Ich holte den Blu-Ray-Player in Tegel ab. Es dauerte eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn bis zur Holzhauser Straße. Ich trug meine Noise-Cancelling-Kopfhörer und schaute auf meine Spiegelung im Fenster. Hin und wieder lösten sich die Umrisse meines Gesichts auf und wurden von anderen Motiven überlagert, gekachelte U-Bahn-Höfe, Signaltafeln, Menschen in Sportjacken mit Tragetaschen und Koffern, Leute, die den Asphalt verkauften und Kaffeebecher oder Gehstöcke hielten. Es roch nach Schweiß, Paco Rabanne, Haarspray, Nudelboxen, Desinfektionsmitteln, Mandarinen. Ich versuchte durch den Mund zu atmen, trotz FFP2-Maske waren die Gerüche kaum auszuhalten. Ich hörte die ersten drei Songs von Charli XCXs POP2, dann einen kurzen Podcast über Gräueltaten in Butscha, dann eine zehnminütige Heil-Meditation, die mein Wurzelchakra stärken sollte. Ich hatte alle Songs und Podcasts mit einem YT2mp4-Converter runtergeladen und auf meinen iPod gezogen.
In Tegel zog ich meine Kopfhörer nicht aus. Ich passte beim Straßeüberqueren auf wie eine gut dressierte Erstklässlerin, um nicht aus Versehen überfahren zu werden, weil ich noise cancelte. Ich bog in eine Seitenstraße ein, dann noch mal nach links, laut Google Maps sollte ich jetzt vor dem richtigen Haus stehen, wo ich das Gerät abholen wollte, aber auf den Klingelschildern war der Name Karrschmidt nirgends zu finden. Ich rief die Nummer an, die mir auf eBay angezeigt wurde, meine eigene unterdrückte ich. »Karrschmidt«, sagte der Typ, der sich auf eBay karrker2 nannte, »wie Karr und Schmidt.« Es dauerte einen Moment, bis er verstanden hatte, dass es nicht um den Namen ging, sondern ich das Haus nicht fand. Schließlich lotste er mich in einen Hinterhof. Wir machten die Übergabe mit Masken im Hausflur, zwischen dem zweiten und dritten Stock. karrker2 trug eine schwarze Maske und hatte Crocs an. Ich drückte ihm, wie vereinbart, zehn Euro in die Hand. Eine silberne Stereoanlage samt integriertem CD-Player erstand ich eine Woche später für zehn Euro am Bergmannkiez.
Bevor ich mich von allen On-Demand-Unterhaltungsdiensten abmeldete, kaufte ich mir auf Flohmärkten und in Antiquariaten eine kleine DVD-Sammlung zusammen. Es war lächerlich, wie wenig DVDs mittlerweile kosteten: Ich bekam die gesammelten Friends-Staffeln für 4,38 Euro. Ich kaufte vor allem Studio Ghibli-Filme, Filme mit Tilda Swinton, Winona Ryder und Hugh Grant. Nach ein paar Flohmarktbesuchen merkte ich bereits, welche DVDs für das deutsche Publikum häufig produziert worden waren und welche vermutlich aufgrund von schlecht ausfallenden Marktprognosen und niedrigen Produktionsmengen unauffindbar waren. So lag Wong Kar-Wais My Blueberry Nights an beinahe jedem Stand aus und mit etwas Glück kam ich an die Arthouse Auflage von In the Mood for Love, aber jeder andere seiner Filme war unauffindbar. Genauso war Das wandelnde Schloss allgegenwärtig, aber von Porco Rosso gab es keine Spur. Auf eine seltsame Weise entlastete mich das. Es fühlte sich gut an, den eigentlich streng individualisierten, sorgsam kuratierten eigenen Geschmack an die bloße Erhältlichkeit eines bestimmten Mediums zu koppeln — die Verantwortung abzugeben. Ich kaufte alle Filme, von denen ich wusste, dass ich sie immer wieder schauen konnte, vor allem in der Weihnachtszeit: Love Actually, Bridget Jones 1—3, Die Chroniken von Narnia. Ich nahm mir vor, jeden Tag nicht mehr als einen Film oder drei Episoden einer Serie zu schauen.
Am 28. März meldete ich mich von allen Streamingdiensten, die ich noch hatte, ab. Ich versuchte es kurz und schmerzlos zu machen, als würde ich von einer zehn Meter hohen Klippe in ein kaltes, unbekanntes Gewässer springen müssen. Ohne weiter nachzudenken, löschte ich hintereinander meine Accounts bei Amazon Prime, Mubi und Netflix. Mein Urban-Sports-Club-Abo konnte ich nicht weiterführen, weil man dafür ein Smartphone brauchte. Der Entzug war kalt: Ich aß jetzt nicht mehr im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sondern in Fleecepullover, Schal und gelegentlich sogar mit Mütze an dem kleinen, wackeligen Küchentisch, den ich die letzten Jahre als Ablage für Briefe, Pakete, Müll, Zeitschriften, Bücher, To-do-Listen und Waschpulver benutzt hatte. Im Winter schaffte es die schmale Heizung nicht, den Raum über siebzehn Grad zu heizen. Es wurde besser, wenn ich etwas auf dem Herd köcheln ließ, aber mit meinem Gasherd zu heizen konnte dauerhaft nicht die Lösung sein. Ich saß also eingemummelt vor meinem dampfenden Porridge, während ich das erste Album von Nelly Furtado auf meiner Stereoanlage hörte. Der Sound war furchtbar. Ich hatte das Gefühl, in mein lila gestrichenes Kinderzimmer zurückkatapultiert zu werden, wo ich mit meinem Bruder Bravo-Hits auf einem schrammeligen CD-Player gehört hatte. Genauer betrachtet, hatte ich auch wieder die gleiche Frisur wie damals, ich hatte meinen Pony rauswachsen lassen und trug einen Mittelscheitel, außerdem die gleichen desolaten Blocksträhnen, die in meinen braunen Haaren wirkten wie frühzeitig ergraut.
Die größte Umstellung in meinem »Dumbing« — so nannten Leute aus der NoSmart-NoSurf-Bewegung die Rückkehr zu »dummen« Geräten — war der Umstieg von meinem iPhone auf ein nicht smartes Telefon. Erst versuchte ich, mein altes Sony Ericsson W580i zu reaktivieren, aber die Audioqualität des ersten Telefongesprächs war so verzerrt — laut Senta klang ich, als würde ich durch eine Kartoffel sprechen —, dass ich mir ein aktuelles Dumbphone anschaffen musste, so anachronistisch sich das auch anfühlte. Ich kaufte mir bei Conrad in Steglitz das Beafon AL560 in metallischem Rot. Es konnte weder auf Google Maps zugreifen noch E-Mails abrufen. Dafür Anrufe tätigen, SMS schreiben und theoretisch MMS verschicken, ich wusste aber nicht, ob dieser Service überhaupt noch existierte. Wenn mich Leute fragten, was die einschneidendste Veränderung war, sagte ich, ohne Google Maps klarzukommen. Ich kaufte mir eine Stadtkarte, verschiedene Viertelkarten und eine Touristenkarte von Steglitz, weil ich mich ohne eine permanent verfügbare Karte kaum orientieren konnte und andauernd verlief. Ich wusste nicht, wie ich über das Wohngebiet zu Vinh-Loi kam, verpasste S-Bahnen, lief von U-Bahn-Stationen regelmäßig in die falsche Richtung.
Als Senta ihren 29. Geburtstag feierte, hatte ich seit genau zwei Wochen mein Dumbphone. Es war Mitte April. Ich trug ein gestreiftes T-Shirt, eine FFP2-Maske und stieg in die U9. Meine Noise-Cancelling-Kopfhörer hatten keinen Akku mehr. Ich ließ sie trotzdem auf und stellte mich an die Tür hinter einen Vierersitz, auf dem ein Mann mit dem Rücken zu mir saß und sein iPhone checkte. Er hatte verschiedene Tattoos an Waden und Oberschenkeln und Instagram-Storys von Reptilienbesitzern geöffnet. Er klickte sich durch eine Story, die mit »if you ordered a snake and you don’t really know how it looks like until you unpack« gelabelt war. Darin filmte jemand hauptsächlich seine nackten, weißen Füße, die über Fliesen liefen und vor einem Paket stehenblieben.
In dem Moment vibrierte das Beafon. Ich spürte am Rhythmus der Vibration, dass es eine SMS war. Senta fragte, ob ich noch zwei Flaschen Sekt mitbringen konnte. Ich tippte eine Antwort. Es fühlte sich ungelenk an, jede Taste mehrfach fest in das Telefon zu drücken. ist in der nähe ein rew? Senta antwortete nicht.
Als ich an der U-Bahn-Station ausstieg und keine Ahnung hatte, wo ich den Sekt herkriegen sollte, fühlte ich mich verloren. Ich hielt einen Teenager an und fragte ihn, ob es hier irgendwo einen Supermarkt gab. Er googelte und lotste mich dann wieder zurück nach Süden.
Die Kegelbahn, die Senta für ihren Geburtstag gemietet hatte, fand ich fünfundvierzig Minuten später. Sie saß inmitten einer Traube von Leuten, die alle weiße Socken mit Sportsandalen anhatten. Senta selbst trug ihre Kunstlederjacke und eine ovale Sonnenbrille. Ich hatte gehofft, dass keine Leute vom Silvester-Event da sein würden, in unseren Gesprächen kamen weder Matthew noch Nena und Lisa je vor. Dass jetzt alle drei auf der Eckbank saßen und sich ausgelassen mit ihr unterhielten, als wären sie seit Jahren wirklich eng befreundet, überraschte mich irgendwie. Ein diffuses Schamgefühl breitete sich in mir aus. Was dachten sie über mich, nachdem ich, ohne jemals auf Nachrichten reagiert zu haben, aus der Signal-Gruppe ausgestiegen war? Ich hatte ja nicht mal auf die Einladung zu dem Event an Chinese New Year reagiert, dort gewesen war ich auch nicht. Wie oft hatten sie seitdem über mich gesprochen?
Bevor ich den anderen Hallo sagte, gratulierte ich Senta, dabei umarmte ich sie fest. Sie roch nach Zigaretten und der typischen Moschus-Note ihres Parfums. »Nur noch ein Jahr in den Zwanzigern«, sagte ich. »Sag das nicht, sag das nicht«, meinte sie und tat so, als hätte ich sie mit einer Pistole in die Seite geschossen, um mich dann mit einem feuchten Kuss zu überfallen. Keine Ahnung, was alle so schlimm daran fanden, dreißig zu werden. Für mich hatte es nichts als Erleichterung gebracht. Dreißig zu werden bedeutete, sich endlich selbst zu sehen, auch wenn man entdeckte, dass man eine Frau mit geröteter Nase, Augenringen und einer Vorliebe für Terry Pratchett war. Ich sagte das ironiefrei.
Senta ließ mich am Tisch zurück, um jemanden mit einem Blumenstrauß zu empfangen. Es wäre seltsam gewesen, die anderen nicht zu begrüßen, ich hob die Hand und nickte vage in die Runde. Matthew, Lisa und Nena schauten mich an und lächelten. Ich wusste nicht, ob damit gemeint war, dass ich mich zu ihnen setzen sollte. Dass Matthew fragte, wie es mir ging, war wahrscheinlich als Begrüßungsfloskel gemeint, er kam aus Neuseeland. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass Lisa mich nicht ehrlich anlächelte, sondern irgendwie abfällig. Ich fragte Matthew, wie es mit seiner Schernikau-Übersetzung lief. Er sagte, ganz gut, setzte dann aber das Gespräch mit Nena fort. Ich blieb weiter unbeholfen an der Tischkante stehen, weil ich damit rechnete, dass mich Lisa etwas zu meinem Drop-out fragen würde, wappnete mich innerlich gegen einen gehässigen Ton, aber sie sagte nichts. Ich räusperte mich irgendwann und ging dann zur Garderobe im Eingangsbereich, um meine Jeansjacke aufzuhängen.
Wir kegelten in zwei Gruppen. Ich wurde in die Gruppe cool eingeteilt. Senta in die Gruppe sexy. Ich war erleichtert, dass Lisa und Matthew nicht mitspielten. Mit Nena tauschte ich zwischen zwei Runden ein paar oberflächliche Sätze aus, sie fragte mich, ob ich noch an der Universität lehrte, und erzählte, dass sie jetzt ihre Postdoc-Stelle angefangen hatte. Ich sagte, dass mein Vertrag vor einem Monat ausgelaufen war. Ich hatte mittlerweile mein erstes Arbeitslosengeld erhalten. Nena würde nächstes Semester einen Staff Exchange nach Kopenhagen machen. Unser Gespräch löste sich auf, als sie mit Kegeln dran war.
Gruppe cool verlor. Gruppe sexy machte ein Gruppenselfie mit Sektflasche auf der Kegelbahn. Kurz darauf wurden Sommerrollen geliefert. Senta löste sich aus der Gruppe, stolperte zu ihrer Tasche und drückte dem Lieferservice fünf Euro Trinkgeld in die Hand. Ich bewunderte, dass sie immer wusste, was zu tun war, und dabei so wirkte, als wäre es das Beiläufigste der Welt.
Nach dem Spiel setzte ich mich an den Rand der Kegelbahn und trank alkoholfreies Bier. Dabei kam ich mit einer bildenden Künstlerin, die die gleiche Frisur hatte wie ich, in ein Gespräch über den Ausstieg aus Online-Dating-Plattformen. Sie hieß Talia und war in einer radikal ökologischen Familie aufgewachsen, ihre Eltern wohnten in einer Hütte im Wald in der Nähe von Eisenach. Das erfuhr ich, weil ich aus Versehen in einem Nebensatz erwähnte, dass ein Teil meiner Familie Impfgegner geworden war. »Meine Eltern sind seit fünfzig Jahren Impfgegner«, meinte sie. Bis vor der Corona-Impfung war sie kein einziges Mal in ihrem Leben geimpft worden. »Und wie hast du die Impfung vertragen?«, fragte ich sie. »Ich hab Gürtelrose bekommen.« Sie zog ihr Shirt hoch und zeigte mir die roten Flecken auf ihren Rippen. »Ich bin selbst überhaupt keine Impfgegnerin, aber das war schon echt abgefuckt.« Von dort aus kamen wir von Fake News über Telegram-Kanäle zu Social-Media-Konsum. Talia meinte, dass sie iPhones anders betrachtete, seit sie den TED-Talk mit Tristan Harris gesehen hatte. Er hatte als Informatiker für Google gearbeitet und irgendwann versucht, den Konzern auf seine ethische Verantwortung hinzuweisen, weil es nicht das Ziel sein konnte, Leute von technischen Geräten und Apps abhängig zu machen, indem man diese auf eine spezifische Weise designte, durch die ähnliche Verhaltensmuster wie bei Spielautomaten aktiviert wurden. Weil das bei Google niemanden interessiert hatte, kündigte er und gründete eine NGO. »Er meinte, dass iPhones die neuen Zigaretten sind. Nur, dass noch nicht darüber geredet wird, wie schädlich sie eigentlich sind.« Den Vergleich fand ich einleuchtend. »Ich hab vor zwei Wochen mein iPhone abgeschafft«, sagte ich. »Was heißt das?«, fragte Talia. Als ich mein Dumbphone rausholte, setzte sich Antonia zu uns, eine Freundin von Talia, die kurz geschorene Haare hatte und große Ohrringe trug. Die beiden begutachteten das Telefon, als sei es ein Artefakt und kein Gebrauchsgegenstand. Talia wollte ihr iPhone auch gerne loswerden, aber das war wegen ihrer Kunstkarriere schwierig. »Ich hab außerdem gerade einen Off-Space eröffnet, ohne Instagram kommst du da nicht weit.« Sie erkundigte sich, was ich beruflich machte — »gerade aus der Wissenschaft ausgestiegen« —, dann wollte sie mehr über meine Drop-out-Regeln wissen.
Ich las jeden Tag hundert Seiten. Alles, was Seitenzahlen hatte, zählte.
Ich durfte jeden Tag einen Film oder drei Folgen einer Serie auf DVD schauen. Mehr nicht.
Ich machte täglich dreißig Minuten Sport. Das konnte alles von HIIT bis Yoga sein.
Erreichbar war ich über SMS, Telefon, bevorzugt aber über E-Mail. Meine E-Mails checkte ich nur alle drei Tage, hauptsächlich um zu schauen, ob ich eine Nachricht vom Jobcenter bekommen hatte. Dass ich Signal weiterhin als Desktop-App nutzte, verschwieg ich. Ich verschwieg auch, dass mein iPhone ohne Sim-Karte in der obersten Schreibtischschublade weiterlebte und manchmal von mir angeschaltet wurde, weil ich es für die Zwei-Faktor-Authentifizierungen brauchte.
Dann sagte ich noch, dass ich versuchte, einen möglichst geringen CO2-Abdruck zu hinterlassen, weder ein Auto besaß noch irgendwohin flog, und dass ich — zumindest für zwei Wochen — Sprachkurse für aus der Ukraine Geflüchtete gegeben hatte. Damit hatte ich aufgehört, weil ich es zu aufwühlend fand.
Dass ich mich extrem langweilte und Netflix vermisste wie einen engen Freund, mit dem ich jeden Tag gemeinsam zu Mittag und zu Abend gegessen hatte, erzählte ich nicht.
Talia fand meinen Drop-out gut. Sie sah ihn als Kapitalismuskritik, ein Auflehnen gegen die digitale Totalüberwachung durch Big Data. Antonia wiederum hielt mich für — Zitat: »durchgeknallt, narzisstisch und völlig privilegsgeblendet«. Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich in meine Richtung über den Tisch. Kapitalismus stabilisiere sich immer auch durch seine Gegenentwürfe. Kapitalismuskritik ohne revolutionäres Telos war Kapitalismus. Außerdem wisse ich offensichtlich nicht, worauf ich eigentlich hinauswollte. »Auch wenn ich jetzt auf alte weiße Männer zurückgreifen muss, aber Thoreau und Emerson hatten wenigstens eine Art von naturphilosophischem Konzept, ihnen ging es darum, die ganze Gesellschaft zu verändern, egal wie beschissen man ihre Ansätze finden mag. Du denkst, du wärst woke, weil du nach einem Detox auf einmal deine Likes gezielter verteilst.«
Ich hatte überhaupt nicht vor, jemals wieder Likes zu verteilen.
Das entzündete eine große Debatte über Reisen, Auszeiten, Urlaub als Konsumpraktik westlicher Bürger:innen oder das sogenannte Gap Year, das wir als Millennials alle gemacht hatten. Ich war in Australien gewesen. Senta in Argentinien. Charly hatte in einem Waisenhaus in Nicaragua gearbeitet. Irgendjemand bot mir Koks an. Ich lehnte ab, weil das bei mir nie etwas anderes auslöste als das Bedürfnis, früher nach Hause gehen zu wollen. Dafür nahm ich ein Stück von der Pilzschokolade, die mir Jenny entgegenhielt. »Freunde von mir fahren jedes Jahr nach Bali, um dort einen Monat in einer Ayurveda-Anlage zu fasten«, sagte sie.
Dass ich nicht die genauen politischen Parameter meines digitalen Ausstiegs artikulieren konnte, befriedigte Antonia auf eine Weise, die ich lächerlich fand. »Siehst du? Siehst du?«, sagte sie mehrfach und wedelte mit ihrem Glas in meine Richtung. Ich atmete aus. Dann trank ich den Rest meiner Maracujasaftschorle.
Hatte Henry David Thoreau, als er am Walden Pond saß und seine Bohnen wässerte, wirklich eine spezifisch ausgearbeitete politische Agenda im Kopf? So hatte ich das nie betrachtet. Eigentlich ging es ihm doch um eine Philosophie des Minimalismus, seine Gedanken waren eher reaktiv als proaktiv. Auf die sich beschleunigend industrialisierende Welt antwortete er mit einem Rückzug in den Wald, auf die Gräuel der Sklaverei mit dem Aufruf zu zivilem Ungehorsam. Auch wenn man wusste, dass er sich in der Walden-Zeit mittags bei seiner Tante aufwärmte, die ein paar hundert Meter weiter lebte, war an seinen Ideen doch trotzdem was dran. Oder?
*
Ich ging zu dem Buchladen am Breslauer Platz und bestellte Snow Crash von Neal Stephenson, außerdem den Essayband Running on Emptiness des Anarcho-Primitivisten John Zerzan. Zerzan musste ich für die Verkäuferin buchstabieren. Sie tippte den Namen über eine vergilbte Tastatur mit erhöhten Tastenblöcken ein. Dabei zog sie ihre Mundwinkel nach unten, ihre Oberlippe wurde schmal. Ich entdeckte ein schwarzes Haar, das aus einem ovalen Leberfleck wuchs. Mit einem Mal bewegte sich die Unterlippe, der Mund machte ein Schnalzgeräusch und entblößte dabei die untere Schneidezahnreihe. Ich fand es viel zu intim, diesen leicht vergilbten Zahnzwischenraum zu sehen. Ich schaute auf die Tastatur, dann auf die Grußkarten, die neben der Kasse standen, Herzlichen Glückwunsch zum 75., Ein Storch zur Geburt. Mit Menschen ohne Maske zu interagieren, fühlte sich mittlerweile so an, als müsste ich Jazz-Musikern zusehen, wie sie ihre Instrumente bearbeiteten und ihnen dabei das Gesicht entglitt, als hätten sie einen Orgasmus. Die Maskenpflicht galt jetzt nur noch im öffentlichen Verkehr. Von den sechs Leuten hier im Laden trugen zwei eine Maske. Eine davon war ich.
Ich bekam einen Abholschein und verließ die Buchhandlung.
Davor standen zwei japanische Kirschbäume, die anfingen zu knospen. Ich steckte den Abholschein ein und machte mich auf den Weg zu einer weiteren Buchhandlung, die sich vier Seitenstraßen entfernt neben einer Apotheke befand. Mein Interesse an Flohmarktkäufen und Antiquariaten hatte abgenommen, es war mir mittlerweile doch nicht zielgerichtet genug. Amazon und Thalia kamen nicht mehr infrage, darum hatte ich angefangen, meine Lektüre in kleinen Buchhandlungen zu ordern, die über Südberlin verstreut waren. Bis zu der autonomen Buchhandlung mit den heruntergekommenen Regalen lief ich fünfzehn Minuten. Hier bestellte ich das Manifest von Ted Kaczynski. Es schien mir heikel, Schriften vom Unabomber und einem Anarcho-Primitivisten im gleichen Laden zu bestellen. Grundsätzlich war es schon fragwürdig, überhaupt was von Kaczynski zu bestellen. Ich zahlte bar und hoffte, nicht auf einer Liste des Verfassungsschutzes oder einer ähnlichen Organisation zu landen. In der Buchhandlung am Breslauer Platz hieß ich Marie Schmidt, hier bestellte ich das Buch auf Alex Roth.
