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Es brauchte den Bruchteil einer Sekunde, bis Emma klar wurde, wer ihr da am Fenster gegenüberstand. Zeitgleich verschwand das Gesicht aus dem Gardinenspalt.

Als sie drinnen die schweren Schritte hörte, sprang sie in einem Satz die Treppe hinunter auf die Schotterfläche. Ein greller Schmerz schoss bei der unsanften Landung durch ihren Knöchel.

Hinter ihr flog die Tür auf.

Emma humpelte los, doch schon im nächsten Moment stürzte Walter sich auf sie und riss sie zu Boden.

Emma schlug erst mit den Knien, dann mit dem Oberkörper auf dem Schotter auf. Das Telefon rutschte ihr aus der Hand, und auch die rechte Gesichtshälfte landete auf den harten, scharfkantigen Steinchen. Walter lag auf ihr.

Das Adrenalin verdrängte den Schmerz.

Emma versuchte, sich zu wehren. Sie stieß einen Schrei aus, der tief aus ihrer Brust aufstieg, erkannte ihre eigene Stimme aber nicht wieder.

Während sie brüllte, zog Walter sie vom Boden hoch. Sie wand sich, um freizukommen, er war aber zu stark, presste sich von hinten an sie und legte eine Hand über ihren Mund. Seine langen Arme machten es Emma unmöglich, ihre eigenen Arme zu bewegen. Sie wollte ihn beißen, aber ihre Kiefer bewegten sich keinen Millimeter. Schritt für Schritt schleppte er sie rückwärts zum Haus. Emma strampelte mit den Beinen und trat mit den Fersen nach hinten aus, aber auch davon ließ er sich nicht aufhalten.

Walter ging rückwärts die Stufen hoch in den Flur. Erst in der Küche machte er Halt. Dort zwang er sie bäuchlings auf den Boden und drückte ihr ein Knie zwischen die Schulterblätter. Er beugte sich über Emma und presste ihren Kopf auf den Boden. Mit kalter, ruhiger Stimme sprach er sie auf Englisch an.

»Wenn du schreist, bring ich dich um.«

Mit einem Mal meldeten sich die Schmerzen. Ihre Knie brannten und pochten, und sie merkte, dass sie blutete. Walter hielt sie noch eine Weile auf dem Boden fest, ehe er sich hochstemmte, das Knie von Emmas Rücken nahm und stattdessen seinen Fuß dort platzierte, während er in einer der Schubladen herumwühlte. Er schien zu finden, was er suchte, und zog Emmas Hände hinter den Rücken. Im nächsten Augenblick fühlte sie Klebeband auf ihrer Haut. Er band ihre Hände so fest zusammen, dass sie sie nicht mehr bewegen konnte.

Danach zog er sie wieder auf die Füße und legte seine Hand fest um ihren Nacken.

Zum ersten Mal sah Emma Walters Augen. Blau, kalt. Aber frei von Aggression oder Wut. Er schob sie vor sich aus der Küche ins Wohnzimmer. Platzierte sie auf dem Sofa, das Gesicht in die Kissen gedrückt. Er zog ihr die Schuhe aus. Sie schrie auf, als die unachtsamen Hände ihren verstauchten Knöchel berührten. Walter drückte ihren Kopf fester ins Kissen und befahl ihr, still zu sein.

Sie hörte neuerlich das Ratschen von Klebeband, dann presste er ihre Beine zusammen und fesselte sie an den Fußgelenken.

Plötzlich war sein Gesicht ganz nah an Emmas Ohr. Sein Atem roch streng.

»Wenn du Alarm schlägst oder schreist«, flüsterte er, »klebe ich dir auch den Mund zu.«

Sie bekam kaum genug Sauerstoff in die Lunge. In ihrer Brust breitete sich die Angst aus. Ihr Herz hämmerte. Emmas Wangen glühten. Sie fürchtete, einen Krampf auf der Oberschenkelrückseite zu kriegen.

Walter verließ den Raum, kam aber nur Sekunden später mit Emmas Handy zurück. Mit ein paar schnellen Handgriffen hatte er die SIM-Karte herausgefummelt und durchgebrochen. Die Teile versenkte er in einem mit Wasser gefüllten Glas auf dem Sofatisch. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Kampf auch ihn ausgelaugt hatte. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, stand lange da, als ob er einen Plan machte, wie es weitergehen sollte.

Emma versuchte, das ganze Durcheinander zu sortieren. Wieso war Walter hier bei Samantha? Sie hatte die stille Hoffnung, dass irgendjemand ihren Kampf vor dem Haus beobachtet oder ihren Schrei gehört hatte. Immerhin wimmelte es in Osen gerade von Polizei.

Emma versuchte, sich so weit zu drehen, dass sie Walter Kroos sehen konnte, auch wenn die Liegeposition alles andere als komfortabel war.

Er hatte lichteres Haar als auf den alten Fotos, die sie von ihm gesehen hatte, wirkte aber noch immer jungenhaft, was ihn nur noch unheimlicher machte. Unberechenbar.

Sie ließ ihren Blick weiter durch den Raum gleiten und sah den Wäscheständer, auf dem ein Paar auf links gekrempelte Wollsocken, eine Hose, ein T-Shirt und ein schwarzer Kapuzenpulli zum Trocknen hingen.

Emma schluckte.

Dann hatte sie heute Nacht tatsächlich Walter gesehen.

Einen Mann, der zwei Menschen umgebracht hatte.

Sie korrigierte sich.

Mit Rita Alvberg waren es drei.