Emma wachte mit dem unangenehmen Gefühl auf, zu lange geschlafen zu haben. Sie streckte sich in Richtung Nachtschränkchen und warf einen Blick auf ihr Handy.
»Mist«, fluchte sie.
Sie hatte beinahe drei Stunden tief geschlafen, und Anita Grønvold hatte bereits mehrfach versucht, sie zu erreichen.
Im Laufe des Vormittags hatte Emma sich einfach hinlegen müssen. Sie hatte den Timer des Handys auf eine Stunde gestellt und konnte sich nicht daran erinnern, den Alarm ausgeschaltet zu haben.
Draußen fuhr langsam ein Polizeiwagen vorbei.
Sie verschaffte sich einen raschen Überblick über die Nachrichtenlage. Zum Glück hatte sie nichts Wichtiges verpasst. Der Leichenfund war noch immer die Hauptmeldung.
Das Dagbladet hatte mit ein paar Nachbarn in der Gegend gesprochen, die angegeben hatten, Angst zu haben. Es gab Fotos von Absperrbändern und Polizisten. Sie hatten die Spalten zu füllen versucht, stellte sie fest, ein typisches Vorgehen, wenn es keine relevanten Neuigkeiten gab. Natürlich hatten die Menschen Angst, wenn ein Mörder frei herumlief.
Emma schrieb noch von der Bettkante an Anita und erklärte, was geschehen war und dass sie später anrufen würde. Dann wählte sie die Nummer von Blix’ Gefängnisabteilung.
»Probieren Sie es später noch einmal«, antwortete ein Justizbeamter kurz angebunden.
»Wann?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Können Sie ihm ausrichten, dass er mich anrufen soll?« Sie hörte ein Seufzen am anderen Ende. »Und sagen Sie ihm, dass es dringend ist«, fügte sie hinzu, bevor der Beamte protestieren konnte.
Der Mann legte auf, ohne zu antworten.
Emma war sich nicht sicher, ob er die Nachricht weiterleiten würde, machte sich aber nicht die Mühe, noch einmal anzurufen. Stattdessen zog sie sich an und schlang drei Knäckebrote herunter. Ihr Körper sehnte sich nach einem Kaffee, musste aber ohne auskommen. Zufrieden stellte sie fest, dass sie ohne große Probleme die Schuhe anziehen konnte. Sie hatte befürchtet, dass die nächtliche Belastung alles noch schlimmer gemacht hatte, aber die Schwellung war zurückgegangen, und das Auftreten tat weniger weh.
Auf dem Freigelände des Campingplatzes waren viele Menschen zusammengekommen, zum größten Teil Journalisten. Emma erkannte einige der dort Wartenden, unter ihnen Siri Jespersen, mit der Emma im Laufe der Woche bereits gesprochen hatte.
Emma ging zu ihr.
»Hallo«, sagte Jespersen. Sie hatte sich warm eingepackt, trug einen Fleecepullover unter einer knallorangen Outdoorjacke. Bereit für einen langen Arbeitstag.
»Wie ich höre, haben wir all das dir zu verdanken?«
»O«, sagte Emma. »Wer behauptet das?«
»Borvik hat uns eben kurz in die Situation eingeweiht und wir wollten natürlich wissen, wer die Leiche gefunden hat«, sagte Jespersen lächelnd.
Emma sah keinen Grund zum Protest.
»Hat Borvik etwas gesagt, wann sie die Identität bekanntgeben wollen?«, fragte sie.
Jespersen schüttelte den Kopf.
»Aber alle hier gehen davon aus, dass die Tote Rita Alvberg ist. Die Frage ist nur, wer sie umgebracht hat.«
Emma hatte Lust, Walter Kroos’ Namen zu nennen, ließ es aber bleiben.
In den nächsten Minuten ließ sie sich bereitwillig interviewen und erzählte, was sie gesehen und erlebt hatte. Emma hatte das Gefühl, Siri Jespersen eine Schlagzeile schuldig zu sein, immerhin war sie es gewesen, die ihr vor ein paar Tagen Freds Namen genannt hatte. Außerdem sah sie in Jespersen keine direkte Konkurrenz zu news.no.
»Hast du Karina Kasin noch erreicht?«, fragte Emma, als Jespersen fertig war.
»Samanthas Mutter? Ja, nach ein paar Versuchen.«
Sie verdrehte die Augen.
»Und? Hat sie irgendetwas Vernünftiges über die internen Angelegenheiten der Familie gesagt?«
»Nein, sie hat aber bestätigt, dass Abel Kasin mit der Leitung des Campingplatzes nichts mehr zu tun hat. Schon lange nicht mehr.«
»Sonst nichts? Nichts über Samantha?«
»Nein.«
Sie zögerte etwas.