Ich las Zerzans Essays Running on Emptiness und das Unabomber-Manifest Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft in zwei Tagen. Ich las die Bücher auf dem Sofa, mit einer Kanne selbstgemachtem Eistee daneben. Das Fenster ließ ich offen. Die Kinder aus der Kita schrien hin und wieder, ahmten Sirenen nach oder stießen andere Urschreie aus, die in Lacher oder Weinkrämpfe mündeten. Das hörte ich nur, wenn ich eine Pause machte, um zu pinkeln. Ich war zu sehr auf die Bücher konzentriert. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich Kaczynskis und Zerzans radikaler Kulturkritik großteils zustimmte, obwohl einige Aspekte furchtbar lächerlich oder absolut unverhältnismäßig waren. Zerzans Wunsch nach pre-zivilisatorischen Kommunikationsformen, in denen Telepathie als einendes Sprachinstrument genutzt wurde, zum Beispiel. Oder Kaczynskis Briefbomben. Es war schwierig hinter einem theoretischen Ansatz zu stehen, der unmittelbar zu Terroranschlägen geführt hatte, selbst wenn die Kernthese stimmte, dass sich die Menschheit durch Technologie immer weiter von ihren eigentlichen Lebensumständen entfernte. Und: Wären wir wirklich alle nicht mehr entfremdet, wenn wir schlagartig aufhören würden, zu chatten?
fühlst du dich nicht manchmal auch alleine in dem kaff, fragte ich am nächsten Tag meinen Bruder. Seit ich kein iPhone mehr hatte, chatteten wir jetzt öfter nachmittags — ich erlaubte mir pro Tag eine Stunde auf der Signal Desktop-App. Seit ich mich mit Einsiedlern auseinandergesetzt hatte, die irgendwie abgeglitten waren, fragte ich mich noch mehr, was mein Bruder eigentlich so machte. Er hatte früher schon wenige Freunde gehabt, aber mittlerweile unterhielt er sich mit niemandem mehr, außer mit Oma A. und hin und wieder flüchtig mit Leuten, die ihm beim Spaziergehen mit seinem Hund im Feld begegneten. ich hab schon auch freunde online, antwortete er. wo genau, fragte ich. ich kann auch nichts für meine sozialphobie, schrieb er, hab ich mir nicht ausgesucht. Ich antwortete: dachte eher insgesamt, weil im dorf nichts los ist, aber auch wegen lockdown und so was. bist du bei discord oder wo chattest du mit deinen leuten?
Mein Bruder schrieb: ich hab außerdem den hund, der ist wie mein kind. was machst du denn den ganzen tag ich dachte, du hast 1000 freunde in berlin?
ja doch.
Dann: ich war auch vorm lockdown nicht draußen, schrieb er. außerdem ist der eh unnötig, weil die regierung nur alle drinnen halten will, um die kleinen unternehmen kaputt zu machen, aber mir ist das eh gleich, darum geht’s mir nicht.
Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte noch zwanzig Minuten Chat-Zeit.
Ich schickte ein Meme mit Ted Kaczynski.
Dass mein Bruder mir das Meme übel nahm, hätte ich nicht erwartet. bist du bescheuert, antwortete er. Warum ich ihn mit einem verrückten Psychopathen vergleichen würde, der sich vor dem Computer kranke Manifeste überlegte und Briefbomben verschickte. Ob ich glaubte, dass er gefährlich war oder Amok laufen würde — ich spiel nicht mal ego-shooter-sachen, denkst du, ich bin wie der breivik oder was? Ich war irgendwie erleichtert, dass er so stark reagierte. Er schien immer noch die zart besaitete Seele zu sein, die er als Kind gewesen war. Er hatte die Spinnen, die meine Mutter rumbringen wollte, eingefangen und in einer Mooskugel beherbergt. sorry war nur als spaß gemeint, schrieb ich, aber er ließ sich nicht mehr bremsen. Ob ich mich nicht mehr daran erinnern könnte, dass ich ihm einmal Zisternen-Wasser zum Trinken gegeben hatte, woran er hätte sterben können, und wie er sich im Schwimmbad eine Platzwunde geholt habe, weil ich nicht auf ihn aufgepasst hatte. du bist doch viel schlimmer, schrieb er. Danach war er nicht mehr online.
Ich fragte Senta, was sie machte, und dass ich meinen Bruder mit einem Kaczynski-Meme verärgert hatte. Um die Zeit war sie meistens in der Bibliothek und hatte ihr Telefon in einem Spind weggesperrt. Das hieß, sie würde meine Nachricht erst später lesen. Ich schrieb, dass ich mich irgendwie schlecht fühlte, weil das Meme letztlich nur zu sechzig Prozent ein Witz gewesen war. Die Aussicht, dass sie nicht sofort antworten würde, führte dazu, dass ich einfach weiterschrieb. Ich reflektierte in einem Textblock, dass Eremitentum und Aussteigertum männlich konnotierte Felder waren — gibt es in unserer Kulturgeschichte überhaupt relevante Einsiedlerinnen? Und wie viele davon haben Manifeste geschrieben, die großflächig rezipiert wurden, während sie in Psychosen abgedriftet waren? Ich verwies auf Hildegard von Bingens Naturvisionen oder Emily Dickinsons Sozialängste, die dazu geführt hatten, dass sie ihr Leben lang kaum ihr Zimmer verlassen hatte und nur eine Brieffreundschaft führte, die sie irgendwann auch beendete. Oder: Enya, die seit 1997 allein mit ihren Hunden in Manderley Castle wohnte.
Der Rest: Males? Christopher McCandless als Identifikationsfigur des Neo-Neotranszendentalismus? Ich schickte einen Link zu dem Film Into The Wild.
In dem Jahr, in dem ich ausgezogen war, kam der Film in die Kinos. Alle Jungs ließen sich Dreitagebärte wachsen, hörten Musik von Männern, die auch Dreitagebärte hatten und von Akustikgitarrenakkorden unterlegte Songs schrieben. Ich hatte zwei Boyfriends, die beide nach Alaska fliegen wollten, um dort zwei Monate allein in der Wildnis abzuhängen. Ich fand das naiv und peinlich. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Folgten wir der zyklischen Ebbe und Flut von Nostalgie, machte es Sinn, dass wir uns gerade in der Hochphase der neuen Neotranszendentalisten befanden — ich war eine von ihnen, ich lebte mit meinem Dumbphone und dem Tower-Computer, den ich mir mittlerweile angeschafft hatte, wie ein Eichhörnchen in meiner Wohnung, hockte auf meinem Fensterbrett im Schatten der Kastanienbäume und bereitete mich auf ein ähnlich einschneidendes und ungewisses Erlebnis vor, wie es der Winterschlaf für ein kleines Nagetier sein musste. Da ich offiziell nichts mehr streamte — ich hatte das Programm SelfControl installiert und permanent aktiviert, nur Wikipedia und Posteo waren gewhitelisted —, schaute ich die Webserie 7 vs. Wild bei Senta. Es ging um sieben Männer, die sich in der Wildnis Schwedens aussetzen ließen, um dort mit sieben Gegenständen eine Woche lang zu überleben.
*
Nachdem ich zwei Tage mit Senta 7 vs. Wild gebinged hatte, meldete ich mich bei SuperFit an, einem Fitnessstudio, das 24 Stunden geöffnet war und sich in einem Einkaufszentrum in Steglitz befand. Das Studio war sehr basic. Es gab Laufbänder, die auf eine karge Wand ausgerichtet waren, die üblichen Muskelaufbaugeräte, ein paar Treppen, die ins Nichts führten, drei Rudergeräte und einen Stretchingbereich. Der Freihantelbereich war mit einem Sichtschutz abgegrenzt. Ein Hörschutz wäre sinnvoller gewesen, um das Stöhnen und Grunzen auszublenden, das von den Hantelbänken herübertönte. Ich konnte den Vertrag am Tresen unterschreiben und musste mich nicht online registrieren. Institutionen, bei denen man Papierformulare vor Ort ausfüllen musste, waren mittlerweile Häfen der Sicherheit für mich. Ich bekam eine Chipkarte und einen Flyer, auf dem die Kurszeiten angegeben waren. Falls ich trainieren wollte, wenn das Einkaufszentrum geschlossen war, konnte ich mit einem Zugangscode über einen Fahrstuhl ins Studio hochfahren. Der Fitnessstudioangestellte, bei dem ich den Vertrag unterschrieben hatte, wollte mir noch ein Umhängeschloss mit dem Logo des Studios verkaufen. »Wie viel kostet das?« »Fünfzehn Euro.« Ich lehnte ab, weil ich so was bestimmt bei Kaufland für drei Euro bekam. »Das brauchst du aber, um deine Sachen abzuschließen.« Ich hatte beobachtet, wie er anderen ein Schloss gegen ein Pfand — Schlüssel, Personalausweise — ausgeliehen hatte, und fragte danach. »Ist aber ne Ausnahme«, sagte er, öffnete eine Schublade und legte mir ein weiß bedrucktes Schloss auf die Theke.
Ich brauchte ein paar Besuche, bis ich rausfand, was für mich funktionierte. Ich ging Montagvormittag zum Spinning, zu der Uhrzeit waren nur Rentnerinnen da. Dienstags machte ich ein HIIT-Work-out auf dem Stepper. Dabei schaute ich Nachrichten auf n-tv. Danach dehnte ich mich im Stretching-Bereich. Meine letzte Stretching-Übung bestand darin, meine Arme mit einem TRX-Band, das ich an einem Klimmzuggerüst befestigt hatte, nach hinten zu dehnen und so meine Brust für anderthalb Minuten zu öffnen. Das half nicht nur gegen Verspannungen im Schultergürtel, die ich eigentlich permanent hatte, sondern hatte auch einen Effekt auf meine Stimmung: Ich fühlte mich leichter und ruhiger. Das hatte ich in einer der Physiotherapiesessions gelernt, die ich mit neunzehn wegen einer Schleimbeutelentzündung in der linken Schulter verordnet bekommen hatte. Zum Schluss saß ich zehn Minuten in der Sauna, duschte und fuhr wieder nach Hause. Die Yogakurse bei SuperFit ignorierte ich. Ich blieb bei den Jivamukti-Online-Kursen, die ich mir per Konverter von YouTube heruntergeladen hatte, als ich beschloss, die Plattform zu sperren, und noch ein letztes Mal meine Bookmarks nach zu konservierenden Videos durchsuchte.
Meine Oberschenkel und mein Po vergrößerten sich im April leicht. Ich legte alle Strecken in Berlin mit dem Fahrrad zurück. Seit es die neuen Pop-up-Radwege gab, brauchte ich nur noch fünfundzwanzig Minuten nach Neukölln.
Jetzt, wo ich mich so viel bewegte und nicht mehr den ganzen Tag auf der Matratze Medien konsumierte, war ich viel hungriger. Das bedeutete, dass ich mehr Geld für Lebensmittel ausgab, die wegen der Inflation bereits teurer geworden waren. Bei der Bio Company kostete eine Salatgurke 2,49 Euro. Ich fing wieder an, bei Kaufland einzukaufen. Wenn ich keine Bio-Gurken fand, wusch ich sie zu Hause mit Seife.
Ich gewöhnte mir an, Lebensmittel zu kaufen, die gerade günstig waren. Erdbeeren leistete ich mir nur ein einziges Mal, nachdem ich eineinhalb Stunden auf dem Stepper verbracht hatte und das Gefühl bekam, ohne Zucker gleich umzufallen. Ich aß oft Linsen, aber nur die roten, weil mir die anderen schlecht bekamen.
Rückblickend war ich zu der Zeit so fit wie noch nie in meinem Leben.
Sentas Umzüge — im Frühjahr waren es insgesamt drei — sah ich mittlerweile als Work-out-Programm. Anfang Januar war sie für einen Monat in ein Apartment am Hermannplatz gezogen. Die Fenster waren so schlecht isoliert, dass sie die Hälfte der Zeit bei ihrem Vater in Bonn verbrachte. Mitte Februar hatte ich ihr geholfen, ihre Sachen in eine Erdgeschosswohnung am Kotti zu bringen. Die Wohnung war dunkel und feucht, sobald man sie betrat, hatte man das Gefühl, man würde von einem eisigen Film umhüllt werden.
Jetzt zog Senta vom Kotti in den Reuterkiez. Diesmal für zwei Monate. Weil das Zimmer möbliert war, mietete sie einen Storage Space, um ihre Winterkleidung dort zu lagern. Ihre Matratze hatte sie für einhundertfünfzig Euro an eine Praktikantin aus Gent vermietet, die zwei Wohnungen unter ihr zur Zwischenmiete eingezogen war. Der Umzug bestand heute nur darin, dass ich ihr half, Kisten in den Storage Space einzusortieren. Danach gab sie eine Cola aus. Wir setzten uns in den Schatten der Kirschbäume, die hier am Rande der vierspurigen Straße in quadratischen Grünflächen wuchsen. »Wie behältst du den Überblick über deine Sachen?«, fragte ich Senta. »Hier«, sagte sie und hielt mir ihr iPhone hin. Sie benutzte eine Projektmanagement-App.
Senta wirkte irgendwie geknickt. So kannte ich sie kaum. Ich fragte sie, ob es an der neuen Wohnung lag. »Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal länger als zwei Monate in einem Schlafzimmer geschlafen hab«, sagte sie. Sie erzählte, dass sie letzte Nacht mit einem Date abgestürzt war, obwohl sie eigentlich geplant hatte, die Sache etwas distanzierter anzugehen. Er befand sich in einer offenen Beziehung und war nachts noch gegangen. Senta meinte, dass sie sich ausgewrungen und benutzt fühlte, nicht wegen des Sexes, sondern weil sie von Anfang an wusste, dass der Abend so verlaufen würde, aber trotzdem mitgemacht hatte. Sie stellte die Dose auf der Bank ab und verschränkte ihre Arme. Im Sonnenlicht war erkennbar, dass sie Puder aufgetragen hatte. Ich kannte diese diffusen Schuldgefühle, die einen dazu brachten, mit Leuten zu schlafen, obwohl man eigentlich gar nicht wirklich wollte. Auf einmal fing Senta an zu weinen. Sie entschuldigte sich mehrfach. Ich nahm sie in den Arm. »Es liegt nicht nur an diesen blöden Dates«, sagte sie. Es ging um ein grundsätzliches Gefühl der Unsicherheit. »Ich hab keine Wohnung, keinen Job und keinen Partner«, sagte sie. Ich versuchte hervorzuheben, was in ihrem Leben gut lief, sie hatte zum Beispiel gerade einen Artikel über Kleidercodes als soziale Zugehörigkeitsmarker in Neukölln veröffentlicht, der überdurchschnittlich viel geteilt worden war. »Ich fühl mich einfach alleingelassen«, unterbrach mich Senta. »Das tut mir leid«, sagte ich. Ich las die Rückseite der Cola-Dosa. Senta stand auf und klopfte ihre Hose ab. Auf einmal kam ich mir dumm vor. Seit ich kein iPhone mehr hatte, telefonierten wir zwar öfter, dafür chatteten wir kaum noch. Es fühlte sich nicht organisch an, dass ich nur von meinem Rechner aus auf Signal zugriff, wohingegen Senta schrieb, während sie irgendwas erlebte — als würden wir uns nicht mehr auf Augenhöhe befinden. Wenn mir Senta um 1:30 Uhr davon berichtete, dass sie gerade am Kanal entlanglief und ihr seit zwei Blocks ein Fuchs folgte, ich diese Nachricht jedoch erst vierzehn Stunden später las, teilten wir diesen Moment nicht wirklich. In der Stunde, in der ich Signal über meinen Computer benutzte, war Senta oft nicht erreichbar. Es gab kaum noch Simultanität. Diese neuartige Distanz wurde mir erst jetzt so richtig bewusst. Senta wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich studierte weiter die Rückseite der Cola-Dose, unfähig zu artikulieren, dass sie mir wichtig war und ich unsere Nähe vermisste. Stattdessen fragte ich: »Wusstest du, dass es Kolanüsse gibt?« Sie sagte, dass ich ein Talent dafür hatte, abzuschweifen. »Das liegt daran, dass du Zwillinge bist.« Immerhin hatte ich sie ein bisschen zum Lachen gebracht.
An dem Nachmittag steigerten wir uns in die Idee hinein, ein Sachbuch über die dunkle Seite von OkCupid, Bumble und Tinder zu schreiben. Ein Kapitel würde sich um die Aneignung inklusiver Kommunikation durch heterosexuelle Cis-Männer drehen. Keine Ahnung, wie oft wir in den letzten Jahren verständnisvolle Sätze wie »das kann ich gut nachvollziehen« oder »gibt es etwas, das dich beim Sex triggert und ich lieber nicht tun soll?« gehört hatten, und einem dann trotzdem ohne Vorwarnung vier Finger in den Mund geschoben wurden, sodass man kaum Luft bekam.
Ich hatte nicht vorgehabt, einen Zölibat aus meinem Social-Media-Drop-out zu machen, aber irgendwie waren jetzt acht Monate ohne Date vergangen. Absurd war: ich vermisste es nicht. Ich vermisste weder das Swipen durch Gesichter noch die bewerbungsartigen Gespräche, die sich zuerst im Chat, dann in Bars ergaben. Es lag nicht daran, dass ich auf einmal Sex oder den Wunsch nach romantischen Gefühlen transzendiert hatte, sondern daran, dass es irgendwie befriedigender war, sich sicher sein zu können, nicht als Screenshot in einem Twitterthread aufzutauchen. Auch hier blieb eine Restangst zurück, weil ich nicht wissen konnte, wer meine Fotos gescreenshottet hatte, als ich noch auf OkCupid und Feeld angemeldet war. Selbst ich hatte unfreiwillig eine Sammlung von nackten Oberkörpern und weißen Boxershorts, unter denen sich erigierte Penisse abzeichneten, angehäuft — erstaunlicherweise gab es dann doch eine Menge von Leuten, die sich mit Gesicht fotografierten und dir Fotos schickten, sobald du drei Sätze ausgetauscht hattest. Der Suchbegriff Dating Profile Meme ergab auf Google 22.000.000 Treffer: Datingprofile zu screenshotten war zu einem eigenen Genre geworden. Es wurden Selbstbeschreibungen, Profilbilder und maßlose Nachrichtenverläufe von Usern konserviert, die alle unterhaltend sein sollten. Wie oft hatte ich mich mit Senta über Tinder- und OkCupid-Profile lustig gemacht. Ich dachte an den Mann vor dem Esel. Oder den Mann mit dem Gewehr. Immerhin publizierten wir unsere Reaktionen nicht auf Twitter, aber vielleicht machte uns das auch zu noch größeren Heuchlerinnen.
Abgesehen davon, dass ich keine Chatfragmente, Fotos oder GeoDaten zurückließ, umging ich damit auch das Risiko, Menschen zu treffen, die einen auf verschiedene Weisen bevormundeten oder gegebenenfalls davon ausgingen, dass sie ein Recht darauf hatten, mit einem zu schlafen.
*
Am nächsten Tag schrieb ich Senta eine E-Mail. Ich sagte ihr, dass es mir leidtat, wenn ich ihr das Gefühl gegeben hatte, sie durch mein Beafon ersetzt zu haben. Ich schlug vor, dass wir anfangen könnten, uns E-Mails zu schreiben. Ich fing mit einer Aufzählung der Mahlzeiten an, die ich heute gegessen hatte, und schloss die Mail mit einer Linksammlung zu Kolanuss-Rezepten. Ich setzte viele Begriffe in Anführungszeichen.
Dass ich morgen fünfunddreißig wurde, erwähnte ich nicht, weil ich es zu prätentiös fand.
In der Nacht zu meinem Geburtstag träumte ich, dass ich mich mit meinem Vater für ein Programm anmeldete, bei dem man eingefroren werden sollte, um in einer fernen Zukunft wieder aufzuwachen. Ich ließ mich in einem Stickstofftank versiegeln. Mein Vater erschien nicht zum Termin. Mein Tank wurde ins Erdgeschoss des Herkules-Centers geliefert, dem Einkaufszentrum, in dem ich in meiner Kindheit oft mit meiner Mutter gewesen war, weil sie Sandalen oder weiße Blusen suchte. Auf der digitalen Anzeige über dem Buffalo-Schuhladen wurde das Jahr 1998 angezeigt. Ich reiste fälschlicherweise in der Zeit zurück. Ich wachte auf, als ich versuchte, den Glastank von innen mit einer Geflügelschere zu zerstören. Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Es war kurz nach drei. Ich war jetzt fünfunddreißig. Ich sah die Geschichte meiner Kindheit in Form einer Timeline, die aus der Perspektive meines Vaters erzählt wurde. Ich sah ihn mit mir als Kleinkind in einem Planschbecken liegen, er hob mich hoch, er hatte einen Schnauzbart und einen Vokuhila. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ein eigenes Kind zu haben. Ein Wesen, das Teile von dir in sich trug, sich unkontrollierbar weiterentwickeln konnte, eine arbiträre organische Kreation, auf die man nur bedingt Einfluss hatte. Vielleicht hatte sich mein Vater von mir distanziert, weil er Teile von sich in mir gesehen hatte? Als es dämmerte, schlief ich noch mal ein.
