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Das schmiedeeiserne Tor fiel geräuschlos zu. Blix drehte sich um und warf noch einen letzten Blick auf den Friedhof. Wann er wohl das nächste Mal hierherkommen konnte? Ob es dann einfacher wäre?

Sie setzten sich ins Auto.

Die Feuchtigkeit legte sich wie ein Nebel auf die Innenseite der Frontscheibe. Merete startete den Motor und schaltete die Lüftung ein.

Blix lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Lauschte dem Rauschen der Klimaanlage. Der Dunst war innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Er wischte sich mit den Fingern über die Augen und starrte vor sich.

Merete fuhr los.

Blix wusste, dass die destruktiven Gedanken nichts brachten, und versuchte, sie auf die gleiche Weise zu vertreiben wie abends in seiner Zelle, wenn er im Bett lag. Sie auf etwas anderes zu lenken.

In den letzten Tagen hatte Jarl Inge viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Blix saß noch einen Moment in Gedanken versunken da, ehe er sich zu Merete drehte.

»Darf ich mal dein Handy benutzen?«, fragte er.

Merete zeigte auf das Gerät in der Mittelkonsole.

»Wen willst du anrufen?«

»Gard Fosse«, antwortete Blix. »Ich muss ihm nur eine kurze Nachricht hinterlassen.«

Merete sagte nichts, kräuselte nur die Lippen. Er schaute nach unten, hätte ein wenig warten sollen, ehe er von etwas anderem sprach. Abstand zwischen sie und den Friedhof bringen.

»Ich denke, du hast recht, wenn du sagst, dass Jarl Inge sich vor dem fürchtet, was ihn nach der Entlassung erwartet«, sagte er, um sich zu erklären.

Er nahm das Handy und fragte sie nach dem Code.

»Könnte sein, dass seine Nummer noch gespeichert ist«, sagte sie. »Aus alten Zeiten.«

In ihrer Stimme schwang etwas Verbissenes mit, wie er es aus der Zeit kannte, als sie noch verheiratet waren. Ein Unterton, der sagte, dass sie gar nicht gut fand, was er machte.

Blix fand die Nummer. Fosse antwortete kurz angebunden.

»Ich bin’s«, sagte Blix und erklärte, von wo er telefonierte. »Ich glaube nicht, dass Walter Kroos aus dem Gefängnis getürmt ist, weil er irgendwas mit Jarl Inge Ree zusammen geplant hat. Ich glaube, Kroos wollte nur in Norwegen sein, wenn Jarl Inge entlassen wird.«

Fosse konnte dem Gedankengang nicht ganz folgen.

»Ich glaube, dass es hier irgendwie um Rache geht«, fuhr Blix fort. »Ree hat Angst vor Walter Kroos – er fürchtet, dass er nach Rita Alvberg der Nächste ist, der sterben soll.«

Fosse wirkte nicht überzeugt.

»Das wäre natürlich eine Möglichkeit«, sagte er.

»Wo ist Ree jetzt?«, fragte Blix.

Die Antwort ließ etwas auf sich warten.

»Das wissen wir nicht.«

»Ihr habt ihn verloren?«, fragte Blix.

»Wir mussten neue Prioritäten setzen«, antwortete Fosse. »Der Leichenfund der letzten Nacht und die Videoaufnahme von Walter Kroos hat die Sachlage ein wenig verändert.«

Blix legte den Kopf in den Nacken und starrte an den Autohimmel.

»Er wird also nicht observiert?«, fragte er.

Er bekam keine Antwort.

»Samantha Kasin hat ihn heute aus dem Gefängnis abgeholt«, sagte Blix. »Sie sind auf dem Weg nach Osen. Möglicherweise schweben sie beide in Gefahr.«

»Möglich«, entgegnete Fosse. »Aber das Polizeiaufgebot in Osen war nie größer als im Moment. Wenn Walter Kroos nicht längst über alle Berge ist und heute irgendetwas vorhat, ist er wirklich dümmer, als er aussieht.«

Blix war klar, dass er hier nicht weiterkommen würde, und beendete das Gespräch.

Vor ihnen lag die Kreuzung Majorstuen, Merete wohnte ganz in der Nähe.

»Ich müsste auch noch Emma anrufen«, sagte Blix.

Merete sagte nichts. Auch Emmas Nummer war in der Kontaktliste gespeichert. Blix wurde direkt an die Mailbox weitergeleitet. Er starrte auf das Handy und überlegte, ob er es bei Arvid Borvik versuchen sollte.

»Ich hab ein indisches Curry mit Huhn gemacht«, sagte Merete. »Wie Iselin es so gerne mochte.«

Blix murmelte eine Antwort.

»Und dann hab ich gestern noch einen Mandelkuchen gebacken. Mit Buttercreme.«

Blix schrieb eine Textnachricht an Emma, um ihr mitzuteilen, dass er sie anzurufen versucht hatte.

Es gefiel ihm gar nicht, dass er sie nicht erreichte. Aber deswegen gleich davon auszugehen, dass etwas passiert war, war wohl übertrieben. Fosse hatte recht, im Dorf wimmelte es nur so von Polizisten. Aber auch das half nicht gegen das ungute, nagende Ziehen im Bauch. Und an dem hatte er sich all seine Jahre als Polizist orientiert.

Er nahm den Blick nicht vom Display, solange sie fuhren. Er hoffte, dass Emma sich meldete. Dann öffnete er die Seite von news.no. Die letzten Aktualisierungen von den Beiträgen unter Emmas Byline waren schon eine Weile her. Ein kurzer Blick auf die Netzausgaben der Konkurrenz zeigte, dass sie sehr viel näher am Geschehen waren als sie.

Das war ungewöhnlich.

Seit sie in Osen war, hatte Emma die Nachrichtenlage bestimmt.

Sie hatte versucht, den Umständen um den Tod von Fred Kasin auf den Grund zu gehen, und sie würde erst Ruhe geben, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

Warum rief sie nicht zurück?

Blix rechnete im Kopf nach. Es waren zwischen hundertfünfzig und zweihundert Kilometer bis nach Osen, mit dem Auto etwa zwei Stunden. Er könnte es vor Ablauf des Freigangs nach Osen und zurück schaffen.

Merete fuhr in die Tiefgarage.

Blix drehte sich zu ihr.

»Es tut mir wirklich leid, aber … könnte ich mir dein Auto leihen?«

Merete parkte den Wagen auf einem markierten Parkplatz. Ihre Lippen bildeten einen dünnen Strich.

»Du willst … das Auto leihen … jetzt?«

»Ich muss was überprüfen«, sagte er. »Das könnte ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.«

»Wie lange?«

Blix wollte nicht sagen, was er vorhatte.

»Es könnte von entscheidender Wichtigkeit sein«, sagte er.

Merete seufzte und schluckte herunter, was sie eigentlich sagen wollte. Sie schüttelte resigniert den Kopf und schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad, ehe sie die Tür aufstieß. In einer ruckartigen Bewegung schnappte sie sich die Tasche von der Rückbank und stieg aus.

Das Auto lief im Leerlauf. Der Schlüssel steckte. Sie beugte sich über den Fahrersitz und riss ihm das Telefon aus der Hand.

»Ich hätte wissen müssen, dass du dich nicht änderst«, sagte sie mit bebender Stimme. »Und das ausgerechnet heute.«

»Merete …«

»Fahr zur Hölle, Alexander.«