»Ich habe bloß ein paar Gerüchte über Jarl Inge Ree gehört. Dem Typ, mit dem Samantha wohl so eine jahrelange On-off-Beziehung hatte. Er soll heute aus dem Gefängnis entlassen werden. Ursprünglich wollten er und Samantha wohl noch mal einen Versuch unternehmen, aber … die Mutter meinte, da würde nichts draus werden.«
»Ach wirklich?«
Jespersen nickte.
»Der Zug wäre wohl schon lange abgefahren, wie sie meinte. Was ihr ganz recht war.«
Markus hatte bei ihrem gestrigen Essen etwas ganz anderes gesagt. Wer von den beiden sich in Samanthas Liebesleben besser auskannte, war schwer zu sagen. Trotzdem bedankte sie sich für die interessante Information.
Unter den auf dem Campingplatz versammelten Streifenwagen war auch ein Zivilwagen mit Osloer Kennzeichen. Anfangs machte Emma sich darüber keine Gedanken, doch die Suche nach Alvberg war primär ein lokaler Einsatz gewesen. Dass jetzt Ermittler aus Oslo dazukamen, konnte nur bedeuten, dass sie es mit einer größeren Operation zu tun hatten.
Emma erblickte Lars Martin Lundaas, der den nächtlichen Polizeieinsatz geleitet hatte. Sie ging zu ihm.
»Ist ja viel los hier«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Einsatzfahrzeuge und die zahlreichen Beamten schweifen.
»Ja, der Fall hat oberste Priorität.«
»Auch für die Osloer Polizei?«
Lundaas fischte einen Nicopod unter seiner Lippe hervor.
»Hat das was mit Walter Kroos zu tun?«, versuchte Emma es.
Er kickte mit dem Fuß gegen einen Kiefernzapfen.
»Sie haben ihn auf dem Video identifiziert, das ich aufgenommen habe?«, fragte Emma, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
Lundaas nuschelte etwas, das Emma nicht verstand.
»Was haben Sie gesagt?«
»Kein Kommentar, da müssen Sie Borvik fragen.«
Etwas entfernt sah Emma etwa ein Dutzend Beamte zusammenstehen, die meisten von ihnen bewaffnet, die Blicke entschlossen und ernst.
Ihr kommt zu spät, dachte sie.
Ein Täter, der nachts um halb vier nicht gefasst wurde, war jetzt längst über alle Berge.
»Konnte das Opfer inzwischen identifiziert werden«, fragte sie.
Lundaas schüttelte den Kopf. »Reden Sie mit Borvik«, wiederholte er.
Emma fragte sich, was sie schreiben könnte. Rita Alvberg war tot, ermordet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das publik werden würde. Die anderen Medien hatten bereits über ihr Leben geschrieben, hatten Kollegen und Freunde in Oslo interviewt. Aber soweit Emma wusste, hatte noch niemand mit Ritas Jugendfreunden gesprochen.
Emma sah zum Rezeptionsgebäude des Campingplatzes hinüber. Samanthas Auto war nicht da, aber das war bei der Hektik, die hier gerade herrschte, kein Wunder. Vermutlich war sie zu Hause. Emma wollte ihr gerne für die Hilfe am Vortag danken. Vielleicht konnte sie mit dieser Einleitung auf Rita zu sprechen kommen und vielleicht sogar auf Fred. Und mit ein bisschen Glück, dachte Emma, bekomme ich bei Samantha auch einen Kaffee.
Eine Katze verschwand hinter dem Haus, als Emma sich Samanthas Haustür näherte. Hier war ihr Auto auch nicht, durch das halb geöffnete Fenster drang aber das Klappern von Tellern.
Sie ging die Treppe hoch und klingelte, trat ein paar Schritte zurück. Dann beugte sie sich etwas zur Seite, um durch den Spalt der Küchengardine zu blicken, sah aber nur einen stahlgrauen Kühlschrank, an dem diverse Zettel klebten.
Sie wartete etwas und klingelte dann noch einmal. Das Klingeln war bis draußen zu hören, es kam aber trotzdem niemand.
Emma nahm ihr Handy und wählte Samanthas Nummer.
Es klingelte mehrmals, aber Samantha ging nicht dran. Und aus dem Haus war auch kein Klingeln zu hören.
Emma ging die Stufen hinunter. Ließ ihren Blick über die Fenster schweifen. Auf der Vorderseite des Hauses waren alle Gardinen zugezogen. Emma meinte sich zu erinnern, dass das bei ihrem ersten Besuch nicht so gewesen war.
Sie ging zurück auf die Treppe, legte den Kopf etwas schräg, um besser hören zu können. Es war jemand im Haus. Eine Bodendiele knarrte.
Noch einmal sah sie durch den Spalt der Küchengardine.
Ein Gesicht starrte sie an.