Zur Feier des Tages erlaubte ich mir uneingeschränkte Internetnutzung und ein Budget von 50 Euro für Lebensmittel. Ich kaufte im EDEKA drei verschiedene Ben & Jerry’s-Sorten darunter eine mit Brezeln, die ich noch nicht kannte. Ich kaufte Erdbeeren, eingelegten Hering, Räucherlachs, zwei Avocados, einen Bagel mit Mohn, Weintrauben, eine Grapefruit und eine Tiefkühlpizza mit Dinkelmehlboden. Zu Hause rollte ich mir einen Joint, den ich an meinem Küchenfenster rauchte. Draußen schwebten Pollen in der Luft. Oma A. rief gegen elf an. Mein Bruder schickte eine SMS. Ansonsten rührte sich niemand. Warum auch — niemand wusste, dass ich Geburtstag hatte. Absurderweise war ich geknickt, dass sich Senta nicht meldete. Irgendwie hatte ich gehofft, dass sie meinen Geburtstag doch aufgeschnappt und in ihren iCal eingetragen hatte. Sie hatte auch noch nicht auf meine E-Mail reagiert. Ich ließ den Joint nach der Hälfte ausgehen und legte ihn in den Aschenbecher. Dann setzte ich mich mit einer Schale Weintrauben an den Computer, vorher zog ich meine Unterhose aus, weil es bequemer war. Ich klickte mich eine Stunde lang durch Artikel über Kryokonservierung. Ich las, dass man an eine umfunktionierte Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden musste, sobald man klinisch tot war. Anstatt einen am Leben zu erhalten, injizierten sie Frostschutzmittel in die Arterien und pumpten gleichzeitig Körperflüssigkeiten ab. Diesen Schritt hatte ich in meinem Traum übersprungen, ich war direkt in einem Tank versiegelt worden. Dass Kryonik funktionierte, war wissenschaftlich widerlegt, Organe verfielen, sobald der Tod eingetreten war, unabhängig davon, ob man sie einfror oder nicht, aber was war zum Beispiel mit dem Gehirn, wie sirion in einem Reddit-Forum schrieb: Gehirnzellen konnten grundsätzlich eingefroren werden, so wie Eizellen, Samenzellen und dergleichen. Ich ergoogelte, dass es eine Firma in den USA gab, über die man für etwa 80.000 Dollar nur sein Gehirn einfrieren lassen konnte. Mir kam der Gedanke, dass wir unsere Gehirne bereits digital kryonisierten. Die Daten, die wir stetig hinterließen, würden bald eine exakte Reproduktion unserer Gedankenwelt und Haltungen ermöglichen. Seit dem 28. Oktober 2021 hieß Facebook Meta.
Als ich mich durch die Website einer Firma klickte, die auf Basis von persönlichen Daten Hologramme erstellte, klingelte mein Telefon.
Es war Ida.
Seit ich kein Instagram mehr hatte, hatten sich fast alle Kontakte nach Offenbach aufgelöst, Ida war die einzige Person aus dieser Lebensphase, mit der ich vor meinem Drop-out regelmäßig Sprachnachrichten ausgetauscht hatte. »Ich dachte, ich ruf einfach mal an, weil meine Nachrichten nirgendwo durchkamen«, sagte sie und gratulierte mir. »Was machst du, du bist wie vom Erdboden verschluckt, wie alt bist du jetzt geworden, auch fünfunddreißig, oder?«, sagte sie. »Ich klick mich grade durch eine Website, bei der man sich für fünfzig Dollar im Jahr anmelden kann, damit sie ein Hologramm von dir erstellen, wenn du tot bist«, sagte ich und merkte dann, dass sie gar nicht danach gefragt hatte. Ich kannte Ida über meinen Ex-Freund. Sie war eine der ersten Personen gewesen, mit denen ich mich angefreundet hatte, nachdem ich zu Nicki nach Offenbach gezogen war. Sie war Grafikerin und hatte zwei Katzen, die sie im Co-Parenting-Modell betreute — eine Woche waren sie bei ihr, eine Woche bei ihrem Ex —, spielte Tennis, war Mitglied in einem Meditationszentrum und ging offen damit um, dass sie sich manchmal Botox spritzen ließ, weil sie ihre Stirnfalte nicht mochte. Seit der Pandemie verbrachte sie ihre Wochenenden nicht mehr im Robert Johnson, sondern machte Ausflüge in umliegende Naherholungsgebiete. Davon erzählte sie jetzt relativ beseelt. Sie war auf dem Rheinstieg, dem Lohrberg, dem Loreley-Felsen, dem Goethe-Turm und auf einer Kräuterwanderung im Taunus gewesen. Die Kräuterwanderung hatte sie über die VHS gemacht. »Wenn du mal wieder hier bist, könnten wir das zusammen machen«, sagte Ida. Dass ich kein iPhone mehr hatte, beeindruckte sie nachhaltig. Sie meinte, dass sie sich in letzter Zeit vermehrt mit Digital Minimalism auseinandergesetzt, aber bisher noch keine Maßnahmen richtig umgesetzt hatte. »Lass auf jeden Fall in Kontakt bleiben«, sagte ich und schlug vor, dass wir wieder öfter telefonieren konnten.
Um nach dem Gespräch keine Leere aufkommen zu lassen, holte ich das Eis aus dem Gefrierfach. Das mit den Brezeln schmeckte seltsam, aber gut. Während ich Eis aß, sah ich mir das Insomnia Announcement-Video auf Twitter an, in dem das Hologramm eines bekannten Vloggers einen DJ-Mix spielte.
Am nächsten Tag schälte ich mich gegen Mittag aus dem Bett. Ich ging direkt ins Fitnessstudio, um nicht in Routinen zurückzufallen, die ich vermeiden wollte. Einen Cheat-Tag zu haben, weil man Geburtstag hatte, war in Ordnung, aber jetzt war mindestens eine halbe Stunde auf dem Laufband fällig. Ich schaute taff auf dem kleinen Bildschirm, der über der Kontrollleiste für Geschwindigkeit und Steigung angebracht war. Einmal rannte ich fünf Minuten auf so hoher Stufe, dass ich Angst hatte, das Laufband würde gleich kollabieren. Danach fühlte sich mein Kopf klarer an. Ich ging in den Cool Down, lief mich noch ein bisschen aus, ging fünf Minuten und schaltete dann das Laufband aus. Mein Shirt klebte mir am Rücken. Ich zog es vorne hoch und wischte mir damit das Gesicht ab. Dann ging ich rüber zu den Matten, um mich zu dehnen. Zuerst meine Oberschenkel, dann meine Waden, meinen Nacken, meine unteren Arme, meine Hände. Zum Schluss nahm ich eins der TRX-Bänder und hängte mich an die Aufrichtung, um meine Arme zu dehnen. Als ich dort hing wie Jesus am Kreuz, merkte ich, dass ein Junge, der höchstens fünfzehn sein konnte, sein iPhone in der Höhe seiner Hüfte auf mich gerichtet hatte. In seinen Augen meinte ich diesen ganz bestimmten Ausdruck der Konzentration zu erkennen, der sich vor allem abzeichnet, wenn man die labile Balance zwischen Beobachten und Sich-Verstecken zu finden sucht. Das iPhone war so schnell wieder weg, wie es aufgetaucht war. Ich löste mich aus dem TRX-Band und verschwand in Richtung der Umkleidekabinen.
*
Barbra Streisand verklagte 2003 den Fotografen Kenneth Adelman und pictopia.com, weil ihr Haus auf online veröffentlichten Fotos der kalifornischen Küste zu sehen war. Bei den Fotos handelte es sich um insgesamt 12.000 Luftaufnahmen zur Dokumentation der Küstenerosionen — niemand außerhalb der Fachwelt interessierte sich bis zu dem Zeitpunkt für das Foto, es wusste auch keiner, dass es sich bei einer der unzähligen dokumentierten Villen im Hintergrund der Aufnahme überhaupt um Streisands Residenz handelte. Das änderte sich, als sie gegen die vermeintliche Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte klagte. Im Zuge der Berichterstattung verbreitete sich das bis dato völlig irrelevante Foto viral im Internet. Streisands Haus ließ sich jetzt nicht nur exakt lokalisieren, sondern man konnte so weit reinzoomen, dass es möglich war, die Farbe der Badeshorts des Mannes zu bestimmen, der auf der Sonnenliege am Pool lag. John Gilmore sagte in diesem Zusammenhang: The Net interprets censorship as damage and routes around it.
Ich klickte mich durch ein paar Beispiele, in denen der Streisand-Effekt zu katastrophalen Folgen geführt hatte. Die Geschichten machten mich noch unruhiger, als ich sowieso schon war. Ich fuhr meinen Computer runter und suchte nach einer Beschäftigung, um irgendwie den Teenager und sein iPhone zu vergessen. Um das Bad zu putzen, fehlte mir die Motivation, ich hatte auch keine Lust, die Wäsche zu machen, zu lesen oder schon wieder Schubladen zu sortieren. Ich versuchte mich an ein paar Atemübungen, hängte mich aber immer wieder an dem Gedanken auf, dass mich jemand einfach so fotografiert hatte. — Hätte ich vielleicht doch anders reagieren sollen?
Auf einmal sah ich mich als Wikipedia-Artikel.
Am 12.06.2022 wurde der Clip crucification stretching routine auf YouTube hochgeladen. Der Clip erzeugte eine Internetbewegung, die Crucification-Stretching zum Kernelement einer metaironisch gemeinten virtuellen Fitness-Religion machte. Crucification-Stretching beinhaltet Elemente aus der Wicca-Bewegung und verwebt christlich-fundamentalistisch und radikal-fitness-orientierte Praktiken, die vor allem die Vermarktung von Jesus-Sport-Merchandise beinhalten. Das Wikipedia-Foto war ein Screenshot aus dem viralen Video, das 2022 eine ganze Generation beeinflusst hatte. Darauf zu sehen war Mila Meyring im Alter von fünfunddreißig Jahren. Meyring wurde im Wikipedia-Artikel als Guru betitelt. Nachdem ihre Klage auf Schadensersatz sieben Jahre geschoben worden war, erhielt sie im Jahr 2027 eine Abfindungszahlung von 4000 Euro. Ihre Forderung von einem Schadensersatz über 50.000 Euro wurde abgewiesen, weil sie freiwillig im SuperFit trainierte und mit ihrer Mitgliedschaft der Abgabe aller persönlichen Bildrechte zugestimmt hatte. Die Firma, die das Merchandise vertrieb, hatte mittlerweile einen Jahresumsatz von 2,3 Mrd. Euro.
Ich versuchte die aufkeimende Panik zu betäuben, indem ich den letzten Rest vom Eis, das gestern geschmolzen und über Nacht wieder zu einer glatten Masse gefroren war, aus der Packung kratzte.
Es war lächerlich.
Ich wusste nicht mal, ob ich wirklich fotografiert worden war.
Senta tat es leid, dass sie mir nicht zum Geburtstag gratuliert hatte. »Warum sagst du denn auch nichts«, meinte sie. »Mir ist das alles nicht so wichtig«, sagte ich. Wir liefen abends in kurzen Hosen vom Brandenburger Tor zur Akademie der Künste. Der Park war gut besucht. In der Luft lag der Geruch nach Lavendel, Grillkohle, Abgasen. Einige Leute waren auf E-Rollern und Inlinern unterwegs. Die Paranoia, die durch das Erlebnis im Fitnessstudio ausgelöst worden war, ebbte langsam etwas ab, trotzdem war ich aufgewühlt genug, um Senta davon zu erzählen. »Und du bist dir sicher, dass du fotografiert worden bist?«, fragte Senta. »Ich weiß es nicht genau«, sagte ich. Es war nur ein kurzer Moment gewesen. Als würde einen jemand angucken und dann direkt wieder wegschauen. Ich beschrieb die Technik, mit der ich mich stretchte, und sagte, dass ich selbst wusste, wie strange das aussah. Ich regte mich über das Fitnessstudio auf, das wegen der Leute, die sich beim Pumpen über die Spiegel filmten, um ihre Instagram-Accounts aufzufrischen, eine so laxe iPhone-Politik hatte. Wir unterhielten uns über strenger werdende Gesetze zum Datenschutz und die gefühlte Auflösung vom Recht am eigenen Bild in öffentlichen Räumen, die früher nur für Personen des öffentlichen Lebens gegolten hatte. Senta zeigte mir den Chat-Verlauf mit einem Bekannten, der Clips von der CTM-Festival-Nacht geschickt hatte und unbemerkt davongekommen war. Nicht mal die Exekutive des Berghains konnte einen noch vor Photo-Ops schützen. Vom Rosengarten bis zur Siegessäule zählte ich 63 Smartphone-Foto-Situationen. Selfies, Familienporträts, die Dokumentation von Rosen oder dem Moltke-Denkmal, aber auch etliche Aufnahmen von belebten Liegewiesen oder anderen Motiven, anhand derer die sommerliche Atmosphäre im Tiergartenpark dargestellt werden sollte und dafür wahllos Fremde fotografiert wurden. Senta fand es spannend, dass wir alle versteckte Geschichten in den Hintergründen von visuellem Material erzählten. »Noise-Resonanzen eines kollektiven Gedächtnisses«, sagte sie.
Wir erreichten die Akademie der Künste eine halbe Stunde nach Einlassbeginn. Das Gebäude war von Rosenbeeten umgeben, die weiß und rot blühten. Die verklebten Schlafsäcke, mit Daunenjacken gefüllten Einkaufswagen und verwaisten Matratzen, die in der Bahnstation Tiergarten gelegen hatten, wirkten sehr weit weg. Die Ausstellung fand im klimatisierten Foyer statt. Es wurden Installationen gezeigt, die mithilfe von künstlichen Intelligenzen erstellt worden waren. Senta war eigentlich nur wegen eines Videokünstlers aus Vancouver hier, er gab ein Independent-Magazin raus, das sie gerade las. Ich war erleichtert, dass die Ausstellung kaum besucht war und anstelle von hippen jungen Menschen an der Theke nur ältere Leute mit Frisuren und Anzügen standen. Es war meine erste institutionalisierte Ausstellungseröffnung seit Jahren. Die Getränke waren umsonst. Und es gab einen Ausstellungsfotografen.
Ich hatte den Archetypus des fotoaffinen Mannes mitsamt mehreren Spiegelreflexkameras lange nicht mehr gesehen. Er trug eine Nadelstreifen-Weste über seinem weißen Hemd und schoss Fotos aus verschiedenen Winkeln und Perspektiven. Um seine Schulter hing eine Tasche von Leica. Einmal schraubte er ein anderes Objektiv auf, zog einen Pinsel aus seiner Hosentasche, der mit Sicherheit aus Echthaar bestand, und fuhr damit professionell über die Linse.
Senta fotografierte ihn heimlich von der Bar aus.
Wir holten uns Mineralwasser und setzten uns in eins der orangefarbenen Sitzkissen, die auf einen Screen ausgerichtet waren. Die Performance sollte gleich losgehen. Zehn Minuten lang passierte nichts. Dann machte eine Praktikantin eine Ansage. Der Künstler war in diesem Moment am Berliner Flughafen in ein Taxi gestiegen, weil der Flug von Vancouver verspätet war. Die Performance begann erst in einer halben Stunde. »Schauen Sie sich in Ruhe die Installation an oder treffen Sie uns an der Theke, wo wir Sie auf ein Getränk einladen.« Viele Leute standen auf und bewegten sich in Richtung der Bar. Es war absehbar, dass sich der Ausstellungsfotograf bald hinter den Screen bewegen würde, um eine interessante Perspektive zu finden, aus der er Senta und mich auf dem orangefarbenen Sitzsack ablichten konnte.
»Lass uns doch die Installation neben dem Lichthof anschauen«, sagte ich zu Senta. Sie war rechts am Ende des Gangs aufgebaut und von hier nicht einsehbar. Senta arbeitete gerade an einer Instagram-Story. Ich meinte, dass ich mit Blick vom Lichthof auf den rot beleuchteten Gang ein Foto von ihr machen könnte.
Die Installation war eine metallische Säule, die sich scheinbar mit dem Herzschlag lebender Organismen verbinden konnte. Auf dem Ausstellungsflyer stand: Die Intimität zwischen Mensch und Maschine erzeugt Grenzverschiebungen, die transhumanistische Verbindungen ermöglicht. Ziel ist die Auflösung der kartesianischen Körper-Geist-Trennung hin zu einem transzendentalen kollektiven Organismus. Als ein Mann in braunem Anzug die Plattform unterhalb der Säule betrat, setzte über das Soundsystem ein Herzschlag ein, der in den ganzen Ausstellungsraum übertragen wurde. Mich ebenfalls auf die Metallplattform zu stellen, traute ich mich nicht, weil ich nicht einschätzen konnte, ob mein Herzschlag zu schnell oder zu langsam war. Was, wenn ich einen unnatürlich schnellen Herzschlag hatte, der verriet, dass ich nervös war, weil ich hier auf dieser Metallplatte exponiert stand? Nachdem drei weitere Leute die Platte betreten hatten und jedes Mal exakt die gleiche Herzfrequenz abgespielt wurde, realisierte ich, dass die metallische Plattform nicht in der Lage war, durch — wie ich dachte — Kontaktsensoren auf dem Fußboden den individuellen Herzschlag des Zuschauers zu messen, sondern dass es sich um eine einzige Aufnahme handelte. Ich wunderte mich über mich selbst, dass ich so selbstverständlich angenommen hatte, die Installation würde Biodaten sammeln, um diese an ein Soundsystem weiterzugeben. Andererseits war die Vorstellung weniger invasiv, als von der Spiegelreflexkamera des Ausstellungsfotografen seziert zu werden. Auf dem Teppichboden, drei Meter schräg neben der Metallsäule, hockte er wieder. Er richtete sein Objektiv auf die Gesichter der Menschen, die mit der Soundinstallation konfrontiert wurden. Sie schauten verwundert. Einige grinsten. Andere wirkten durch den einsetzenden Puls irritiert. Das waren alles Emotionen, die die Ausstellungserfahrung gut, also authentisch, visualisierten. Die besten Fotos würden mindestens in einer Story und dann im Archiv »Veranstaltungsfotos« landen. — Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich mit dem Ticketkauf einer Klausel zugestimmt hatte, meine Bildrechte für kommerzielle Nutzungen freizugeben. Vielleicht steckte diese Klausel jetzt aber grundsätzlich in Veranstaltungstickets. War es nicht unverschämt, dass ich zehn Euro zahlte, um mir die Performance anzuschauen, und dann ungefragt als Model missbraucht wurde? Eigentlich sollte ich dafür, dass ich hergekommen war, bezahlt werden, insbesondere dafür, dass Senta und ich den Altersdurchschnitt der Leute hier um dreißig Jahre senkten.
»Ich geh mal kurz zur Toilette«, sagte ich zu Senta. Ich zog meine Maske höher und steuerte die Glastür an, die ins Treppenhaus führte. Die Toiletten befanden sich am Fußende der Marmortreppe, die an einer getönten Milchglaswand nach unten ins Erdgeschoss führte. Vor der Milchglaswand waren gigantische Tontöpfe aufgestellt, darin wuchsen Monstera-Pflanzen, in einer Dimension, die ich bis dato noch nie gesehen hatte. Die Stängel waren an einigen Stellen verholzt und wirkten wie schmale Baumstämme, an denen gigantische Blätter mit tellergroßen Aussparungen wuchsen. Im Waschraum zog ich meine Maske ab. Niemand war hier. Bei der Hitze so oft Maske zu tragen, hatte zu einem pickligen Ausschlag am Kinn geführt. Außerdem hatte ich einen Schweißfilm über meiner Oberlippe. Ich wusch zuerst meine Hände, dann den unteren Bereich meines Gesichts.
Ich musste daran denken, dass meine Großeltern einmal für eine Reportage über Geflüchtete der Nachkriegsgeneration von der Lokalpresse interviewt worden waren. Sie bekamen zwei Seiten und ein großformatiges Porträt, auf dem sie beige Funktionsjacken trugen und vor ihrem Gartenhäuschen posierten. Die Reportage hatte Oma A. ausgeschnitten, in einen Wechselrahmen gesteckt und ins Büro von Opa J. gehängt. Außerdem war ihr Haus als Beispiel für besonders ansehnliche Geranienbepflanzungen im Asslarer Blättchen abgedruckt worden. Anstatt die Leute anzuzeigen, hatte Oma A. das Bild neben die Reportage gehängt. Oma A. hatte jede noch so kleine Meldung, die man irgendwie mit meinem Bruder oder mir in Verbindung bringen konnte und in der lokalen Presse auftauchte, aufbewahrt. Es gab eine Mappe mit Klarsichtfolien, in der in ausgeschnittenen Artikeln über gewonnene Malwettbewerbe, Konfirmationen, Schulabschlüsse, Ballettaufführungen berichtet wurde. In dieser Generation freuten sich die Leute noch über ihre 15 Minutes of Fame.
Irgendwie ging es heutzutage insgesamt weniger darum, bewusst etwas aufzuzeichnen, als zu entscheiden, welche Teile der anwachsenden Content-Vita gekürzt und verborgen werden sollten.
Ich wog ab, wie es wirken würde, wenn ich den Fotografen ansprechen und ihm sagen würde, dass alle Fotos, auf denen ich drauf war, nicht veröffentlicht werden dürften. Ich würde klingen wie der Mann, der auf der Pegida-Demo gefilmt wurde und im schwarz-rot-goldenen Bucket Hat den Kameramann vom ZDF hysterisch bezichtigte, eine Straftat begangen zu haben. Oder wie mein Bruder.
Die Performance des Abends bestand darin, dass man sich mit einem QR-Code in ein System einwählen sollte, um Sätze an die vom kanadischen Künstler erschaffene artifizielle Entität zu schicken, die diese Prosafetzen auslas, deren Stil kopierte und dann im gleichen Ton auf verschiedene Fragen antwortete.
Ich ging irgendwann nach der Hälfte der Performance. Ich schickte Senta eine SMS, sorry, aber ich war grade sozial überfordert. — Soll ich rauskommen? — Nein, alles gut, ich musste nur mal raus. Lass morgen telen. Senta schickte ein xx zurück. Ich ging nicht direkt zur Bahn, sondern nahm den Weg durch den Tiergarten. Vor den blühenden Beeten standen Leute, ihre Smartphone-Bildschirme reflektierten die untergehende Sonne, dadurch glitzerte es überall. Ich drehte um und ging in Richtung einer tristen Brache, die mit Sicherheit als Hundewiese genutzt wurde. Irgendwann stieß ich auf ein Gewässer. Es roch nach Algen, dem feuchten Moder, der im Sommer von Teichen ausging. Über der Wasseroberfläche schwebten Mücken. Auf der gegenüberliegenden Seite lag jemand und schlief, die Beine waren mit einer Daunenjacke zugedeckt.
