EPILOG

Obwohl es noch eine Stunde bis zur angekündigten Urteilsverkündung war, hatten sich bereits viele Leute vor dem Eingang des Gerichts versammelt. Emma wurde sofort von Journalisten umringt, als sie kam.

»Wie hoch sind Blix’ Chancen für einen Freispruch?«

»Glauben Sie, dass die Festnahme von Walter Kroos und seiner norwegischen Geliebten die Richter milde stimmt?«

»Wenn Blix freigesprochen wird – glauben Sie, dass er eine Zukunft bei der Polizei hat?«

Emma blieb kurz stehen und sagte:

»Ich glaube, dass ich bis zur Urteilsverkündung warte, bis ich mich dazu äußere.«

Anwalt Einar Harnes wartete im Gerichtsgebäude. Er drückte sanft ihre Hand und führte sie in den Warteraum. Blix stand auf und lächelte, als er sie sah.

Sie begrüßten sich mit einer Umarmung, die etwas länger als üblich dauerte.

Er roch gut.

Er sah auch gut aus, dachte Emma. Frisch rasiert und frisiert, und der neue Anzug saß besser und ließ ihn jünger aussehen.

Sie setzten sich.

»Ich komme gleich wieder«, sagte Harnes. »Nicht weglaufen.«

Kaum hatte der Anwalt den Raum verlassen, senkte sich eine bedrückende Stille über sie.

Blix nahm die Wasserkaraffe, die auf dem Tisch stand, und goss ihr einen Plastikbecher voll. Er drehte seinen eigenen leeren Becher in der Hand.

»Wie geht es dir?«, fragte sie.

»Gut«, antwortete Blix sofort. »So gut, wie es mir gehen kann, denke ich. Im Grunde weiß ich es nicht.«

»Du bist nervös.«

»Es wäre gelogen, wenn ich es leugnen würde.«

»Vielleicht bist du heute Nachmittag ein freier Mann.«

»Ja …«

Im umgekehrten Fall würde er zurück nach Ullersmo gefahren und in seine Zelle gebracht werden. Weitere Tage hinter Schloss und Riegel. Weitere Jahre zusammen mit Grubber, dem Holländer, Jakobsen und Nyberget. Der Gedanke war derart schmerzhaft, dass Emma ihn nicht zulassen wollte. Wie es Blix damit ging, konnte sie nur erahnen.

»Ich habe einen Brief von Jarl Inge Ree bekommen«, sagte Blix.

Emma verstand, dass er über etwas anderes reden wollte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass er ein Briefeschreiber ist«, sagte sie.

»Es waren nur wenige Zeilen«, erklärte Blix. »Ich denke, er wollte sich nur bedanken. Hat mir geschrieben, dass ich dafür sorgen soll, eine Flasche Cognac zu ihm reinzuschmuggeln.«

Emma lächelte.

»Was wirst du machen, wenn es gut geht?«, fragte sie und trank einen Schluck Wasser.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Den Gedanken habe ich eigentlich noch gar nicht zugelassen.«

»Gar keine Pläne?«

»Nein.«

Sie saßen einen Moment schweigend da.

»Und du?«, fragte er. »Bist du jetzt wieder richtig zurück im Job?«

Emma knetete ihre Finger.

»Ich … habe gerade meinen letzten Artikel geschrieben.«

Blix hob den Blick und sah sie an.

»Du hast bei news.no aufgehört?«

»Ich habe als Journalistin aufgehört.«

»Wa…«

Blix hielt inne.

»Ich kann nicht so weitermachen«, sagte Emma. »Das waren mir jetzt ein paar lebensbedrohliche Situationen zu viel. Wenn ich Haare hätte, wären sie inzwischen sicher alle grau.«

Sie zupfte an ihrer Perücke herum, Blix lächelte, wurde aber schnell wieder ernst.

»Bist du dir sicher?«

»Nein«, sagte Emma und lächelte. »Aber ich würde gerne noch ein bisschen älter werden. Ich möchte Yoga machen und Brot backen und … eine Butterfahrt nach Schweden machen.«

»Wie wäre es mit Mann, Haus und Kindern, wie alle anderen?«

Emma zögerte.

»Ich befürchte, ich werde nie wie alle anderen sein.«

Blix lehnte sich zurück.

»Was willst du stattdessen machen?«

Sie breitete die Arme aus.

»Vielleicht Busfahrerin werden.«

»Busfahrerin?«

Emma lachte über sein überraschtes Gesicht.

