuginnenbericht.«
Emma öffnete ein leeres Dokument auf dem Handy und notierte ein paar Eindrücke. Es bereitete ihr körperliches Unwohlsein, in Worte zu fassen, was sie gesehen und erlebt hatte. Noch einmal die Angst zu durchleben, die ihr in Lunge, Beinen und Brust gesteckt hatte. Sie hatte sich wie in einem Albtraum gefühlt, hatte gefürchtet, jeden Moment sterben zu müssen. Ein Gefühl, das sie schon ein paarmal zu oft gehabt hatte.
Um halb sieben Uhr tauchte Arvid Borvik auf, gefolgt von zwei Fahrzeugen der Kriminaltechnik. Dicht am Ufer wurde ein Zelt errichtet. Inzwischen wuselten so viele Personen um die Boote herum, dass Emma nicht mehr sehen konnte, ob sie den Schlafsack ins Zelt gebracht hatten oder direkt im Boot untersuchten.
Im Osten wurde es langsam hell.
Mit jeder Minute erwachten die Farben um sie herum. Die Szenerie hatte etwas Morbides – das Schöne gleich neben dem Dramatischen. Auch der Bereich um das Bootshaus herum war inzwischen abgesperrt worden.
Kurz nach sieben kam Borvik mit schweren, schlurfenden Schritten zu dem Stein, auf dem Emma saß.
»Guten Morgen«, sagte er.
Emma stand auf und begrüßte ihn.
»Sie haben eine aufregende Nacht hinter sich, habe ich gehört?«
»Das können Sie laut sagen«, erwiderte Emma.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, sagte sie, überrascht über die fürsorgliche Frage. »Nur ein bisschen kalt.«
»Das ist der Herbst«, sagte er. »Hin und wieder spürt man noch einen Hauch von Sommer, der Winter meldet sich aber auch schon.«
Emma wollte nicht übers Wetter sprechen.
»Ist das Rita Alvberg?«, fragte sie mit einem Nicken in Richtung Seeufer.
»Um das mit Sicherheit sagen zu können, ist es noch ein bisschen früh.«
»Aber es handelt sich um eine Leiche?«
Borvik strich sich mit einer Hand über den grauen Bart.
»Ich kann bestätigen, dass wir einen Leichnam gefunden haben«, begann er. »Momentan lässt sich aber noch nichts Konkreteres zu Identität oder den taktischen Ermittlungen sagen.«
»Sie verneinen also nicht, dass es sich um eine Mordermittlung handelt?«, wollte Emma wissen. »Ich meine, eine Leiche in einem mit einer Kette umwickelten Schlafsack, dazu ein Gewicht … Das ist doch ein offensichtlicher Versuch, mitten in der Nacht etwas im See zu versenken, und das in der Nacht, nachdem Sie Ihre Suche nach Rita Alvberg abgeschlossen haben …?«
Borvik ließ ihre Frage unbeantwortet.
»Haben Sie irgendein Fahrzeug gesehen?«, fragte er stattdessen.
Emma schüttelte den Kopf. Der Gedanke war ihr auch schon gekommen. Wenn die Tote Rita Alvberg war, musste ihre Leiche irgendwo versteckt gewesen sein, bevor sie zum Steg transportiert wurde. Ihr war aber kein Fahrzeug aufgefallen. Alles war still gewesen.
»Der Mann im Boot, könnte das Walter Kroos gewesen sein?«, fragte sie.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Borvik zurück.
Es war mehr ein Bauchgefühl als alles andere.
»Die Summe verschiedener Dinge«, antwortete Emma dennoch.
»Die da wären?«, fragte Borvik.
Ihr war klar, dass sie der Lidl-Tüte vermutlich zu viel Gewicht beimaß, erzählte Borvik aber trotzdem davon. Der Polizist hakte interessiert nach und wollte wissen, in welchem Container sie die Tüte gefunden hatte.
»Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass am Osenvatnet Dinge passieren, die irgendwie mit Kroos in Verbindung stehen«, schob Emma hinterher.
Borvik schien nicht zu verstehen, worauf sie anspielte.
»Fred Kasin«, verdeutlichte Emma. »Der 2007 hier ertrunken ist.«
Sie zeigte zum See. In den letzten Minuten war es richtig hell geworden.
Ein Zucken lief durch Borviks Gesicht.
»Da war Walter Kroos aber nicht hier«, sagte er.
»Aber sie haben seinem Vater die Schuld in die Schuhe geschoben, als Fred Samantha Kasin vergewaltigt hat«, sagte Emma. »Und weder zu der Vergewaltigung noch zu Freds Tod durch Ertrinken wurde ermittelt.«
Borvik bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen.
»Da gab es nicht viel zu ermitteln«, sagte er. »Es war ganz offensichtlich ein Unfall, dass der Junge ertrunken ist.«
»Sie fanden es nicht merkwürdig, dass der Junge vor den Augen des Mädchens ertrunken ist, das er vergewaltigt hat?«, fragte Emma.
Borvik schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.
»Fred könnte heute vielleicht noch am Leben sein, wenn der Fall ordentlich behandelt worden wäre.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wenn er für das, was er getan hat, zur Verantwortung gezogen worden wäre. Dann hätte sein Vater ihn nicht drei Jahre nach der Tat zum Steg geschickt, um sich zu entschuldigen.«
»Also, die Familie hat darauf bestanden, dass …«
»Aber Sie wurden hergerufen«, fiel Emma ihm ins Wort. »Sie waren dort und hätten eine Ermittlung einleiten können, oder? Wenn Sie gewollt hätten?«
Borvik senkte den Blick. Als er den Kopf wieder hob, hatte er rote Wangen.
»Ich … muss zurück«, sagte er und zeigte mit dem Daumen hinter sich. Emma hätte ihm gerne mit auf den Weg gegeben, dass er diesmal seinen Job ordentlich machen sollte, ließ es aber bleiben.