Zu Hause zog ich mich aus, duschte, rieb mich mit Kokosöl ein und zog ein übergroßes Shirt an, um mich dann ins Bett zu legen. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie ich mich im Fitnessstudio aus dem TRX-Band löste, auf den Teenager zuging und ihm das Telefon aus der Hand schlug. Ich dachte an das Video von Ezra Miller, der vor Containern in einem verschneiten Reykjavík eine junge Frau würgte und auf den Boden stieß. Wahrscheinlich fehlte nicht mehr viel, bis ich mit irrationalen Gewaltausbrüchen von Celebrities sympathisierte. Am meisten ärgerte mich, dass ich jetzt nicht mehr wusste, wo ich trainieren sollte. Im Park gab es noch mehr iPhones als im Studio. Das letzte Mal, als ich in der Wohnung HIIT-Übungen gemacht hatte, war ein Stück Putz von der Wand gefallen. Ich legte mir ein zweites Kissen unter den Kopf, um etwas aufrechter zu liegen. Ich hatte heute absichtlich die Vorhänge nicht zugezogen. Über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser leuchtete der Mond. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass erst in zwei Tagen Vollmond war, hätte ich die Form für einen perfekten Kreis gehalten, so suchte ich nach der konvexen Einbuchtung. Ich nahm das zweite Kissen wieder weg und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Von dieser Position aus sah ich nur den Himmel. Ich sah niemanden. Und konnte von niemandem gesehen werden.
*
Seit ich nicht mehr ins Fitnessstudio ging und alle Events mied, von denen ich überhaupt etwas mitbekam, erschienen mir die Tage wie Aufnahmen in Super Slow-Motion, 8K Ultra HD. Die Kita nebenan schloss coronabedingt für eine Woche. Es wurde gespenstisch ruhig in meiner Wohnung. Keine Kinder mehr, die Sirenen imitierten, mit Stöcken auf Tonnen einschlugen, vor Freude kreischten, plärrten oder mittwochs auf der Dachterrasse zu einer Cajón tanzten und dabei Bewegungen machten, die mich an Raves erinnerten. Ich lag in Unterwäsche auf dem Bett und dachte über Bergsons Zeitbegriff nach. Dann über die Wendung sich zu Tode langweilen. Dann über Tagträume. Über die Produktion von Tagträumen aufgrund konzentrierter Langeweile.
Ich rief Senta an.
Sie schrieb gerade einen Artikel über unproduktive Arbeit als produktive Widerstandsform in spätkapitalistischen Gesellschaften, vielleicht interessierte es sie, welche Erfahrungen ich nach drei Monaten ohne Job gerade machte. Vielleicht würde sie sich erbarmen, mit mir einen Spaziergang über den Insulaner zu machen, oder sie würde zum Abendessen herkommen oder mich auf irgendeine andere Weise aus meiner Trance rausholen — wir hatten uns seit der KI-Ausstellung nicht gesehen, das war zehn Tage her. Während wir telefonierten, rauchte sie eine Zigarette und äußerte sich kaum. Ich merkte selbst, dass ich gerade etwas ziellos bedürftig rüberkam. »Tut mir leid, ich wollte deinen Arbeitsflow nicht unterbrechen«, sagte ich irgendwann. »Nein, tut mir leid«, sagte sie. Ich hörte sie tippen. »Sag mal, würde mich später vielleicht noch mal melden, hab hier grad so ne E-Mail bekommen?«
Ich dachte, dass sie noch mal anrufen würde, aber stattdessen schickte sie mir um 23:56 Uhr einen Screenshot von einer TikTokerin auf Signal. Das sah ich erst am nächsten Tag, als ich nachmittags das Chatprogramm öffnete. Die TikTokerin hatte lange braune Haare und ein silbernes Gittermuster auf der Stirn: »Millennials be like› my worst nightmare is waking up with a job in a house with a wife that loves me and two beautiful children’« #millennialsoftiktok. Senta fragte, ob ich Lust hatte, zu einer Biennale-Veranstaltung im KW mitzukommen, sie hatte sich für eine Fokustour zu einer Ausstellung über Kultur an Körpern, Orten und Zeiten angemeldet. Auf der Website, die die Veranstaltung ankündigte, waren Fotos hochgeladen, die andere Fokustouren dokumentierten. Ein Besucher stand mit den Händen in den Taschen vor einer Skulptur und runzelte die Stirn. Ich schrieb: Klingt gut, aber hab grad keine lust auf instagramterror durch Ausstellungsfotografen. Danach setzte ich das Emojicon, das zwei Hände darstellen sollte, die mit den Fingern ein Herz formten. Die Finger waren wurstig und die Hände wirkten irgendwie grotesk. Ich rechnete damit, dass Senta meine Antwort mit einem Ausrufezeichen oder einem XD kommentieren würde, aber sie reagierte nicht.
Nach einem weiteren Tag konzentrierter Langeweile trieb ich mich auf dem NoSurf-Sub-Reddit rum, wo Leute äußerten, nicht zu wissen, was sie mit sich und ihrem Tag anfangen sollten, wenn sie aus dem Internet ausstiegen. Der pinned thread war eine Liste mit Dingen, mit denen man den Tag füllen konnte. Kochen. Sich künstlerisch ausdrücken. Lesen. Sich intensiver mit Freunden beschäftigen. Ich besuchte zwei Schreib- und Kunstbedarfsläden in meinem Viertel, um Window-Colour-Flaschen zu finden. Ich fand ein Set mit sieben Füll- und zwei Konturfarben. Zu Hause breitete ich Klarsichtfolien auf meinem Küchentisch aus. Ich nahm die weiße Konturfarbe und malte reflexartig Vulven, ich zeichnete zuerst die äußeren, dann die inneren Lippen, danach zog ich die Klitoris nach, möglichst breit und so, dass man innen eine Perle erkennen konnte. Dabei dachte ich darüber nach, dass Vulven in den letzten sieben Jahren für Cis-Frauen zu einem ähnlichen Motiv geworden waren wie zweidimensionale Penisse für Schuljungs. Zuerst waren die fluchtpunktfreien Gebilde an Tafeln und Schultische gekritzelt worden, später an Hauswände in Kreuzberg oder Offenbachs Mathildenviertel getagged. Vulva-Symbole fanden sich eher auf Instagram-Kanälen, in denen Früchte gefingert wurden, oder Etsy-Kanälen, auf denen Ketten mit oktopusförmigen Klitoris-Anhängern verkauft wurden. Ich fragte mich, ob Hannah Wilke diese Kommodifizierung egal gewesen wäre, weil die Vulven ja trotzdem da waren, sichtbar für viele. Ich hatte einmal einen Vortrag über die feministische Künstlerin gehalten, die in den siebziger Jahren angefangen hatte, Vulven aus Terracotta zu formen, um das Phallus-Symbol zu verdrängen.
Ich füllte die Lippen mit blauer Farbe. Den Kitzler lila.
Und jetzt?
Zwei Tage nach meinem Window-Colour-Abenteuer hatte ich eine Auseinandersetzung mit Senta. Der Streit — wenn es denn einer war — passierte in vier Nachrichten, die wir fast in normaler Chatfrequenz wie früher austauschten, als sie laut eigener Aussage auf dem flachen Stein vor der Filmbibliothek saß. Es fing damit an, dass ich sie fragte, ob sie meine letzte E-Mail erhalten hatte. Auf die letzten drei hatte sie nicht mehr geantwortet. Senta schob es auf zwei Deadlines, die beide auf Ende Juni fielen. Ich schlug vor, dass wir unseren E-Mail-Austausch etwas regelmäßiger gestalten könnten, einmal in der Woche zum Beispiel. Senta kommentierte das mit dem Hinweis, dass ich mich dazu entschieden hatte, mich aus dem Leben auszuklinken, nicht sie. Dachte einfach, ein Austausch über Transformationsprozesse könnte produktiv sein, schrieb ich. Danach kam nichts mehr.
Es war das erste Mal, dass ich ihr gegenüber Verlustängste spürte.
Diese Gefühle kannte ich eigentlich nur aus romantischen Beziehungen.
Ab einem gewissen Punkt neigte ich dazu, zu klammern oder misstrauisch zu werden, aber das hatte sich bisher immer auf Liebesbeziehungen mit Männern beschränkt. Dass ich jetzt ähnliche Verhaltensweisen in Bezug auf Senta entwickelte, war neu. Ich stellte mir vor, dass sie den Kontakt zu der Silvester-Gruppe intensiviert hatte. Wahrscheinlich war einer von ihnen mit zur Fokustour gekommen, mit Sicherheit Lisa, die gerade aus New York zurück war, wo sie in einer Galerie gearbeitet hatte. Ich sah sie vor mir, wie sie sich nachmittags bei Lon Men trafen, weil Lisa nur zwei Straßen weiter wohnte und genauso spät aufstand wie Senta. Sie saßen auf Plastikstühlen und unterhielten sich über zeitgenössische Kunst, während sie ihre Nudelsuppen aßen.
Nachdem ich zwei Tage lethargisch auf meiner Matratze verbracht hatte, schaltete ich meinen Computer an und klickte mich über meinen VPN-verstärkten Firefox-Browser durch einen offenen NoSurf-Discord, in der Hoffnung, hier nützliche Infos zu finden, wie man am besten mit Kommunikationsgefällen umgehen konnte, die auf unterschiedliche Device-Nutzung rückzuführen war. Es gab einen Post zu how the internet affects our friendships. Das Problem adressierten einige der Foren-Nutzer. Die meisten berichteten im Zuge ihrer Social-Media-Reduktion davon, sich sozial ausgegrenzt zu fühlen. Malachite Flower schrieb, dass er seine gesamte Jugend nur mit Freunden, die er erst in WoW-Gilden und später in Dota2-Lobbys kennenlernte, digital verbracht hatte und es für ihn die größte Herausforderung war, in der echten Welt mit Leuten zu sprechen. 0_pray antwortete mit einem Videoupload, auf dem ein Netz-Aussteiger Tipps gab, wie man am besten in der echten Welt Freundschaften schloss. Der erste Tipp war: Öfter lächeln.
Ich machte meinen Computer wieder aus.
Am Freitag schickte ich das erste Mal ein paar ernst gemeinte Bewerbungen raus. Das Jobcenter hatte mich bisher weitgehend in Ruhe gelassen, hin und wieder schickte mir Loretta Kierspel eine Stellenausschreibung, die auf mein Profil passte. Viele davon waren befristete Stellen an kulturwissenschaftlichen Fakultäten. Bisher hatte ich mich nur für Stellen beworben, bei denen ich im Bewerbungsprozess nicht berücksichtigt werden würde. Eine Germanistik-Professur in Freiburg oder eine 65 %-WiMi-Stelle bei einem Forschungsprojekt, bei dem es um die digitale Kartografierung von Literaturarchiven ging — ich konnte weder programmieren, noch hatte ich andere Qualifikationen in den Digital Humanities vorzuweisen, aber aus dem Bereich kamen die meisten Ausschreibungen.
Ich wollte mich für eine Stelle in einer Versicherungsgesellschaft bewerben, die nicht genauer betitelt war, außer dass man einen Masterabschluss brauchte und Organisationsfähigkeit mitbringen sollte. Außerdem für eine Stelle, in der es um Recherchearbeiten in einer NGO ging, die sich mit Data und Smart City Governance auseinandersetzte. Im Grunde reizte mich am meisten die Teilzeitstelle in einer Salumeria. Bei der Versicherungsgesellschaft bewarb ich mich dann doch nicht, weil alle Mitarbeitenden mit einem Profilfoto auf der Webseite gelistet waren.
Als ich gerade das Bewerbungsschreiben in den Mülleimer zog, klingelte mein Handy. Der Name meines Bruders wurde angezeigt. Eigentlich rief er nie an. Ich rechnete damit, dass es um ein akutes Problem mit einer Maskenregelung im Regionalverkehr gehen würde, er hatte mir in letzter Zeit öfter Fragen zum 9-Euro-Ticket gestellt. Es ging aber um Oma A.
*
Mit dem Nahverkehr brauchte man achteinhalb Stunden von Berlin bis nach Laufdorf. Es machte mir nichts aus, so lange unterwegs zu sein. Ich saß seit vier Stunden im Regio und schaute aus dem Fenster. Auf meinem Schoß lag mein Kalender, ich hatte mir alle Züge mit Nummern, Abfahrts- und Ankunftszeiten sowie dem jeweiligen Gleis aufgeschrieben. Das 9-Euro-Ticket hatte mir Online-Buchungsverfahren und eine allzu genaue Planung abgenommen. Ich stieg um sieben Uhr dreißig in den Zug nach Magdeburg. Von Magdeburg ging es nach Sangerhausen. Dann von Sangerhausen nach Kassel-Wilhelmshöhe. Den Anschlusszug in Kassel-Wilhelmshöhe verpasste ich, weil ich den Gleiswechsel zu spät bemerkte. Die HLB fuhr direkt vor meiner Nase weg. Der nächste Zug nach Frankfurt Süd kam erst in einer Stunde. Ich nahm die Rolltreppe hoch zur Bahnhofshalle, meinen Fischerhut steckte ich in meine Handtasche. Eigentlich wollte ich mir einen Erdbeer-Milkshake bei McDonald’s holen, aber der Bahnhof war voller exzentrisch gekleideter Leute aus dem Kunstbetrieb, die wegen der Documenta hier waren und sich fotografierten. Ich wartete in einem der Zeitschriftenläden, blätterte die Brigitte durch und kaufte mir einen Energy-Drink von OK!. Meiner Oma kaufte ich eine Häkel- und Strickzeitschrift, eine Zeitschrift über Sylt, eine über die letzten Urwälder Deutschlands und eine Packung TicTac. Sie mochte die orangefarbenen lieber als die weißen.
Als ich zum Gleis gehen wollte, fand oben vor der Bäckerei eine Guerilla-Performance statt. Sie beinhaltete polemische Nazi-Referenzen, offenbar sollte damit das Documenta-Planungsteam kritisiert werden. Ich wusste, dass es einen Konflikt wegen Antisemitismus gab, Senta hatte mir davon erzählt, als sie vor zwei Tagen bei mir gewesen war, aber ich kannte die Hintergründe nicht so richtig. Nachdem ich ihr geschrieben hatte, dass meine Großmutter operiert wurde, hatten sich unsere Spannungen aufgelöst. Sie schrieb mir heute die dritte SMS, um zu fragen, wie es mir ging. Tut mir wirklich leid mit deiner großmum. — alles ok, grade in kassel, textete ich zurück. Ich fühlte mich sicher, weil sie da war — zumindest via SMS aus Berlin.
Ich wusste nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass eine 81-jährige Frau mit Arthrose bei einer Hüft-OP starb. Ich vertraute darauf, dass Oma A. zäh genug war, sie hatte eine Thrombose, Gebärmutterhalskrebs und komplizierte Brüche ihres Handgelenks überstanden. Die Ärztin hatte gesagt, dass sie gut durch die OP kommen würde und wieder gänzlich fit werden könnte, insofern sie ihre Reha-Maßnahmen wahrnahm. Vielleicht war ich auch zuversichtlich, weil ich die Risiken nicht gegoogelt hatte.
Ich dachte an die Kryokonservierungstanks, in denen gefrorene Menschenkörper schwebten. An all die Timelines und Profilfotos von Leuten, die gestorben waren und nicht gelöscht wurden, weil sich entweder niemand darum kümmerte, Todesurkunden einzureichen, oder sie zu digitalen Gedenkstätten wurden, so wie die Facebook-Seite von Nickis Cousin, der mit Anfang zwanzig ohne Vorwarnung an einer Lungenembolie gestorben war.
Seit ich aufgehört hatte, Krankheiten zu googeln, wirkten potenzielle Gehirntumore und Parasiten, die seit Jahren unbemerkt in meinem Dünndarm hausen könnten, zwar nicht weniger furchteinflößend auf mich, aber ich dachte seltener daran.
Wie oft hatte ich heimlich Anomalien an Nickis Körper in mein iPhone eingegeben. Die dünnen, lilafarbenen Adern hinter seinem rechten Ohr — Blutgerinnsel und/oder Gehirntumor. Das Muttermal an seinem Rücken, das er sich an einer Mauer abgerissen hatte, als er mein Rad aufgepumpt hatte — abgerissene Muttermale können zur Wucherung und schließlich Hautkrebs führen. Die Nebenwirkungen von Fluoxetin — in den ersten Wochen erhöhte Fluoxetin paradoxerweise das Suizidrisiko. Leute auf Antidepressiva wurden auf einmal aktiv, sie waren in der Lage, aus dem Bett aufzustehen und Entscheidungen durchzuziehen. In der ersten Woche folgte ich ihm einmal heimlich zum Hafen, ich beobachtete ihn dabei, wie er sich auf eine Bank setzte und Pistazien aß, jederzeit bereit, loszurennen, um ihn davon abzuhalten, sich im Brackwasser zu ertränken.
Ich kam erst gegen Abend im Krankenhaus an. Oma A. lag im zweiten Stock, sie war gestern noch mal verlegt worden. Sie wirkte blass, aber klar, als ich ins Zimmer kam. Sie lag links, am Fenster, und begrüßte mich mit einer dieser nietzscheanischen Weisheiten, die ich schon immer unhaltbar fand: was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Auf ihrer rechten Hand befand sich ein Bluterguss, außerdem hatte sie einen Verband um ihr Handgelenk. Sie machte Witze darüber, dass sie jetzt, wo ich die Maske trug, gar nicht einschätzen konnte, ob ich schon wieder abgenommen hatte — ihre größte Angst war, dass ich nicht genug aß und meine Brüste weiter an Volumen verloren. Ich desinfizierte meine Hände, setzte mich auf den Stuhl neben ihrem Bett und griff nach ihrem Arm. Sie meinte, dass ich gerade Angelika verpasst hatte. »Wie geht es der denn?«, fragte ich. Es war eine von Oma A.s Freundinnen, die sie seit der Grundschule kannte und die das Dorf, in dem sie beide geboren waren, nie verlassen hatte. Sie hatte letztes Jahr einen Bypass bekommen, fuhr aber immer noch Auto. »Ich sag ihr ständig, dass sie nicht so viel rauchen soll. Du rauchst doch nicht, oder hast du angefangen?« Ich versicherte ihr, dass ich noch nie geraucht hatte. Daraufhin erzählte sie mir die Geschichte, wie ich als Neugeborene in einer Wiege lag und von allen Familienmitgliedern eingequalmt wurde. »Sie standen alle um dich herum mit ihren Zigarettchen, dein Onkel, dein Vater, deine Mutter, alle haben damals geraucht. Und du hast gehustet. Wie ein Igel klang das.« »Wenn ich schon eine Raucherlunge hab, kann ich eigentlich auch anfangen«, sagte ich. Das brachte sie immerhin zum Lachen. Ich blieb eine halbe Stunde. Wir besprachen ihren Unfall, sie erzählte zwei Mal, wie sie die Tupperdose oben aus dem Schrank holen wollte und vom Hocker gestürzt war. Ich nahm mir vor, den Hocker zur Mülldeponie zu bringen und ihr eine sichere Trittleiter zu besorgen, ohne ihr etwas davon zu sagen. Dann sprachen wir über meinen Bruder, seine Impfaversionen, dass er seit Monaten nur das Haus verlassen hatte, um mit dem Hund rauszugehen. Sie äußerte mehrfach, es sei in Ordnung, wenn sie bald sterben würde — »Noch einen Krieg mach ich nicht mit«, sagte sie. Oma A. sympathisierte dabei mit Putin. Das überraschte mich. Als ich klein war, hatte sie uns oft erzählt, wie sie mit ihren Cousinen aus Oppeln geflüchtet war und diejenigen, die dageblieben waren — ihre ältere Schwester, ihre Tante —, von russischen Truppen missbraucht worden waren. Auf diesen traumatischen Erlebnissen fußte die Gesamtheit ihrer Xenophobien. Dass sie jetzt Putins Kriegsbestrebungen als notwendige Maßnahmen kategorisierte, fand ich verstörend. »Sag deinem Bruder nicht, dass ich geimpft bin«, schärfte Oma A. mir ein, als ich ankündigte, zu gehen, um noch den letzten Bus zu erwischen. Sie bat mich, ihr noch mal das Trinkpäckchen zu reichen. »Du bist also geimpft?« »Natürlich bin ich geimpft.« Wenn ich morgen wiederkam, sollte ich ihr iPad mitbringen.
Mein Bruder hatte mir eine Isomatte und einen Schlafsack in den Keller geräumt. Ich wollte ihn kurz begrüßen, aber die Tür zum Flur war abgeschlossen, er meinte es also ernst mit den Spike-Proteinen. Ich packte meinen Rucksack neben die Waschmaschine und duschte in dem kleinen, braun gefliesten Bad, neben der ehemaligen Werkstatt meines Großvaters. Ich wollte Senta eine SMS schreiben, um ihr mitzuteilen, dass ich gut angekommen und Oma A. so fit war, dass sie Witze über ihre Schweißfüße machte. Hier unten gab es jedoch keinen Empfang. Entweder waren die Wände zu dick, oder der Keller lag zu tief unter der Erde.
Um kurz nach elf schaltete sich der Boiler ein. Danach hörte ich Wasser rauschen, wahrscheinlich duschte mein Bruder oben im Dachgeschoss. Ich lag mit dem Kopf neben den Kartoffeln auf der Isomatte. Es fiel mir schwer, alles, was ich heute erlebt hatte, loszulassen. Die Aussicht, mehrere Tage auf dem klammen Kellerboden zu schlafen, baute mich auch nicht gerade auf. Ich dachte über die letzten Male nach, an denen ich in Hessen gewesen war. Sonst besuchte ich meine Oma und meinen Bruder immer nur zwei, höchstens drei Tage, um dann nach Frankfurt weiterzufahren und bei Ida zu übernachten. Ihre Wohnung war immer warm, aufgeräumt und roch nach Räucherstäbchen, nicht übertrieben, sondern so wie in einem luxuriösen Beautysalon. Sie legte für ihre Übernachtungsgäste jedes Mal eine Schlafbrille, ein kleines und ein großes Handtuch raus. Morgens gab es Haferdrink im Kühlschrank. Ich schätzte, dass mir mein Bruder morgen früh keine Brötchen und Croissants vor die Tür stellen würde. Ich hatte plötzlich Lust, Ida zu besuchen und nicht mehr allein zu sein.
Als ich kurz davor war einzuschlafen, gluckerte der Abfluss, der sich in der Mitte des Kellerraums befand. Ich stand noch mal auf, um einen Eimer darüber zu stülpen. Ich öffnete einen der Schränke und suchte nach einer Decke, fand aber nur zwei von Oma A.s Pelzmänteln. Ich legte den, der weniger staubig aussah, über den Schlafsack. Danach schlief ich endlich ein.