»Ich meinte das nicht wörtlich. Aber … auf jeden Fall etwas ganz anderes. Ich habe ein paar Anfragen bekommen, Bücher zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob ich dazu wirklich Lust habe.«

Blix schlug ein Bein über das andere.

»Was sagt Anita Grønvold dazu?«

»Zuerst hat sie gemeint, ich mache Witze«, sagte Emma und lachte wieder. »Anschließend war sie völlig überrumpelt. Und ich glaube, es tut ihr auch ein bisschen leid.«

»Das ist ja wohl nicht verwunderlich.«

»Ich kann jederzeit zurückkommen, hat sie gesagt, aber … ich weiß, dass das nicht passieren wird.«

Blix starrte einen Moment lang auf seine Finger. Mit einem Mal war die Stimmung wieder beklemmend.

»Wie fühlt sich das an?«, fragte er und räusperte sich. »Jetzt, nachdem die Entscheidung gefällt ist?«

»Ziemlich gut, eigentlich. Ich war augenblicklich total erleichtert.«

»Dann war es die richtige Entscheidung.«

»Ja. Und irgendwie fühlt es sich auch gut an, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringt.«

»Im Augenblick kann ich dir da wirklich nicht zustimmen, Emma.«

»Nein, ach … Verstehe, sorry.«

Sie blieben eine Weile schweigend sitzen.

»Tja, da stehen wir nun«, sagte Blix. »Und keiner von uns hatte auch nur die Spur einer Ahnung, wie es weitergeht.«

Emma lächelte.

»Es ist doch schon mal was, dass man das weiß.«

»Sokrates wäre stolz auf uns.«

Sie grinste.

An der Wand bewegte eine Digitaluhr sich eine Ziffer weiter. Dann noch eine.

»Worüber hast du als Letztes geschrieben?«, fragte Blix.

»Über Arvid Borvik«, sagte Emma. »Über die Beurteilung und seine Suspendierung.«

»Ich habe in der letzten Zeit keine Zeitungen gelesen. Wie hat er es aufgenommen?«

»Er ist noch immer der Überzeugung, nichts falsch gemacht zu haben.«

»Nichts zu tun kann auch falsch sein«, kommentierte Blix. »Wenn er getan hätte, was er hätte tun müssen, als Samantha Kasin vergewaltigt wurde, könnten zwei Menschen jetzt noch am Leben sein.«

Durch das Fenster war der graue Himmel zu sehen. Es sah nach Regen aus. Draußen pulsierte der Verkehr.

»Ist Walter Kroos zurück in Deutschland?«

Emma schüttelte den Kopf.

»Er sitzt noch immer in Untersuchungshaft, allem Anschein nach ist er aber vorbehaltlos kooperativ. Samantha ist derzeit unter psychiatrischer Beobachtung. Die Spätfolgen des Sommers 2004 sind scheinbar größer als angenommen. Sie hat eine reelle Chance, gar nicht erst vor Gericht gestellt zu werden.«

Vom Flur drangen Stimmen und Schritte zu ihnen herein. Eine Frau rief nach einem Mann namens Svein.

Eine Weile verging, ohne dass etwas gesagt wurde.

»Hat Merete dir verziehen?«

Blix schlug den Blick nieder.

»Für das mit dem Auto, ja … für alles andere …«

Er redete nicht weiter.

»Ich hoffe, dass sie heute kommt«, sagte er schließlich. »Ich weiß es aber nicht.«

Wieder wurde es still.

»Hoffst du noch immer, dass ihr wieder zueinander findet?«

Blix hob schnell den Blick.

»Nein.«

Er lachte.

»Bist du sicher?«

Blix zögerte. Sie hatten nie ausführlicher über Merete gesprochen, sich immer auf Tatsachen und Oberflächliches beschränkt. Es lag nicht in seiner Natur, offen über etwas zu sprechen, das ihm so naheging, so schwerfiel.

»Ich habe sie ein paarmal zu oft enttäuscht«, sagte er schließlich und zerdrückte seinen Plastikbecher.

Kurz vor zehn klopfte es an der Tür. Einar Harnes kam zurück.

»Der … Richter wäre dann so weit«, sagte er.

Blix holte tief Luft. Brauchte einen Extra-Augenblick, um den Stuhl nach hinten zu schieben. Er ließ die Lehne auch nicht los, nachdem er ihn zurück an den Tisch gestellt hatte. Sein Blick heftete sich auf etwas Unbestimmbares vor ihm.

»Okay«, sagte er schließlich. »Bringen wir es hinter uns.«