*
Ich verbrachte knapp zwei Wochen in Laufdorf. Entweder rief ich morgens meine Oma an oder fuhr direkt nach dem Aufstehen mit dem Rad zum Krankenhaus hoch. Ich brachte ihr große Mengen Fertig-Vanillepuddings, die waren das einzige, was sie gerade zu sich nehmen wollte. In der Zwischenzeit suchte ich Badestellen. Mit Senta telefonierte ich täglich. Sie hatte einen neuen Freelance-Job an Land gezogen und rief mich an, wenn sie ihren zweiten Espresso kochte. Wir nannten das Check-ins — kurze, regelmäßige Telefonate, die nicht länger als zehn Minuten dauerten und uns beide weniger stressten als SMS oder Briefe. Die Idee, Briefe zu schreiben, hatte Senta in einem Anfall viktorianischen Taumels, der durch die Netflix-Verfilmung von Persuasion ausgelöst worden war. Ich hatte bisher zwei Briefe geschickt, Senta keinen. Sie wirkte durch ihren neuen Freelance-Job gefordert, aber gut gelaunt. Abends traf sie sich mit einem 22-Jährigen, der ihr nachts Komplimente über Telegram machte, oder besuchte eine Yogaklasse, die Escalade: Embodied Groove hieß. Improvisationskurse, die somatische Empfindungen in einem fun&easy-Kontext kultivieren sollten, versetzten mich immer in Schrecken, auch wenn gar nicht ich, sondern Senta dorthin musste. Ich kaufte mir einen Reiseführer für Radwege in Mittelhessen und fragte in der Touristeninformation nach, ob es auch eine Karte gab, in der Schwimmgelegenheiten eingetragen waren. Ich graste die ganze Region ab, das Dillufer, das Lahnufer, einmal Richtung Limburg, dann wieder in Richtung Butzbach. Mit dem Fahrrad meines Bruders, das er seit Jahren nicht mehr benutzt haben musste, suchte ich erfolglos nach einem See, der laut Karte hinter der Burg Greifenstein liegen sollte. Dafür fand ich den bei dem Steinbruch wieder, an dem ich als Teenie öfter gewesen war — mitten in einem Naturschutzgebiet, am Ende eines unscheinbaren Waldweges. Das Wasser war an den Rändern hellblau und lief in der Mitte zu einem schwarzen Loch zusammen. Es war verboten, hier zu schwimmen. Mir fiel sofort ein, dass meine Mutter früher immer von starken Strömungen gesprochen hatte — einmal hatten die wohl jemanden in ein unsichtbares Höhlensystem gesaugt, das hier unterhalb des Sees lag. Dass es Strömungen gab, glaubte ich ihr, dass jemand gestorben war, hatte sie sich ausgedacht, damit wir hier nicht schwammen. Ich folgte dem Zaun nach links, er war noch an der gleichen Stelle runtergetreten wie früher.
Das Wasser war eiskalt, meine Sicht reichte bis auf den Grund. Ich schwamm nur im Uferbereich, um sicherzugehen, nicht in eine der ominösen Strömungen zu geraten. Auf einmal erschien Sterben wie ein banaler Schritt, wenn ich jetzt einen Krampf bekäme, wäre niemand hier, um mich aus dem Wasser zu ziehen. Wenn Oma A. eine Thrombose entwickeln würde, die in ihr Herz wanderte, und der Pfleger nicht schnell genug bei ihr wäre, weil er gerade einen Urinbeutel wechselte, einen Katheter setzte, einen Apfel viertelte — würde sie niemand wiederbeleben können.
Könnte mein Körper je geborgen werden, wenn ich ins Innere des Steinbruchs gesaugt werden würde? Körper verschollen, Geist in verschiedenen Chatverläufen gefangen. Ich schrieb meinem Bruder eine SMS. Bin am steinbruch, FYI. Er textete zurück: Da kann man ertrinken. Dann noch: Pass auf. Ich hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit weniger über Impfstoffe, die Maskenpflicht und die Maßnahmen von Lauterbach redete.
Nach ein paar Tagen war mein Bruder bereit, sich mit einem Abstand von drei Metern zu mir in den Garten zu setzen. Ich saß auf einem der klapprigen Liegestühle aus Plastik, die Unterseite war gelb verfärbt. Mein Bruder saß auf einem Klappstuhl, den er aus seinem Dachbodenzimmer heruntergebracht hatte. Er sah alt aus, erwachsen, überhaupt nicht so wie mein Bruder. Er hatte sich nicht rasiert und trug eine Daunenweste, für die es viel zu heiß war. Ich versuchte Gesprächsthemen zu finden, die nichts mit Corona, Impfen, impfinduzierten Herzmuskelentzündungen, Attila Hildmann oder der Spanischen Grippe zu tun hatten. Was gut funktionierte: Ernährung, Sporttraining, Oma A.s Gesundheitszustand und Schadstoff- und Strahlenbelastung. In das Thema war mein Bruder eingestiegen, nachdem die Nachbarn einen Marderschreck aufgestellt hatten. »Der steht hier vorne an der Treppe«, meinte er und deutete an, dass ich ihm folgen sollte, aber mit Abstand. Wir gingen halb ums Haus herum und stoppten vor dem Sichtschutz. Mein Bruder zeigte mir einen Kasten, der auf den Zaun der Nachbarn geschraubt war und zum Haus von Oma A. zeigte. »Und das Ding verscheucht Marder?« »Das funktioniert über ein hochfrequentes Geräusch. Du hörst das nicht, oder was?« Wir waren für einen Augenblick still. Ich hörte Blätterrauschen. Das Klirren von Geschirr aus der Küche des Nachbarhauses. Gackernde Hühner im Hinterhof der Schlachterei. Ein vorbeifahrendes Auto. Ein hochfrequentes Geräusch hörte ich nicht. »Vielleicht bin ich zu alt?« Nicki hatte mal davon angefangen, er würde in der U-Bahn-Station Marktplatz ein hochfrequentes Geräusch hören, das die Stadt hier per Lautsprecher einspielte, um Teenager fernzuhalten. Wenn man älter wurde, verlor man die Fähigkeit, es wahrzunehmen. Wie konnte es sein, dass mir Nickis Behauptung nie absurd vorgekommen war? Wahrscheinlich war ich an solche Geschichten schon durch meinen Bruder gewöhnt. Vielleicht war ich aber auch einfach schon immer empfänglich für so was gewesen — letztlich war ich diejenige, die sich aus dem Internet gelöscht hatte; und selbst mein Bruder fand, dass das paranoid war. Ich fragte meinen Bruder, ob ich sein iPhone ausleihen konnte, um was nachzugucken. Er wollte es mir nicht geben, aus Angst, ich würde es mit Spike-Proteinen verseuchen. »Kannst du googeln, ob es in der U-Bahn-Station Marktplatz ein hochfrequentes Geräusch gibt, das Teenager fernhalten soll?« »Wie soll ich das googeln?« In dem Moment fiel mir auf, dass mein Bruder Wörter ähnlich betonte wie Nicki, es lag daran, dass er beim Sprechen seinen Mund nicht weit genug aufmachte. Ich warf ihm ein paar Schlagworte hin. U-Bahn-Station Offenbach Marktplatz hochfrequentes Geräusch. Die Suchbegriffe führten zu Artikeln von vor zwei Jahren, in denen von Maßnahmen der Bahn gesprochen wurde, Zukunftsbahnhöfe zu testen — einer davon war die Station Marktplatz. Hochfrequentes Geräusch ergab keinen Treffer. Wir variierten die Begriffe etwas, landeten jedoch nur auf Seiten, in denen es um Sound-Projekte ging, so was wie »24 Stunden Geräusche in der U-Bahn« von einem Studierenden der HfG.
Ich setzte mich wieder auf den Liegestuhl. Um mich vor der Sonne zu schützen, zog ich meinen Fischerhut tiefer ins Gesicht. »Vielleicht haben die die Informationen rausgenommen«, sagte mein Bruder. Ich merkte, dass es mir irgendwie egal war, ob Nicki psychisch labiler gewesen war, als wir es uns damals eingestanden hatten. Mein Bruder erklärte mir, dass es Leute gab, die über ihre Zahnprothesen Radiofrequenzen erhielten und den ganzen Tag Stimmen hörten. In dem Zusammenhang fiel mir ein, dass bei Anita Hautkrebs am Ohr entdeckt worden war, nachdem sie für ein paar Monate jeden Tag mit dem iPhone 9 telefoniert hatte. »Vielleicht ist das so wie vor hundert Jahren«, sagte ich. »Als Röntgenstrahlen erfunden wurden und die Leute so Apparaturen hatten, wo sie ihre Hände reinsteckten, um aus Spaß ihre Knochen anzuschauen. Und dann hatten sie alle Krebs.« Ich zeigte ihm alle Features meines Dumbphones. »Vielleicht sondert das noch mehr Strahlung ab als die neuen Geräte«, meinte mein Bruder dazu. Ich bat ihn, das später für mich zu googeln.
Als ich abends mit meinem Kopf neben den Kartoffeln lag, schaltete ich das Handy nicht auf lautlos, sondern ganz aus.
Anfang Juli wurde Oma A. aus dem Krankenhaus entlassen. Ich trug ihre Reisetasche und lotste sie in ein Taxi, das sie zuerst nach Hause und zwei Tage später in die Reha-Klinik am Aartalsee bringen sollte. Dort würde sie die nächsten drei Wochen daran arbeiten, ihr Becken und ihre Hüfte zu remobilisieren. Ich fuhr mit, um mich um das Gepäck zu kümmern und ihr zu helfen, sich in ihrem Zimmer einzurichten. Ich hielt es außerdem für klug, den Pflegekräften mitzuteilen, dass sie die ganze Nacht wach liegen und Pflegepersonal ins Zimmer klingeln würde, wenn sie mehr als einen Filterkaffee am Tag trank. Das hatte sie letzte Nacht mit mir gemacht: Zuerst wollte sie wissen, wie man Beiträge vom hr hören konnte. Dann, wie sie politisch gegen Pop-up-Radwege vorgehen könne, weil sie befürchtete, dass sich die Länge der Busfahrt in die Stadt bald verdoppelte. Um drei Uhr nachts nahm ich das Gerät mit runter in den Kartoffelkeller.
Wir fuhren eine halbe Stunde durch Felder, Industrieareale, Wälder, eine langgezogene Brücke, unter der ein ausgetrocknetes Flussbett klaffte. Die Klinik lag direkt am See. Es war ein grauer Betonbau, der aber von Rhododendren und Apfelbäumen umgeben war. Oma A.s Zimmer war im Erdgeschoss. Es war mit weiß gestrichenen Möbeln eingerichtet, eher IKEA als Krankenhaus. Es gab einen Kühlschrank und einen Fernseher. Die Klimaanlage rauschte leise. Ich half ihr mit dem Rollator. Den Läufer, der vor der Badezimmertür lag, stufte ich als Stolperfalle ein, faltete ihn zusammen und legte ihn in die unterste Schrankschublade, auf einen flachen Stapel Badezimmerteppiche. Ich setzte mich auf den Rattansessel neben dem Fenster. Oma A. ließ sich auf das hohe Bett fallen. In ihrem aprikotfarbenen Jersey-Outfit war ihr zu heiß. Sie hatte Schweißflecken unter den Armen. Sie fragte, ob ich ihr ein Tempo oder ein Stück Küchenrolle besorgen konnte. Als ich ihr ein Stück Klopapier reichte, rechnete ich mit Protest, aber sie wischte sich unbeeindruckt die Stirn ab und legte es zur weiteren Verwendung auf den Nachttisch. Danach bat sie mich, die Klimaanlage auszustellen. »Ich krieg davon Zug«, sagte sie und deutete auf den Lüftungsschlitz. Ich deaktivierte die Klimaanlage an dem Regler neben der Toilette und versuchte die Terrassentür zu öffnen. Sie bewegte sich nicht. Immerhin ging das mittlere Fenster auf. Ich öffnete es ganz, sodass heiße Luft hineinströmte. »Sicher, dass dir das nicht zu heiß wird? Oder dass dich dann die Fliegen stören?« »Hast du die Fliegenklatsche eingepackt?« Ich öffnete eine der Reisetaschen und holte ihre neongrüne Fliegenklatsche raus. Als ich noch jünger war, hatte sie oft Schmeißfliegen in der Luft zwischen Daumen und Zeigefinger gefangen. Heute jagte sie die Fliegen, die in ihrer Küche herumschwirrten, lieber mit einem Hilfsgerät. Sie jauchzte jedes Mal, wenn sie eine erwischte — es schien ihr wirklich Spaß zu machen. Oma A. ging nicht auf die Fliegen ein. Stattdessen sagte sie: »Dann ist es ja nur ein halbes Gefängnis.« Sie meinte die geschlossene Terrassentür. »Was, glaubst du, gibt es hier so zu essen?«, fragte ich sie. Die mitgebrachten Kekse packte ich auf das Regal über dem Wasserkocher. Dann räumte ich die Tütensuppen ein, Hochzeitssuppe, Grießklößchensuppe, alles außer Hühnersuppe, die mochte Oma A. nicht. Ich fragte sie, ob ich ihre Pullover aufhängen oder in das Schrankfach einsortieren sollte. »Gibt es Leute, die ihre Pullover aufhängen?«, fragte sie. »Ich häng manchmal meine auf, wenn ich nicht genug Platz in der Kommode hab.« Das fand Oma A. sonderbar. Nachdem alles verstaut war, wurde Oma A. langsam gelöster. Wir redeten ein bisschen über ihren Gesundheitszustand, dann über meinen Bruder, sie machte sich Sorgen, wegen seines Corona-Fanatismus und weil er immer allein war. Vor allem beunruhigte sie, dass sie nicht wusste, was aus ihm werden würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Oma A. war immer seine Bezugsperson gewesen, sie konnte mit ihrer handfesten, pragmatischen Art gut mit ihm umgehen. Selbst jetzt sah sie ihm nach, dass er sie nicht im Krankenhaus besuchte, weil er sich nicht testen lassen wollte. Der Gedanke, wie er einmal allein in dem großen Haus wohnen würde, bedrückte sie. Sie fühlte sich hilflos in diesem Punkt, und Hilflosigkeit führte bei Oma A. zwangsläufig zu Wut. Diesmal projizierte sie ihren Zorn auf das Krankenhauspersonal. Oma A. mutmaßte, dass die Impfregularien hier im Krankenhaus dafür genutzt wurden, weniger Leute aufzunehmen. »Warum genau?« »Woher soll ich wissen, warum Krankenhausverwaltungen irgendwas tun. Um mehr Geld zu verdienen wahrscheinlich.« Ich wollte mich nicht mit ihr streiten.
Wir nahmen den Rollstuhl, den jemand vor ihrer Zimmertür geparkt hatte, und ich schob sie nach draußen durch den Klinikpark bis zum See. Am Ufer wuchs Schilf, auf der gegenüberliegenden Seite badeten ein paar Jugendliche. Oma A. machte ein paar Witze darüber, dass sie jetzt wie ein gestrandeter Wal in den See zurückgeführt werden würde. Der See war grünlich braun und wirkte so, als wäre er gekippt. Am Ufer hatten sich Algen gebildet.
»Kannst du mir noch einen Gefallen tun?«, fragte Oma A.
»Was denn?«, fragte ich.
»Komm mal her«, sagte sie. Sie drehte ihr iPad um und versuchte es mit beiden Händen nach oben zu halten, um ein Selfie von uns zu machen. Sie fand den Auslöser nicht und fing an zu zittern. Ich nahm ihr das iPad ab.
Oma A. hatte noch nie versucht, ein Selfie von uns zu machen. Ich hatte das Gefühl, dass sie fest damit rechnete, bald zu sterben. Auf einmal spürte ich einen Kloß im Hals. Wenn das Foto vor dem See unser letztes gemeinsames Bild sein würde — wie könnte ich vor mir rechtfertigen, mich aus Prinzip geweigert zu haben, weil Oma A. früher oder später einmal in einen iCloud-Leak involviert sein könnte? Sie vergaß immer wieder, wie man Chrome benutzte, öffnete wahllos Programme oder drückte wiederholt enter, wenn sich Seiten nicht schnell genug aufbauten. Einer von Oma A.s potenziellen Internetunfällen konnte zu einer Inversion dieser digitalen Mythen werden, in denen Kinder ihre Eltern in den Bankrott trieben, weil sie für sechsstellige Beträge Fortnite-Skins kauften. Dann gab es noch die Möglichkeit, dass sie hier auf der Kur eine Pflegekraft bitten könnte, ihr einen Facebook-Account einzurichten. Wahrscheinlicher war aber, dass sie im Dampfbad eine Frau mit lila gefärbten Haaren kennenlernte, die sie dazu motivieren würde, einen Parship-Account zu eröffnen und das sympathische Foto mit ihrer Enkelin als Profil-Foto zu nutzen. Eine Vorstellung, die in mir den Impuls auslöste, das iPad auf dem Schotter zerschellen zu lassen. Meiner Oma abzuschlagen, ein letztes Selfie mit ihrer Enkelin zu machen, brachte ich trotzdem nicht über mich.
Oma A. räusperte sich. Ich rollte sie zum Wegrand. Ich drehte den Rollstuhl einmal um, offensichtlich fand Oma A. den See als Hintergrund besser als das graue Klinikgebäude. »Achtung«, sagte sie, als sich ein Schotterstein unter dem Rad verklemmte und ich zwei Mal vor und zurück schieben musste, »nicht, dass wir hier runterrollen.« Sie hatte da eine Sendung drüber gesehen. Viele junge Frauen starben hinter dem Steuer, weil sie sich auf dem Weg zu Partys fotografierten, meinte sie. Junge Männer starben eher auf Klippen, Bergen oder — das schien sie am meisten zu beunruhigen — auf Gerüsten. »Sag deinem Bruder, er soll nicht auf Gerüste klettern«, sagte sie. »Ich glaube, über Gerüste müssen wir uns keine Gedanken machen«, sagte ich und dachte an die Fitness-Ausrüstung in ihrem Gartenhäuschen, von der sie bestimmt nichts wusste.
Ich machte das Foto von uns.
Oma A. mochte es, weil sie darauf jünger aussah. Unsere Augen lagen im Schatten unserer Hüte. Ich fand, dass wir grimmig wirkten. Ich sagte ihr nicht, dass uns der integrierte Kamerafilter verjüngte. Direkt neben Oma A.s Kopf schwammen zwei Personen im Wasser. Eine davon schaute direkt in die Linse des iPads. Ich zoomte auf das Gesicht. Es war eine Frau mit hellblauen Augen. Sie hatte einen fragenden Gesichtsausdruck.
*
Ich fuhr nicht direkt nach Berlin zurück, sondern nach Offenbach, um Ida zu besuchen. Sie hatte mir angeboten, im Zimmer ihrer Mitbewohnerin zu wohnen, die gerade im Urlaub war. Sie verlangte dafür kein Geld. Im Regio schrieb ich Senta, ob sie Zeit habe, meine Pflanzen zu gießen. Leider nein, zufälligerweise saß sie gerade selbst im Zug, auch in Richtung FFM. Sie nahm spontan an einer Ausstellung von HfG-Freunden im Gallusviertel teil, wusste aber noch nicht, was sie zeigen sollte — gar kein Bock, glaube, ich lass einfach ein KI-Bild generieren und druck es aus. Hauptsächlich war sie da, um ihre Wohnung im Reuterkiez zu AirBnB-Preisen unterzuvermieten, während sie hier in Offenbach für zwei Wochen kostenlos in ihrer alten WG unterkam und dann im August nach Norwegen flog. Sie konnte nicht verstehen, warum ich das nicht auch machte, wahrscheinlich hättest du über zweitausend Euro verdienen können, schrieb sie. Dafür hätte ich ein Inserat schalten und Fotos hochladen müssen — Horrorvorstellung, dass Bilder von meinem privaten Lebensraum irgendwo auf Immoscout gespeichert waren und Fremde in mein Bücherregal zoomen konnten, um unbemerkt meine Vorlieben zu kartografieren und daraus Charaktereigenschaften abzuleiten. Im schlimmsten Fall könnte jemand die jpgs für die Ewigkeit auf einer externen HD archivieren. Allein der Gedanke, das in eine SMS zu verpacken, die nicht paranoid klang, machte mich sofort müde. Ich verabredete mich stattdessen mit Senta in kryptischem SMS-Text zu morgen 12:00, fishbags bei Mare Azzurro. Ich hatte keine Lust mehr zu texten.
Ida wohnte in einer Neubauwohnung am nördlichen Ende des Mathildenviertels. Ich war seit zwei Jahren nicht mehr hier gewesen, trotzdem fühlte es sich so vertraut an wie früher. Im Treppenhaus roch es immer noch nach in die Jahre gekommenem Neubau und Putzmitteln, an der Wand standen die gleichen Rennräder, verbunden durch ein Bügelschloss. Ida wartete, so wie immer, im Türrahmen. Sie trug kurze Sportkleidung, neu war nur ihre Frisur. Ich merkte, dass ich sie vermisst hatte. Ich hatte all das hier vermisst, die Geräusche der Bismarckstraße, auf der Leute Plastikstühle hin und her rückten, den Geruch nach Räucherstäbchen, der vom pakistanischen Supermarkt hochwehte. Wir umarmten uns. Ida hatte heute verschiedene Druckereinotfälle in der Agentur bewältigt und fragte, ob wir direkt um die Ecke Aperol Spritz trinken wollten. In der Bar bestellte ich dann eine Kirschschorle und Süßkartoffelpommes. Ida trank zwei Drinks und verzichtete auf Essen. Dabei gab sie mir ein Offenbach-Update. Den Off-Space am Main gab es nicht mehr, weil er wegen Großbauarbeiten im Hafenviertel abgerissen worden war, zusammen mit den Gärten, die die Anwohner dort am Ufer bepflanzt hatten. Max hatte ein Tinder-Kind bekommen und wohnte jetzt in Darmstadt. Er machte gerade sein PJ in der Neurologie. Zwei Verlobungen hatten sich aufgelöst. Santos und Lenny, seit Ewigkeiten befreundet, waren endlich ein Liebespaar. Dino war von Mexiko-Stadt nach Berlin zurückgezogen und fünf Monate später wieder zurück nach Mexiko-Stadt, weil er keine Wohnung fand. Lars arbeitete jetzt als Kunstlehrer, weil er in der Pandemie keine DJ-Gigs mehr bekommen hatte. Am skurrilsten fand ich, dass Lisa zwei Mal in der Woche Christians Loft putzte. Ich traute ihr zu, dass es als Kunstprojekt gemeint war, die Observierung der Intimsphäre eines Unternehmensberaters, à la Sophie Calle. Dann gab es noch die erschreckende Nachricht, dass André gestorben war. Ob es Suizid oder zu viel G gewesen war, wusste man nicht. »Heftig«, sagte ich und klang wie Senta.
Ida meinte, dass ihr letztens in einem Jahresrückblick ein Foto von uns dreien angezeigt worden war. Sie brauchte einen Moment, bis sie es fand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir jemals ein Selfie mit André gemacht hatten. Wir standen auf der Terrasse vom Robert Johnson, hinter uns saßen die anderen, eine Gruppe von Menschen, die alle gut aussahen, darunter auch Nicki und Senta. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie damals viel unscheinbarer gewirkt hatte, sie kam mir neben den anderen fast vor wie eine graue Maus.
Idas Fotos reichten nur bis ins Jahr 2019 zurück, die davor hatte sie zusammen mit ihrem iPhone verloren. Ich fragte mich, in wie vielen Fotofeeds ich noch herumgeisterte. Vor allem Julie hatte in der Phase, in der er anfing, T-Shirts für das Offenbacher Studio zu designen, das zwischen 2016 und 2020 für diese Acid-Graphics bekannt war, obsessiv damit angefangen, alles und jeden abzulichten. Außerdem hatte ich selbst unzählige Bilder high an Leute verschickt, mit denen ich damals viel textete. Auf den Fotos stand ich meistens mit anderen Leuten in Toilettenkabinen und schaute nach oben in die Kamera.
Ich fragte Ida, ob sie die Fotos, auf denen ich drauf war, löschen konnte. Es ging nur um die Serie an gemeinsamen Selfies, die wir in der ominösen Clubnacht geschossen hatten. Sie ließ sich schließlich darauf ein, weil sie fand, dass man auf den Fotos ihre Zornesfalte zu stark sehen konnte — »würde ich sowieso nicht benutzen«, sagte sie.
In den nächsten drei Tagen erlebte ich mehr als in den letzten beiden Monaten zusammen. Vielleicht war das die Gesetzmäßigkeit von Urlauben oder Phasen, die man als Urlaub empfand — Zeit komprimierte sich auf angenehme Weise. Ida und ich holten uns Frozen Yoghurt und schauten The Virgin Suicides im Hafenkino. Wir trafen zufällig Lisa und Lilly, die in einem Strandkorb saßen und Äppler tranken. Ich kaufte mir ein Minikleid mit Blumenmuster. Wir besuchten Anja, um uns ihren Hundewelpen anzuschauen — ein Terrier-Mischling mit Pudel-Einschlag, der Bean hieß und auf meinem Schoß einschlief. Abends kifften wir auf dem Sofa und aßen M&Ms. Wir nahmen nahtlos unsere alten Routinen auf — mit dem einzigen Unterschied, dass Ida öfter ihren neuen Pony zurechtklopfte und ich mich jetzt wegdrehte oder zur Toilette ging, wenn Fotos für Storys gestaged wurden.
Am Freitagmittag trafen wir Senta bei Mare Azzurro. Im Gegensatz zu uns wirkte Senta angespannt und untypisch blass. Sie hatte sich in ihrer alten WG verschanzt, um allen Deadlines entgegenzuschreiben. Sie meinte, dass sie gerade on a roll sei und viel erledige, aber dafür die halbe Nacht mit irgendwelchen Leuten random auf Tinder schrieb, weil sie den Eindruck hatte, einen Ausgleich zu brauchen. »Gott sei Dank holt ihr mich da raus, auch wenn es nur für die Mittagspause ist.« Ich gab ihr ein Update über die letzten Tage. Ich hatte gerade Memoiren von Siri Hustvedt gelesen und erfahren, dass La Fontaine gar nicht von Duchamp, sondern einer Künstlerin stammte, die sich die Baronette nannte, Duchamp aber ihre Autorschaft annektiert hatte. »War dir das klar?«, fragte ich Senta und wollte von ihr wissen, ob sie schon in der Duchamp-Ausstellung gewesen war. Senta schüttelte den Kopf. In dem Moment kam unser Essen. Ich freute mich über die frittierten Sardinen. Senta fand, dass mir mein neuer Enthusiasmus gut stand.
Als wir aufbrechen wollten, bekam ich überraschenderweise meine Tage. Ich spürte es beim Aufstehen. Ich fragte Ida, ob sie eine Binde oder notfalls auch einen Tampon hatte. Sie benutzte den Menstruationscup. Ich stopfte Klopapier in meine Unterhose. Dann setzten auch die Bauchschmerzen ein, die normalerweise die Blutung ankündigten. Zuerst dachte ich, dass ich meine letzte Periode falsch eingetragen hatte, weil ich nie von meiner Menstruation überrascht wurde, aber als ich in der Tram meinen Kalender sichtete, merkte ich, dass sie wirklich fünf Tage zu früh waren. Seit ich keine Zyklus-App mehr hatte, trug ich meine Periode ganz hinten in der Jahres-Kalender-Auflistung mit Kreuzen ein. »Ist das nicht unpraktisch?«, fragte Ida. Sie hatte eine Zyklus-App, die ihr ausrechnete, wann sie hormonell am besten dafür aufgestellt war, Ideen zu entwickeln, Projekte nach vorne zu treiben, eine Gehaltserhöhung zu erfragen, sexuell am attraktivsten war, den Mann für Kinder oder den Mann für eine aufregende Nacht finden konnte, oder sich am besten mit einer Decke auf das Sofa zurückziehen sollte, um mit einem Kräutertee und einer Rom-Com Self-Care zu betreiben. An diesen Tagen sagte ihr die App, dass sie sich ein Stück Schokolade verdient hatte. Ich fragte, ob die Tipps mit Produktvorschlägen kamen. »Die sind alle regional, dadurch hab ich das hier gefunden«, sagte Ida und hielt eine Tafel Grüne-Soße-Schokolade hoch.
An dem Abend sah ich mir mit Ida auf ihrem Fernseher eine Netflix-Dokumentation über Roe vs. Wade an. Die Doku war gedreht worden, bevor der Präzedenzfall gekippt wurde und Abtreibung in den konservativ regierten Bundesstaaten der USA wieder illegal war. Senta hatte mir erzählt, dass es auf Insta einen Aufruf gegeben hatte, keine Zyklus-Apps mehr zu benutzen, damit nicht mehr nachvollziehbar war, ob man eine Abtreibung hatte oder nicht. Das bestätigte mich irgendwie in meiner Lebensweise. Auf meiner ehemaligen Zyklus-App gab es dieses riesige Loch, das 2017 zwischen Februar und Mai klaffte. In Kombination mit meinen Suchanfragen auf Google ließ sich herleiten, dass ich Ende Februar 2017 in einer Klinik im Westend mit der operativen Methode einen Schwangerschaftsabbruch hatte durchführen lassen. Weil ich erst in der fünften Woche war, hätte ich mich auch für das medikamentöse Verfahren entscheiden können, aber ich hatte Angst vor den Schmerzen. Als ich damals panisch Schwangerschaftssymptome gegoogelt hatte, wurden mir sofort Baby-Produkte angeboten. Windeln, Kinderwagen, Präparate, die man während der Schwangerschaft nehmen sollte, um den Folsäurewert zu optimieren. Nach meinem Termin in der Klinik wurden mir Dating-Apps angezeigt. Das fanden Nicki und ich damals beide skurril.
Ida nutzte nicht nur eine Zyklus-App, sondern auch die Health-App, um ihre Joggingdaten zu tracken. Sie trug alle Mahlzeiten mit Grammangabe in eine Kalorienzählapp ein, um »einen Überblick über ihre sportlichen Erfolge zu haben«. Sie hatte zwei Koch-Apps, die ihr jeden Tag Rezeptvorschläge auswarfen und nach individuellen Diätvorschlägen programmiert werden konnten. Sie hatte eine smarte, elektrische Zahnbürste, die ihr — auch per App — anzeigte, welche Partien sie sorgfältig putzte und welche Zähne sie öfter ausließ. Ida überprüfte außerdem, welche Zusatzstoffe in Lebensmitteln waren, indem sie via App Produktetiketten scannte. Sie zahlte ihre Einkäufe mit Apple-Pay via iPhone. Sie hatte ein Tee-Abonnement und erhielt einmal im Monat drei verschiedene Teesorten, darunter immer eine neue Sorte, die sie über die App ranken konnte. Selbst Bücher bezog sie über einen Dienst: alle vier Wochen eines, auf ihre Interessen zugeschnitten, die bei der Anmeldung in einem Fragebogen erfasst worden waren. Wenn sie in der Küche Musik über Spotify hörte und dann ins Bad ging, folgte ihr der Sound über die mit der Cloud verbundenen Boxen. Ihr Datingleben war über Tinder und OkCupid dokumentiert. Ihre Freundschaftsverhältnisse und sozialen Gefüge wurden über Chats erfasst. Jeden zweiten Tag nahm ich ein Paket an. Von Amazon Prime. Momox. Zalando. Cos. Douglas. Ich fragte Ida, ob sie bald vielleicht wieder eine Paula’s-Choice-Bestellung aufgab und in dem Zug zwei Mal den 2 % Skin Exfoliant für mich mitbestellen könnte. Seit ich aufgehört hatte, bei der Marke zu bestellen, war meine Haut wieder schlechter geworden. Ida gab mir eine Probepackung zur Überbrückung. Mein Peeling war zwei Tage später da. — Das Leben in Idas Welt fühlte sich mittlerweile nahezu magisch an.
*
Am Donnerstagabend hatte Ida noch 132 Kalorien frei. Das war entweder eine Kugel Cookies and Cream oder zwei Kugeln Himbeersorbet. Wir überquerten den Campus Westend, liefen durch den Holzhausenpark, den Oeder Weg hinunter und stellten uns bei Eis Christina an. Den Eisladen gab es seit 1974. Er strahlte etwas von der Italo-Schlager-Zeit aus, in der unsere Eltern jung gewesen waren. Über der holzvertäfelten Eistheke hingen sepiafarbene Fotos von Corrado und Petra. Darunter waren Infotexte angebracht. Während Ida eine Sprachnachricht aufnahm, las ich die Legende des Eisladens. Corrado und Petra heirateten 1975 und benannten ihren Eisladen nach ihrer Tochter Christina, die schon als Kind immer im Laden dabei war. Corrado entwickelte zusammen mit einem Freund ein Zusatzteil für ihre Eismaschine und revolutionierte damit — in den Worten der Texttafel — die Eiskonsistenz: Das Eis konnte nun noch cremiger zubereitet werden. Auf die Lizensierung des Geräts folgte die Expansion des Ladens. 1986 wurde Christinas Bruder Andreas geboren. Und dann gab es noch eine Cousine, Mirella, die 1981 nach Frankfurt zog, um den Eisladen fortan zu unterstützen. Für mich entfaltete sich zwischen den Zeilen der Plot eines Elena-Ferrante-Romans: Ich baute die autobiografischen Versatzstücke um Eis Christina spontan zu einem deutsch-italienischen Epos um. Als Schlüsselelement dieses Familienromans stellte ich mir ein Konkurrenzverhältnis zwischen den fiktionalen Geschwistern Christina und dem imaginierten, elf Jahre jüngeren »Andrea« vor. Ich malte mir aus, dass Christinas gesamte Kindheit in den zwanzig Quadratmetern des Eissalons stattfand und permanent von dem Summen der Kühlanlagen begleitet wurde — ich sah sie hinter der Theke, unter den runden Tischen oder in einem Keller, wo sie abends, nachdem der Laden geschlossen war, mit ihrem Vater an der Novagel-Eismaschine tüftelte. Den Hinweis, dass die echte Christina verheiratet war und mit Zwillingen in Italien lebte, interpretierte ich als Flucht vor dem Imprint ihrer Existenz auf eine der bekanntesten Frankfurter Eisinstitutionen. Vielleicht war sie nur deswegen nach Italien ausgewandert, weil sie hier nichts anderes gewesen wäre als Eis Christina — ein narratives Konstrukt, geboren aus der leidenschaftlichen Hingabe einer italienischen Familie für einen Familienbetrieb. Die PR-Seele eines Eisladens. Wieder ein Nirvana-Baby-Moment, dachte ich, wenn auch subtiler. Ich bestellte Erdbeere und Schokolade.
Ida brauchte länger, um sich zu entscheiden. Sie fragte nach Spuren von Nüssen oder Soja, obwohl alle Allergene auf der Produktliste aufgeführt waren, dabei beugte sie sich weit über die Glasscheibe, hinter der die Eissorten in kleinen Behältern aufgeschichtet waren.
Ich sagte ihr, dass ich draußen auf sie wartete. Es war immer noch heiß. Alle Leute in der Schlange waren leicht bekleidet. Als eine Tram vorbeifuhr, wehte warme Luft in meine Richtung. Ich nahm meine FFP2-Maske ab und lehnte mich an die Mauer, um mein Eis zu essen. Es schmeckte mir, aber es war nicht besser als in den guten Eisdielen in Berlin. Vielleicht hatte Corrado mittlerweile mit dem Zusatzteil ein Vermögen angehäuft, vielleicht vertrieb er es an sämtliche Eisdielen weltweit. Unter der gelben Markise auf der Terrasse der Eisdiele saß eine Gruppe, die aussah wie ein Zusammenschluss aus mindestens zwei Familien vom hessischen Dorf. Die drei Teenager am Ende des Tisches wirkten unscheinbar und auf beinahe groteske Weise durchschnittlich. Sie drehten sich öfter in meine Richtung, tuschelten, schauten auf ihre Smartphones. Ich bewegte mich von der Mauer Richtung Tram-Haltestelle. Nachdem sie trotzdem mehrfach rübersahen und dann ihre Köpfe zusammensteckten, um wohl etwas — mein Gesicht? — mit einem Bild auf ihrem iPhone abzugleichen, wurde ich unruhig. Ich dachte an den Teenager im Fitnessstudio. Die Fußgängerampel wurde gerade grün. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und überquerte die Straße. Als ich mich umdrehte, kam Ida gerade aus dem Laden, sie suchte mich. Ich rief ihr etwas zu und dirigierte sie über die Straße, dann nach rechts, in die andere Richtung — vielleicht filmten sie mich gerade. Wenn ja, warum?
»Hast du das auch gemerkt?«, fragte ich Ida. »Was?« »Dass die Kids irgendwas von mir wollten.« »Warum sollten sie was von dir wollen?« Ida meinte, dass sie ihr Eis nicht im Laufen essen konnte. »Lass uns hier mal hinsetzen«, sagte sie und deutete auf die Bank, die neben einem Altglascontainer stand. Ich wollte eigentlich nicht sitzen. »Die haben mich die ganze Zeit angeschaut und mit irgendwas auf ihren Handys verglichen.« »Vielleicht verwechseln sie dich mit einem TikToker.« »Gibt es TikToker, die aussehen wie ich?« Erst als ich das gesagt hatte, merkte ich, dass Ida einen Witz gemacht hatte. Ich konnte nicht darüber lachen, war sauer, dass ich die Leute nicht konfrontiert hatte, ich hätte reagieren sollen, die lächerlichen Teens einfach ansprechen müssen, anstatt zu flüchten. Auf dem Nachhauseweg drehte ich mich mehrfach um. Einmal dachte ich, dass die drei Jugendlichen uns folgen würden, aber es war eine andere Gruppe.
Bis wir bei Idas Wohnung ankamen, zählte ich fünf Flugzeuge, die sich über Offenbach-Ost auf dem Weg zum Flughafen absenkten.
Ich wachte mit dem Gefühl auf, dass etwas schiefgelaufen war. Es fühlte sich so an, als hätte ich vor dem Schlafen etwas Unrechtes getan oder einen existenziellen Abgabetermin nicht eingehalten. Eigentlich hatte ich vormittags lesen wollen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren, saß auf dem Balkon und schaute runter auf den Verkehr. Mittlerweile war ich sicher, dass ich irgendwo als Meme herumgeisterte. Ich kam immer wieder zu dem Schluss, dass das Meme etwas mit meiner Stretching-Routine im Fitnessstudio zu tun haben musste. Ich schämte mich auf einmal, wie leichtfertig ich selbst früher Leute gefilmt oder fotografiert hatte, um sie für meine Storys und Gruppenchats zu instrumentalisieren. Es waren immer unscheinbare Motive gewesen, die ausschließlich in spezifischen Kontexten funktionierten, banale Insider: Ein Bierbike mit Junggesellen, die oberkörperfrei strampelten, selbstgezapftes Pils stürzten und Hardstyle hörten, mochte für Senta lustig sein, weil sie einen Artikel über das Queering von Hardstyle geschrieben hatte, den Rest interessierte es nicht.
Ich sah mich wieder, wie ich im TRX-Band hing, meine Arme nach hinten dehnte und meinen Brustkorb nach vorne presste. Der Clip crucification stretching routine könnte bereits viral gegangen sein. Bei dem Gedanken wurde mir schwindelig. Ich atmete drei Mal tief ein. Die letzten unbeschwerten Tage schienen wie weggefegt.
Am Montagmorgen ging ich in die HfG-Bibliothek. Ich trug meinen Fischerhut und Schlappen. Ich setzte mich an einen der alten Mac-Rechner, die hier neben der Toilette standen. Niemand benutzte die alten Tower. Ich loggte mich mit meinem Universitätsaccount ein, in der Hoffnung, dass ich noch Zugriff auf Eduroam hatte.
Hatte ich.
Wie ergoogelte man Memes, die man nicht kannte?
Ich fing mit einer willkürlichen Schlagwortsuche an. Girl stretching like Jesus. Crucification Stretching. Messiah in the gym. Dass ich mit irgendwem verwechselt wurde, konnte ich mir nicht vorstellen. Wenn mich Leute mit berühmten Menschen verglichen, ließen sich Ähnlichkeiten immer auf die gleiche Frisur runterbrechen. Das waren: Natalie Portman in Leon der Profi, Audrey Tautou in Amélie, Alice Glass von Crystal Castles, bevor sie ihre Haare lang wachsen ließ, Maisie Williams in GoT, nachdem ihre Haare abgeschnitten wurden. Niemand von ihnen sah mir ohne kurzen, dunkelbraunen Bob mit Pony auch nur annähernd ähnlich.
Die meisten Suchanfragen führten mich zu christlichen Gymnastikvereinen, fast alle waren in Utah. Ich fand ein Bild, auf dem sich jemand als Jesus verkleidet hatte und Sit-ups andeutete. Es war unmöglich, Memes zu ergoogeln, ohne deren Namen, Kontexte und Zugehörigkeiten zu kennen. Sie waren zu flüchtig, ihre Inhalte erforderten oft die gängige Hermeneutik der In-Group, um entschlüsselt zu werden. Selbst wenn ich alle Suchparameter kennen würde, könnte es sich immer noch auf einem geschlossenen Discord-Server befinden, der trotzdem 60.000 Mitglieder hatte und auf dem die Kids vor dem Eisladen angemeldet waren. Ich ging die Sache etwas analytischer an und spielte ein paar Möglichkeiten durch. Vielleicht schwebte ich als Witz über kontemporäre Sporttechniken in einem Forum für Outdoor-Fanatiker, die Fitnessstudios hassten. Oder ich hatte an dem Tag das Hunter X Hunter-T-Shirt getragen und das Video diente im Sub-Reddit als Lückenfüller, bis ein neues Manga-Kapitel draußen war. Vielleicht ging es auch gar nicht um mich und der Junge hatte hauptsächlich den Song aufnehmen wollen, der gerade über die Fitnessstudioboxen lief, weil es ein spezifischer Tropical House Remix war, den jemand aus seiner EDM-Community produziert hatte — in dem Szenario wäre ich nur peripher gemeint, irrelevantes Bildmaterial, so wie die Frau in dem See an der Reha.
Ich loggte mich aus.
In der Bibliothek war immer noch niemand. Es waren Semesterferien.
Ich drehte zwei Runden durch die Skulptur-Abteilung, dann bog ich in die Alumni-Sektion ab. Ich suchte gezielt nach einem schmalen, weißen Einband mit schwarzer Blockschrift. Ich fand, wonach ich suchte, im Abschnitt 2015, es waren zwei Exemplare, auf dem Cover stand Frau Yokoshima und das Edison-Prinzip. Ich ließ die beiden Ausgaben in meiner Tasche verschwinden und verließ zügig die Bibliothek. Seltsamerweise wurde kein Alarm ausgelöst.
*
Die nächsten Tage blieb ich in der Wohnung. Ich behauptete, es sei mir zu heiß und ich hätte Wettermigräne. Ich telefonierte ein paar Mal mit Oma A., sie hatte sich einer Rommé-Gruppe angeschlossen und mich gebeten, ihr Strickzeug zu schicken. Sie klang entspannt, aber so wie ich Oma A. kannte, summierten sich Probleme erst eine Weile und explodierten dann, weil das Frühstücksei auf einmal zu hart war. Einmal telefonierte ich mit meinem Bruder. Zu Mosebach kam ich nur mit, weil Senta morgen nach Norwegen flog, sie würde den ganzen August dortbleiben und es war die letzte Möglichkeit, mich davor von ihr zu verabschieden. Ich suchte eine kurze Hose aus meiner Reisetasche und roch an einem Shirt, das mir zu groß war. Mit Fischerhut und Sonnenbrille sah ich aus wie eine alternde Influencerin, die versuchte, auch auf TikTok Erfolg zu haben. Es war lächerlich. Ich zog den Fischerhut wieder aus. Im Bad inspizierte ich Idas Make-up-Tasche. Ich suchte nach einer Lippenstiftfarbe, die ich eigentlich nie tragen würde. Dunkelbraun. Ich trug Mascara auf. Ein bisschen Eyeliner. Was ließ sich noch machen? Etwas mit meinen Haaren. Am besten keinen Zopf — die Frisur hatte ich im Fitnessstudio —, auch keine offenen Haare, dann kämen wieder die Short-Bob-Assoziationen. Ich machte mir mehrere Mikro-Zöpfe und benutzte ein paar Spangen.
Ida fing mich im Flur ab.
»Du siehst irgendwie anders aus«, sagte sie. Sie schloss die Wohnungstür und legte den Schlüssel auf die Ablage. Sie hatte ihre Yogatasche über der Schulter und trug Sportkleidung. Ihre Wangen waren gerötet. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu zapfen. Ich setzte mich auf die Eckbank. Ich wollte gar nicht wissen, ob anders besser oder schlechter bedeutete. Hauptsache anders. Ida schaute auf ihre Uhr. Eigentlich hatten wir noch zwanzig Minuten Zeit, bis wir zu Mosebach aufbrechen mussten. Ich schlug vor, mit dem Bus zu fahren, als Sightseeing-Event. In der Buslinie 302 saßen im Sommer fast nur Rentner, die mit Einkaufstüten zum Wohnpark an der Eissporthalle fuhren. Es dauerte zwar etwas länger, aber andererseits mussten wir nicht umsteigen und kamen direkt in Bornheim raus. Ich fand das stressfreier.
Wir kamen eine Viertelstunde zu spät, weil wir an der Autobahnauffahrt Kaiserlei in einem Stau festhingen. Ida und ich waren beide verschwitzt. Senta wartete im Schatten der Hecke, die den Außenbereich des Lokals vom Fußgängerweg abschirmte. Sie las etwas auf ihrem iPhone. Über ihrer Schulter hing eine Häkeltasche. Weil es so heiß war, begrüßten wir uns nur verbal. »Tut uns voll leid, der Bus hat ewig gebraucht«, sagte Ida und klang, als wäre sie gerannt. Senta war nicht sauer. Sie meinte, dass sie eh noch ein paar Sachen lesen musste, fand es aber seltsam, dass wir mit dem Bus gekommen waren. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Reflexion wahr. Es war eine Frau mit Alufoliensträhnen im Haar, die gegenüber vor einem Friseursalon saß. Senta steckte ihr iPhone ein. Sie hatte einen Tisch auf der Terrasse reserviert. Ich würde auf keinen Fall zwischen den Sportvereinen, Junggesellenabschieden oder Artist-Dinners sitzen, die Gruppenfotos schossen oder die Konsistenz von Handkäse filmten. »Wäre es okay für euch, wenn wir reingehen?«, fragte ich. Ich meinte, dass meine Allergien im letzten Jahr schlimmer geworden waren, ich aber blöderweise meinen Allergie-Pen vergessen hatte. Ich wollte nicht riskieren, draußen auf der Terrasse zu essen, wegen der Bienen, die sich in Apfelweingläsern oder unter Salatblättern verstecken könnten. »Hattest du nicht eine Hausstaubmilben-Allergie?«, fragte Senta. »Hausstaubmilben, Nickel und Bienen«, log ich. »Aber sind das überhaupt Bienen?« Wir schauten zu dem Mülleimer, um den Wespen flogen, die sich hin und wieder auf die geöffnete Verpackung eines Wassereises setzten. »Ich fänd’s gut, wenn wir einfach reingehen.« »Hä, ja klar«, lenkte Ida ein.
Wir nahmen den Tisch unter einem Holzgiebel in der Nähe der Küche, weil darüber der Belüftungsschlitz der Klimaanlage angebracht war. Die Klimaanlage funktionierte nicht. Ich überließ Senta und Ida die Bank und setzte mich mit dem Rücken zum Raum. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und rieb mir die Augen. Erst danach fiel mir ein, dass ich Mascara benutzt hatte. »Bin ich verschmiert?«, fragte ich Ida. Sie schüttelte den Kopf. Es war wasserfeste Mascara. Weil ich mich auf meinem Platz relativ sicher fühlte, wurde ich langsam etwas lockerer.
Während wir die Karten studierten, fragte ich Senta über Norwegen aus. Sie flog morgen über Hamburg nach Kristiansand, um dann viereinhalb Stunden mit der Regionalbahn zu einer Ortschaft zu fahren, von der ich noch nie gehört hatte. Dort würde sie einen Monat lang in einem kleinen Häuschen abtauchen. Ich stellte mir eine Blockhütte an einem See vor. »So ähnlich«, sagte Senta, »rotes Holzhaus mit weißen Fensterrahmen.« »An einem See?« »Ich glaube, irgendwo gibt es auch einen See. Es gibt auf jeden Fall einen Badestrand.« Senta schien es leicht unangenehm zu sein, dass einer ihrer Verwandten ein Ferienhaus besaß, das sie einfach so nutzen konnte. Ich fand, es klang traumhaft. Ich erzählte, dass ich auch mal in Norwegen gewesen war, mit fünfzehn, bei einem Schüleraustausch. »Echt, du hattest Norwegisch als Fach?«, fragte Senta. Ich verneinte. Es gab nicht mal eine Norwegisch-AG. Warum unser Gymnasium damals ausgerechnet eine Partnerschaft mit einer norwegischen Schule pflegte, hatte ich vergessen. Senta wollte wissen, ob ich auf einer Elite-Schule gewesen war. »Eher das Gegenteil. Integrierte Gesamtschule.« »Und was hast du da so gemacht?« Ich wusste noch, dass das einstöckige Holzhaus meiner Gastfamilie in einer Wald- und Industrielandschaft stand, irgendwo zwischen einem Schiffsmuseum und einer Süßigkeitenfabrik, in der Smash!-Riegel hergestellt wurden. In der Nacht fuhren Lastwagen, die Baumstämme verluden, an dem Haus vorbei. Eine halbe Stunde Autofahrt entfernt gab es einen McDonald’s, wo man so viel Ketchup, wie man wollte, in essbare Minibehälter pumpen konnte. Ich merkte plötzlich, dass meine Erinnerung an Norwegen mittlerweile von digitalem Archivmaterial über die Nordstaaten der USA, Teile von Kanada oder Alaska beeinflusst war, sicher von den Fotos, die ich von den anarcho-primitivistischen Kommunen in Eugene, Oregon gesehen hatte. Ich fragte Senta, wie gut das Ferienhaus an öffentliche Verkehrsmittel angebunden war, aber wir redeten irgendwie aneinander vorbei. Als ich wissen wollte, wie es mit dem Handynetz aussah, fiel Ida ein, dass man in ihrer Schule einen Austausch nach Malta machen konnte. »Und wie bist du erreichbar die nächsten Wochen?«, unterbrach ich Idas Malta-Erzählung. »Ich bin erst mal gar nicht erreichbar, hab voll viel zu schreiben«, sagte Senta, abgelenkt durch ihr aufleuchtendes iPhone. »Du musst auf jeden Fall mal mitkommen, dir würde es megagut gefallen.«
Ich sah mich auf der Holzveranda, irgendwo in einem Wald in der Nähe eines Sees, kein Handynetz, vielleicht ein altes Modem, das man im Notfall aktivieren könnte, keine Elektrizität. Das Haus stand an einer abgelegenen Straße in einem Fichtenwald, dessen Stämme so dick waren wie Kleinwagen. Bis zum nächsten Supermarkt würde man eine halbe Stunde Rad fahren. — Niemand weit und breit, dem man aus Versehen vors iPhone laufen konnte.
Ida meinte, dass sie niemals irgendwo allein einen Monat lang Urlaub machen würde, vor allem nicht ohne Internet. »Eigentlich ist es auch eher ein Schreiburlaub«, sagte Senta. Sie schrieb gerade als Freelancerin für verschiedene digitale Kulturzeitschriften und hatte ein paar Deadlines. Seit sie einen Artikel über drei Femme-DJ-Kollektive veröffentlicht hatte, lief es ganz gut. Der Artikel hatte viel Aufmerksamkeit bekommen und Senta war selbst als DJ und kulturschaffende Schreibende aus Berlin für ein Porträt interviewt worden. Sie hatte mir die Fotos gezeigt. Sie saß ungeschminkt in einem Sessel und trug ein trägerloses Top, ihre Haut schimmerte. Seitdem legte sie öfter auf Ausstellungseröffnungen auf. Aber dass sie ihren Job in der Medienagentur aufgegeben hatte, war neu. Mir war nicht bewusst gewesen, dass sie sich mittlerweile ganz durchs Schreiben finanzierte.
Ich merkte, wie Neid in mir aufkeimte, und gleichzeitig, wie paradox es war, neidisch zu sein, weil ich mich genau gegen dieses Karrieremodell entschieden hatte. »Mal sehn. Vielleicht komm ich aber früher zurück, hab grade das Gefühl, dass alle in Berlin sind. Wisst ihr, was ich meine?« Die Bedienung kam, um unsere Bestellung aufzunehmen.
Senta wollte aus nostalgischen Gründen Alkohol trinken, für Ida war es ein normaler Samstagabend, bei mir lag es am emotionalen Stress, den das Erlebnis bei Eis Christina und Oma A.s Operation ausgelöst hatten. Es war einer der seltenen Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass Alkohol die richtige Droge sein könnte. Ich wollte mein Gehirn nicht fordern, sondern in einen tumben Zustand versetzen, in dem Gedanken nach ein paar Biegungen lächelnd in einer Sackgasse zum Stehen kamen. Mit Ida und Senta fühlte ich mich dafür sicher genug.
Wir bestellten Apfelwein und Handkäse. Der Apfelwein kam in einem Bembel. Ich erzählte, dass ich zum ersten Mal mit sieben Apfelwein probiert hatte, weil ich dachte, in der Apfelweinflasche sei Apfelsaft. Ida war das Gleiche passiert. Wahrscheinlich war es heute gar nicht mehr erlaubt, Apfelwein und Apfelsaft in den gleichen Flaschen zu verkaufen. Wir prosteten uns zu. Nachdem ich ein Glas getrunken hatte, fühlte ich mich angenehm sediert.
Irgendwann ließ ich mich dazu breitschlagen, noch mit zum Willy-Brandt-Platz zu kommen, weil Senta unbedingt zwei Freunde sehen wollte, die vor einem Kiosk über eine Boombox ein »DJ-Set« spielten.
Ich befürchtete, dass auf dieser Art Event viele Smartphonekameras laufen würden, darum ließ ich meine Maske auf, als wir am Schauspielhaus aus der U-Bahn stiegen. Der Platz war voller junger Leute, die auf der Mauer tranken und Musik hörten. Eine Tram fuhr an uns vorbei und bog in die Häuserschluchten des Bahnhofsviertels ein. Es war immer noch warm. Der Himmel über den Hochhäusern war klar, weiter Richtung Main verdeckte ein Wolkenschleier den Mond, der nur als sichelförmiger Umriss zu erkennen war. Senta sagte, dass das Klassenfahrtgefühl hier in FFM schon nice war — »immer alle zu kennen, wenn man irgendwo ist«, sie zog an ihrer Zigarette, »aber irgendwie auch erdrückend, oder?« Sie lotste uns am blau beleuchteten Euro-Zeichen vorbei, durch den kleinen Park, über die Straße zu dem Kiosk, vor dem Leute standen, die ich auch entfernt kannte. Etwas an der Gruppendynamik wirkte sonderbar. Ich hatte zwar mit multiperspektivischer Dokumentation gerechnet, aber die Synchronität, mit der die Anwesenden ihre iPhones auf sich richteten und grinsten, wirkte, als wäre meinetwegen ein Flashmob geplant worden. Ida meinte, dass die Leute jetzt alle BeReal nutzten. Sie öffnete die App und zeigte mir die Fotos, die die anderen gerade hochgeladen hatten. Es waren Spiegelungen, die sich ineinander reflektierten — Phong stand vor Max, Anna vor Ryan, Max hinter Phong, Phong vor Anna, Anna hinter Phong, Ryan vor Ferhat, Ryan hinter Anna, Anna vor Max, Max hinter Ryan, Ferhat hinter Ryan, Ferhat vor Phong, Rose hinter Max. Auf BeReal war man nur mit den Leuten vernetzt, deren Kontakte man auch im Handy gespeichert hatte. Man bekam drei Mal am Tag eine Benachrichtigung und hatte dann zwei Minuten Zeit, um ein Bild, das man in diesem Moment schoss, hochzuladen. Die App war so programmiert, dass man sowohl die Selfie-Kamera als auch die Kamera auf der Rückseite des iPhones auslöste. »Achtung, Mila«, meinte Senta und griff mich scherzhaft so, als würde sie mich vor einem fahrenden Auto wegziehen.
Ich ließ mich ein bisschen zurückfallen und sagte erst Hallo, als die meisten mit ihren BeReals durch waren. Anna und Ryan hatte ich seit drei Jahren nicht gesehen, die beiden hatten mittlerweile eine eigene Grafikagentur. Sie sprachen mich nicht darauf an, aber ich merkte, wie seltsam sie es fanden, dass ich meine FFP2-Maske nicht auszog. Irgendwann wollte Ryan meinen Chiemsee-Pullover, auf dem ein Meerjungfrauprint drauf war, fotografieren. Ich musste ihm zwei Mal sagen, dass ich nicht fotografiert werden wollte, auch nicht, wenn mein Gesicht abgeschnitten war. Um nicht missverstanden zu werden, fühlte ich mich gezwungen, weiter auszuholen. Ich sagte, dass ich aus Social Media ausgestiegen war, keine Streamingdienste mehr nutzte und darauf achtete, nicht mehr im Netz aufzutauchen. Ich formulierte das so beiläufig wie möglich, streute ein paar Fakten ein, merkte, wie zweifelhaft es war, ob mich jemand mit Maske und dieser Frisur überhaupt erkannte. Ich war seit zwei Jahren nicht mehr hier gewesen, Instagram hatte ich seit einem Jahr nicht mehr, und viel gepostet hatte ich auch nie — wussten die Leute überhaupt, wer ich war? Jetzt meine Maske abzunehmen, wäre zu dramatisch gewesen. Ich kam mir vor wie die Protagonistin eines Drop-out-Channels oder das verhüllte Gesicht eines NoSurf-PR-Stunts. Eigentlich ging es doch darum, außerhalb der Dinge zu stehen und keine Marke aus meinem Drop-out zu machen — war das nicht der ganze Punkt? Senta drängte mich irgendwann dazu, mein Beafon rauszuholen. Keine Ahnung, warum ich mitmachte. Wahrscheinlich die drei Gläser Apfelwein und der ungekühlte Rotkäppchen-Sekt, den wir beim Kiosk gekauft hatten, oder doch das fundamentale Bedürfnis, verstanden und gemocht zu werden. Phong wollte das Beafon genauer anschauen. Ich reichte es ihm. Er hielt das Telefon an sein Ohr und sagte hallo. Alle lachten. Senta meinte, dass ich sie inspiriert hatte und sie angefangen habe, sonntags ihr iPhone auszuschalten. Mir war nicht klar, ob das stimmte. Ein paar andere Leute räumten ein, dass sie auch digitale Detox-Maßnahmen ergriffen hatten. Wahrscheinlich versuchten sie, mir ein gutes Gefühl zu geben, mich wieder abzuholen, weil sich auf einmal eine komische Trennwand zwischen uns aufgezogen hatte. Um meine Entrückungsgefühle zu überspielen, lenkte ich das Gespräch auf ein anderes Thema, aber wie es aussah, hatten wir uns in der Schleife Internetverhaltensweisen verfangen. Irgendwann ging es wieder um BeReal. Ich war überrascht, dass alle die App so positiv wahrnahmen. Erzeugte man damit nicht genau das Gegenteil von Authentizität? War das nicht die höchste Steigerung von artifiziell, dass man sich nun den ganzen Tag dafür wappnete, authentisch und ein »echter Mensch« zu sein? »Ist die App auch von Meta?«, fragte ich.
An dem Abend merkte ich, dass sich etwas Grundsätzliches verändert hatte. Ich ertappte mich dabei, wie ich über Dinge lachte, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte weder den aktuellen Newsletter von Angelicism gelesen, noch wusste ich, was Emma Chamberlain machte, ich hatte mir auch nicht die digitale Documenta angesehen. Während Sally erzählte, dass sie sich gerade mit KI-gestützten Text-to-Image-Modellen beschäftigte, realisierte ich, dass ich in der Zeit eingefroren war. Wie sehr ich geistig festhing, erschreckte mich. Die Gegenwart hatte für mich beinah komplett aufgehört zu existieren. Das kam mir auf einmal grauenvoll vor: körperlich zu altern, aber geistig in einer spezifischen Zeit festzustecken, obwohl ich mich mein Leben lang hauptsächlich durch Popkultur identifiziert hatte. Ich hatte keine Meinung zur neuen Stranger Things-Staffel, da ich bislang noch nicht einmal von ihrer Existenz gewusst hatte, noch konnte ich etwas Wertvolles zu den Ukraine-Diskussionen beitragen. Das einzige, worüber ich wirklich sprechen konnte, war die Operation meiner Oma und wie irrsinnig ich BeReal fand. Es ging mir nicht darum, dass die meisten hier eine neue App installiert hatten, um Fotos hochzuladen und sich zu vernetzen, das war ja eh Standard. Mich irritierte vor allem, dass sie davon auszugehen schienen, mit BeReal könnte tatsächlich ein Grad an Echtheit zurückgewonnen werden.
Die einzige Person, die BeReal genauso kritisch einordnete wie ich, war Gregor.
Gregor war der Bekannte eines Bekannten, der eigentlich in Darmstadt wohnte, Frankfurt hasste und nur wegen seines Mitbewohners hier war. Nachdem sich das BeReal-Chaos gelichtet hatte, stand er auf einmal neben mir und beschwerte sich über die Leute, die andauernd an ihren iPhones hingen. Er meinte, dass er Smartphones schon immer abgelehnt hat, wegen der totalen Spionage, über die sich damals noch alle lustig gemacht hatten, und dass BeReal eine neue Stufe der ökonomisierten Realness-Jagd darstellte, die letztendlich zu einem Bewusstseinszustand führen würde, in dem Nutzer den ganzen Tag in Bereitschaft sein müssten, ein authentisches Momentfoto zu schießen. Hatte er nicht gehört, dass ich genau das Gleiche gerade schon gesagt hatte? Dass Männer wiederholten, was ich sagte, und so taten, als wären sie selbst darauf gekommen, hatte ich schon länger nicht mehr erlebt. Entweder es lag daran, dass ich nicht mehr an der Uni arbeitete, oder dass ich sowieso niemanden mehr traf. Entscheidend sei natürlich, welche iPhone-Version man hatte. Da BeReal eigentlich keine Filter zuließ, sei es umso wichtiger, wie effektiv die bereits in der iPhone-Kamera integrierten Algorithmen arbeiteten. Das waren jetzt also die Leute, die mit mir Gespräche führen wollten. Frankfurter-Schule-Kulturpessimisten im sommerlichen Leinenanzug, die über Mechanismen der Selbstüberwachung redeten. »Ist doch zu bedauern, dass die Zwischenmenschlichkeit und kommunale Spiritualität aus unserer Gesellschaft verschwindet, oder nicht?«, fragte mich Gregor, nachdem nur noch wir beide vor dem Eingang des AMP zurückgeblieben waren. Der Rest war drinnen. Ich fragte ihn, ob er auch schon mal geglaubt habe, ein virales Meme zu sein. Gregor lächelte mehrdeutig. Ich war mir nicht sicher, ob er meine Ironielosigkeit lesen konnte. Er zitierte Spinoza via Deleuze. Danach Adornos Kulturindustrie: Popkultur sei totaler Schwachsinn, der die Leute verdumme — ein zusätzliches Werkzeug der Entfremdung und Besänftigung der Massen. »Die meisten realisieren nicht, dass Netflix genauso gefährlich ist wie Crack. Dass die Leute vor ihren Screens verschimmeln, ist komplett im Interesse des Kapitals«, er zog an seiner Zigarette, atmete den Rauch aus, »weil sie Mehrwert generieren und sich trotzdem ausbeuten lassen.« Ich meinte, dass ich vor dem TV groß geworden war und die Grundlage meines Kulturverständnisses aus Fernsehprogrammen bestand. Gregor schaute mir intensiv in die Augen. Ich fragte mich, wie die Zukunft meines Datinglebens aussehen würde. Die Zeit der E-Boys schien vorbei zu sein. Ich hatte immer gedacht, dass es Alterungsprozesse sein würden, die die gutaussehenden Tinderjungs irgendwann dazu bewegten, mich nicht mehr zu beachten. Wer blieb jetzt noch deutlich vor meinen Vierzigern für mich übrig, außer Akademikermänner, die aus Protest gegen die Selbstoptimierungsgesellschaft rauchten und Political Correctness als Hobby der Gen Z betrachteten? Gregor lächelte wieder.
*
Die Klosterruine lag auf einem bewaldeten Hügel zwischen Weinbergen und einem schmalen Fluss. Vom Kloster waren nur noch einzelne Grundrisse erhalten. Auf der nördlichen Seite befanden sich die Gemächer für die Nonnen. Hildegard von Bingen war eine der ersten drei Nonnen, die sich im November 1112 dem Benediktinerkloster anschlossen. Auf dem Infoflyer stand, dass sie im Inklusorium eingeschlossen wurde, mir war nicht klar, ob es wirklich hieß, dass man sie weggesperrt hatte oder ob es sich um eine abstrakte Beschreibung des Zuführungsakts handelte. Neben dem Inklusorium befand sich die Vorratskammer, daneben eine Treppe, die abgesperrt war. Ich schaute hinein, sah Steine, Gehölz, Laub, einen Gang, der ins Nichts führte. Aus dem Gewölbe stieg kühle Luft. Auf dem Weg zum Labyrinth kamen mir zwei alte Damen mit Walkingstöcken entgegen. Sie verschwanden kurz darauf hinter einer breitgewachsenen Eiche. Die wenigen Touristen, die sich das zerfallene Kloster anschauten, waren alte Leute mit Gehstöcken oder Pärchen Mitte dreißig in Trekkingsandalen, so wie Ida und ich. Im Rheingau sollten die Temperaturen heute auf über vierzig Grad steigen. In Portugal und Frankreich waren Waldflächen runtergebrannt, die ähnlich groß wie Hamburg waren. Portugal zählte tausend Hitzetote. Selbst in der Nähe von London war es so heiß, dass Orte wegen Waldbränden evakuiert werden mussten. Wegen der Hitzewarnung waren die meisten Leute zu Hause, steckten ihre Füße in Fußwannen mit kaltem Wasser, dösten auf Liegewiesen von Freibädern oder hielten sich in der Kühlabteilung von Supermärkten auf, anstatt sich in der Mittagshitze einen Berg hochzuquälen und eine Klosterruine anzuschauen. Das war einer der Gründe gewesen, warum ich genau heute rausfahren wollte. Ich schwitzte stark und hatte seit dem Meditationspfad das Gefühl, Sodbrennen zu bekommen. Dafür würde das Kloster heute wahrscheinlich kaum auf Instagram, Facebook oder BeReal dokumentiert werden.
Ida machte die Hitze nichts aus. Sie blickte mit der routinierten Zuversicht einer Freelancerin auf den Tag, die einmal alle sechs Monate ihre Arbeitszeit umverteilte, um sich an ihr Privileg zu erinnern, auch mal unter der Woche freimachen zu können. Die Hinfahrt hatte sie damit verbracht, ihre Steuer mit einer Steuer-App zu kalkulieren. Sie hatte zweitausend Euro zu viel verdient und musste jetzt den Überschuss zurückzahlen. »Willst du lieber in die Kapelle oder wollen wir was essen?«, fragte Ida. Ich schaute nach oben in die Baumkronen. Ich hatte keine Ahnung, was ich wollte. Ich hatte nicht mal mehr Lust, darüber nachzudenken.
Der Abend vor dem AMP hatte zu einer Kapitulation vor Grundsatzfragen geführt. Nach einem Tag voller Selbstzweifel, an dem ich wegen Magenproblemen nur Cracker essen konnte, verlagerte sich meine Wut auf Gregor. Was fiel ihm ein, mich über die Schädlichkeit von Popkultur aufklären zu wollen? Es war so lächerlich, sich 2022 krampfhaft an antiquierten Hochkultur-Werten festzuhalten. Warum meinte er, ausgerechnet bei mir damit landen zu können? Einen Tag später ebbte auch dieses Gefühl ab. Ich kaufte mir einen Bubble Tea und trank ihn auf einer Bank am Mainufer. Ich war seit drei Wochen in Offenbach und wartete auf einen kathartischen Moment, der niemals eintreten würde. Irgendwie war ich plötzlich verlorengegangen. Mittlerweile verband mich tatsächlich mehr mit Gregor als mit Senta, Max, Phong oder Anna. Ich sah mich aus der Perspektive der anderen. Ich musste klingen wie eine durchgeknallte Verschwörungstheoretikerin, die selbstreflexive Dinge über die Speicherung von Daten sagte, eine Akademikerin, die in kulturpessimistische Paranoia abgedriftet war, eine der vielen, die dem Druck des Lockdowns erlegen waren. Ich war Kristevas Abjekt, ein unheimlicher Hybrid zwischen Subjekt und Objekt, jemand, der dem eigenen Milieu zeigte, wie schnell es dann doch gehen konnte. Totale Entfremdung anstelle von heroischer Selbstfindung.
Wir liefen über die Lichtung. Sonnenlicht fiel auf die Stelle, an der einmal der Kreuzgang gewesen war. An der Stirnseite war eine Infotafel angebracht, dahinter hatte es wohl mal einen Altar gegeben. Vom Gästehaus stand noch die Fassade. Die Mauern waren von Pflanzen überwuchert. Ida wollte zu dem Spot, an dem auf Google Maps ein grüner Pin mit einem Pflanzen-Icon gesetzt worden war. Sie zeigte mir das kleine Icon auf ihrem iPhone. Ich überflog zwei Kommentare. Domi on tour schrieb: traumhafter Blick über Odernheim am Glan. Sabine Weber schrieb: unfreundlichstes Personal, was ich je in einer Klosterruine erlebt hab. Wurde bloßgestellt, weil ich bei 34 Grad nicht unter meiner Maske ersticken will. Sauerei!! Google wusste nicht nur, dass Ida hier war, sondern auch, dass ich hier war. Zweifellos hatte sie mindestens einer Person im Chat davon erzählt, dass sie mit Mila zur Klosterruine fuhr. So was konnte man anderen nicht verbieten. Ich würde beim nächsten Mal allein wegfahren müssen.
Mir wurde klar, dass ich viel zu tief drinsteckte, als dass es ein spontanes Zurück geben könnte. Auch wenn ich mir gerade wünschte, alles wieder auf null zu setzen, um mich zusammen mit Senta in Voicemessages über Spinner wie Gregor lustig zu machen, konnte ich nicht einfach mein iPhone aktivieren und das, was ich in den letzten Wochen gelesen und durchdacht hatte, wieder vergessen. Dass die ganze digitale Welt eine schreckliche Form der Ausbeutung und Manipulation beinhaltete, war ja eine Tatsache. Ich blickte auf die Landschaft hinunter, während Ida in der Kapelle eine Story postete.
Der Spot war eine zerfallene Mauer mit spektakulärem Blick auf das Tal. Bewaldete Hügel, Weinberge, zwei Weingüter. Hinter der Glen, die sich grünlich braun durch die Landschaft bewegte, altertümliche Fachwerkhäuser, von denen einige mit den Steinen des Klosters gebaut worden waren. Das hatte ich auch auf dem Infoflyer gelesen. Unterhalb des Meditationspfades waren Kräuterbeete angelegt. Es roch nach Zitronenmelisse, Lavendel, Thymian. In dem Gebäude mit dem roten Ziegeldach, das man von hier aus sehen konnte, befand sich das Museum, in dem Artefakte ausgestellt und regionale Bio-Produkte verkauft wurden. Klosterweine, Kräutersalze, Lavendelkissen.
Ich aß kalten Reis.
Ida hatte sich einen Jen-Salat gemacht. Das Rezept ging letzten Sommer viral, erzählte sie mir. Es war der Salat, den der weibliche Cast von Friends jeden Tag während der gesamten Dreharbeiten der Staffel gegessen hatte. Anstelle von Bulgur hatte Ida Quinoa genommen, die Bohnen hatte sie durch Sellerie ersetzt. Sie fragte, ob ich mal probieren wollte. Der Salat war wirklich lecker. Trotz der Hitze schmeckte er frisch. Ich beneidete Ida dafür, dass sie sich nicht davor fürchtete, ein Klischee zu sein. Entweder sie war so vanilla, dass sie sich darüber keine Gedanken machte, oder sie hatte die Angst schon längst transzendiert und festgestellt, dass es das Leben immens erleichterte, den digital konstruierten, postfeministischen Lebensentwürfen einfach nachzugehen, sich nicht dafür zu schämen, vegane Rezepte zu preppen, Jivamukti-Yoga zu machen und zwei Katzen zu haben, die einem Gesellschaft leisteten, weil man Dauersingle war. Was waren meine Identifikationsmöglichkeiten, wenn ich weder Yogalehrerin noch Pferdetherapeutin, Influencerin oder Unabomberin sein wollte? Vielleicht Emily Dickinson. Oder Enya. Emily Dickinson hatte ihr Leben im Zimmer eines Herrenhauses verbracht, wo sie in weißer Kleidung, an einem Sekretär sitzend, Gedichte schrieb. Sie hatte das Zimmer kaum verlassen und keinen Besuch empfangen. Enya lebte seit 1997 in Manderley Castle und gab so gut wie keine Interviews mehr. So zu leben war nur möglich, wenn man mindestens wohlhabend, eher reich war.
Mir schwirrte das Gespräch über Privilegien und das Telos meines digitalen Löschprojekts im Kopf herum, das ich auf Sentas Geburtstag mit ihrer linksintellektuellen Freundin geführt hatte. Im Mai hatte es mich noch nicht gestört, dass ich nicht wusste, was danach sein würde, dass ich kein langfristiges Ziel hatte, außer mich erst mal aus dem Internet zu löschen. Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass es genug war zu wissen, was man nicht wollte. Ich wollte weder in einer Wohngemeinschaft noch in einer Kommune leben, weder mit Freelancern noch mit Physiotherapeutinnen. Ich wollte keine Revolution anzetteln, nicht die Regierung stürzen, ich fand es gut, dass es RNA-Impfungen gab. Am allerwenigsten wollte ich irgendeine agnostisch-spirituelle Fortbildung machen, die zu Achtsamkeitslehre, Schreibtherapie oder irgendeiner anderen Therapieform führte. Ich fand den Umgang mit sich selbst als Marke nicht nur schädlich, sondern ging mittlerweile so weit, dass ich ein Kernelement des Leides in kontemporären, westlichen Gesellschaften als Selbstinszenierungsimperative identifizierte.
Enya war mit ihrer Musik reich geworden. Dickinson wurde in den Wohlstand hineingeboren und hatte deswegen überhaupt erst die Möglichkeit, zu schreiben. Die minimale Wahrscheinlichkeit, überhaupt in die Nähe von solchen Kapitalmengen zu kommen, hatte sich mit meinem Drop-out gänzlich aufgelöst. Hildegard von Bingen war ins Kloster gegangen, um ihre Ruhe zu haben. Betrachtete man ihre christliche Hingabe im Kontext ihrer Zeit, führte sie ein Leben voller Ekstase — sie schrieb, komponierte und lebte im Einklang mit ihren Visionen.
Meine Motivation war weder transzendental-mystisch noch radikal-aktivistisch. Wohin führte ein Ausstieg aus der digitalen Welt, wenn man schlichtweg das Bedürfnis hatte, seine Ruhe zu haben, und sich möglichst wenig sozialer Interaktion aussetzen wollte?
Auf der Lichtung, wo einst der Kreuzgang gewesen war, hatte sich eine Gruppe von Rentnerinnen versammelt. Sie hielten sich im Kreis an den Händen. Sie hatten alle ihre Augen geschlossen, ihre Gesichter waren von den Lichtreflexen, die durch die Blätter schienen, gemustert. Irgendwann fingen sie an zu summen. Ida und ich setzten uns vor einem stillgelegten Brunnen auf den Boden. Die Steine im Rücken fühlten sich kühl an. Ich schloss die Augen. Kein Lärm, kaum Bewegung. Es roch nach Moos, Erde, Wald. Ida erzählte mir, dass sie vor zwei Jahren auf Teneriffa zum ersten Mal an einer geführten Waldmeditation teilgenommen hatte. »Zieh am besten deine Schuhe aus«, sagte sie und öffnete den Klettverschluss ihrer Sandalen. Der Boden fühlte sich leicht feucht an, obwohl es achtunddreißig Grad waren. Dann kamen noch ein paar andere Anweisungen. Augen schließen. Auf das Rauschen der Blätter achten. Was hörte man noch? Einen Kuckuck. Sich mit dem Boden verbinden. Erden. Ich hörte Ida ausatmen. Dann wurde sie still.
Ich versuchte, mich auf die rauschenden Blätter zu konzentrieren, aber das einzige, woran ich plötzlich denken konnte, war das unrasierte Gesicht von Gregor, mit seiner selbstgedrehten Zigarette zwischen den Lippen und dem Speichelschaum im linken Mundwinkel.
Wir gingen am Weinberg zurück, vorbei an dem Baum, der wegen der Eichenprozessionsspinner mit einem roten Absperrband eingegrenzt war. Seit dem Abend im AMP war auch Ida anders als sonst, für ihre Verhältnisse beinahe niedergeschlagen. Ich merkte es, weil sie plötzlich thematisierte, mehr an sich arbeiten zu wollen. Ich wusste nur, dass sie gerade eine Affäre mit einem fünfundvierzigjährigen Mann hatte, der sich in einer Beziehung befand, und sie versuchte, sich damit zu arrangieren, indem sie das als alternatives Beziehungsmodell bezeichnete. Weil ich die Leichtigkeit zwischen uns nicht zerstören wollte, machte ich sie nicht darauf aufmerksam, dass es noch nicht mal eine offene Beziehung war, seine Partnerin wusste nichts von ihr. Wir gingen den Meditationspfad entlang, in Richtung des Museumsparkplatzes. Ida meinte, dass sie das Gefühl hatte, endlich runterzukommen. »Fühlt sich gut an, sich mit der Natur zu verbinden«, sagte sie, »als wäre man so richtig da.« Ich fühlte mich selbst hier entfremdet, auf einem Waldpfad am Fuße einer Klosterruine, umgeben von Vogelgesang und Salbei — die Welt wurde immer unwirklicher.
*
Die Kopfschmerzen fingen an, als ich Ende Juli zurück nach Berlin kam. Ich stieg in Spandau aus und fuhr mit der S-Bahn zum Zoo, um dort die U-Bahn zu nehmen. Auf dem Weg zur U9 ließ ich meine Maske an. Die Leute waren gereizt und quälten sich verschwitzt durch Reihen stehender Autos, hupende Taxis und vorbei an Doppeldeckerbussen, die die Pop-up-Radwege blockierten. In der Luft lag der Geruch urbaner Ballungsräume nach mehreren Wochen Hitzewelle. Ich bewegte mich durch verschiedene Gruppen von Leuten, die Videos drehten, Fotos schossen, ihre Lebensmittel dokumentierten. Ein junges Mädchen posierte vor einer Anzeigetafel von O2, auf dem für eine lückenlose 5G-Verbindung geworben wurde. Als ich in meiner Wohnung ankam, zog ich mich aus, stellte mich unter die Dusche und bestellte telefonisch Samosas bei dem nepalesischen Imbiss zwei Straßen weiter. Ich aß sie mit nassen Haaren auf meiner Yogamatte. Es war halb fünf. Was machte ich eigentlich sonst um diese Zeit? Sich wieder in einen Alltag einzugliedern, löschte auf seltsame Weise die zeitliche Kohärenz der Dinge, die in den letzten Wochen passiert waren, und hob einzelne Ereignisse grell hervor. In meinem Kopf sah dieser Prozess so aus wie ein Back-up mit Timemachine. In einem Ordner: die Klosterruine, Ida, Gregor, das AMP, Max, Anna, Phong, Lilly, die ihre Telefone aufeinander richteten und grinsten, Crucification Stretching, die Website eines christlichen Sportvereins, gelbe Markisen, die Geschichte von Eis Christina, Sentas nachgemachte Dior-Sonnenbrille auf dem Tisch bei Mare Azzurro, der kalte Hibiskustee in Idas Küche. In einem weiteren Ordner, der bereits längst archiviert zu sein schien: das Selfie von mir und Oma A., die blauen Augen der Frau, die neben ihrem Hut im See schwamm, der Geruch des Duftbaums im Taxi, mein Bruder auf der Sonnenliege, Oma A.s eingefallenes Gesicht im Krankenhausbett.
Die Website des Deutschen Wetterdienstes prognostizierte, dass die Luftqualität in Berlin die nächsten Tage schlecht sein würde. Ich vertrieb mir die Zeit damit, die Möbel in meinem Wohnzimmer neu zu arrangieren. Ich hatte nicht viele, es gab nur mein durchgesessenes Sofa, das ich auf zwei Handtüchern von links nach rechts schob, einen Hocker, einen Couchtisch, mein Bücherregal und das Jugendstil-Tischchen aus der Wohnung von Großtante Helga. Mir war nach meiner Rückkehr aufgefallen, dass alle Sitzgelegenheiten auf meinen Plasmabildschirm ausgerichtet waren, auch meine Yogamatte. Bis auf das schwarze, quadratische Loch gab es in meinem Wohnzimmer nichts, an dem sich mein Blick festhalten konnte. Wenn ich aus dem Fenster schaute, konnte ich in die Wohnungen meiner Nachbarn sehen, die mit Headsets an ihren Computern saßen, die Dielen mit Staubsaugern abgrasten, Yoga machten. Ich stellte den Fernseher an den schmalen Streifen Wand neben der Tür. Wenn ich jetzt einen Film schauen wollte, müsste ich einen Stuhl aus der Küche holen oder meine Yogamatte davor ausrollen. Mein Sofa zog ich weiter in die Mitte des Raumes. Auf den weißen Fleck, den mein Fernseher hinterlassen hatte, hängte ich ein Stück Fototapete. Es war ein Bild vom Mount Fuji und sah so ähnlich aus wie mein Bildschirmhintergrund, den ich seit fünfzehn Jahren benutzte. Unter dem Sofa kam meine Fritzbox zum Vorschein, sie war verstaubt und blinkte. Ich hob sie hoch und wischte die Oberfläche mit einem feuchten Lappen ab.
Nachdem ich sechs Wochen lang keine E-Mails gecheckt hatte, löste das Log-in auf Posteo Stress aus. Es lag nicht nur daran, dass ich mein zersplittertes iPhone aktivieren musste, um die Zwei-Faktor-Authentifizierung durchzuführen, ich wurde auf einmal von dem Gefühl befallen, gleich in eine Schlangengrube blicken zu müssen, deren Existenz ich in den letzten Wochen vergessen hatte. Fünf der vierzehn Mails drehten sich um neue Sicherheitsbestimmungen und Authentifizierungsoptionen. Sie waren alle von Posteo. Am meisten alarmierten mich die beiden E-Mails von anna_florczak@gmx.de. Ich hatte Oma A. vor Urzeiten einmal eine GMX-Adresse eingerichtet, aber bisher hatte sie den Service nie benutzt. Eine Mail beinhaltete nur einen Halbsatz — Damit du auch —, die andere hatte das Selfie, das ich von uns gemacht hatte, angehängt, aber keinen Text.
Ich rief sie an, um zu fragen, seit wann sie ihre E-Mail-Adresse benutzte und an wen sie das Foto noch geschickt hatte, vor allem wollte ich sie bitten, das in Zukunft nicht mehr zu tun, aber sie war schlecht drauf und blaffte, dass sie noch nie in ihrem Leben eine E-Mail geschrieben hatte. Ich fragte sie, ob sich jemand aus ihrer Rommé-Gruppe ihr iPad ausgeliehen hatte, und appellierte an ihre Angst, Opfer eines Rentner-Tricks zu werden — einmal war sie von einer Frau angerufen worden, die behauptete, meine Mutter zu sein, und sie aufforderte, 1000 Euro an einen vermeintlichen Unfallort zu bringen. »Ich weiß, dass ihr mich immer für dumm haltet«, sagte sie. »Das stimmt überhaupt nicht«, sagte ich. Sie meinte, dass es hier gerade coronabedingt Ausfälle gab und die Reha-Kurse nicht stattfinden konnten. Kurz danach würgte sie mich ab.
Durch die Mails vom Jobcenter klickte ich mich nur stichprobenartig. Dass meine Beraterin, Frau Kierspel, einen anderen Ton angeschlagen hatte, erschien mir in Relation dazu, dass Oma A. mit einer GMX-Adresse Fotos verschickte, absolut banal. Kierspel schien im Sommer eine Wesensveränderung durchgemacht zu haben. Vielleicht lag es daran, dass die vereinfachten Maßnahmen, die pandemiebedingt eingerichtet worden waren, nun nicht mehr griffen. Die Zeit, in der sich Kulturschaffende arbeitslos melden konnten, ohne invasive Fragen zu ihren grundsätzlichen Lebensentscheidungen beantworten zu müssen, war vorbei. Ich hätte vor zwei Wochen, als mein offiziell bewilligter Urlaub endete, eine Bewerbung einreichen müssen. Ich schrieb, dass ich Corona hatte, immer noch fiebernd im Bett lag und mich nächste Woche melden würde. Ich nahm mir vor, mich auf zwei Ausschreibungen für Germanistik-Professuren zu bewerben, weil die Chancen, genommen zu werden, gegen null gingen. Mein ALG1 lief noch ungefähr ein halbes Jahr. Bis dahin würde ich schon wissen, was ich dann wirklich machen wollte.
Bevor ich Sentas E-Mails las, ging ich ins Bad und rieb Tigerbalsam auf meine Schläfen. Meine Kopfschmerzen waren schlimmer als gestern. Ich schaute aus dem Fenster. Am Himmel standen tiefliegende, hellgraue Wolken. Bei jedem Wetterumschwung lag ich momentan flach. Bei der Frequenz an Gewittern und Stürmen war das zwei Mal die Woche. Sentas Mails waren lang und wirkten stark überarbeitet. Sie beschrieb ihren Alltag in Norwegen in Form von Pointen. Nachdem ihre Tanten abgereist waren, war sie jetzt noch eine Woche allein im Haus. Sie schrieb, dass sie um halb zehn aufstand, sich einen Espresso machte und dann in Bademantel mit dem Rad zum Meer fuhr, um einmal ins Wasser zu springen. Ist hier tradition, schrieb sie, und ich hatte das Bild einer Skyr-Werbung im Kopf. Sie schrieb von Spaziergängen durch Felder und Äcker und Schafsweiden, die in Strandabschnitte mündeten. Sonntag hatte sie ein Date mit einem 25-Jährigen, der auf seinem Profilfoto ein weißes T-Shirt und eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Sie würden in ein Fischrestaurant am Hafen gehen. In einer Mail war ein Selfie angehängt. Senta grinste in die Linse ihres Telefons, sie hatte Sommersprossen, hinter ihr Felsen und türkisfarbenes Meer, so klar, dass man Algen und Quallen erkennen konnte.
Die E-Mail von meinem Bruder las ich als letztes. Er hatte sie mir an dem Tag geschickt, als wir im Garten über das Marderabwehrsystem, Strahlung und mein Beafon geredet hatten, also vor drei Wochen. Die E-Mail bestand nur aus Links und ein paar Hauptsätzen. Richtig krank hier zum Beispiel. Der ist deswegen an Krebs krepiert. Das glaubt einem ja sonst auch keiner.
Ich betrat das Rabbithole um 14:24 über Wikipedia.
Router treffen ihre Weiterleitungsentscheidung anhand von Informationen aus der Netzwerk-Schicht 3 (für das IP-Protokoll ist das der Netzwerkanteil in der IP-Adresse). Von der Geschichte des Routers kam ich zum Artikel pfSense als VDSL-Router PC zum High-Speed-Router aufrüsten, von dort zur DuckDuckGo-Schlagwortsuche router strahlung gefährlich: Die drahtlose Datenübertragung über das WLAN verläuft über hochfrequente elektromagnetische Felder. Das Bundesamt für Strahlenschutz stuft die ausgehende Strahlung von WLAN-Routern als ungefährlich ein. Ich fand einen Artikel, in dem offen darauf hingewiesen wurde, dass die iPhone-Generation 9 den Richtwert des Bundesamtes für Strahlenschutz überschritt. Ich recherchierte zur Strahlenbelastung von Bluetooth. Infrarot. Dem Beafon. Röntgen. Meinem Plasma-TV. Dem iPhone 7. Ein gesundheitsrelevanter Effekt, der empirisch nachgewiesen war, war die Erwärmung des Körpers: Wenn wir elektromagnetische Strahlung aufnahmen, erwärmten wir uns. Genauso funktionierten Mikrowellen. Ich aß seit Jahren kein Essen, das aus Mikrowellen kam, und mied die Geräte, weil sie mir suspekt waren und ich befürchtete, dass sie Krebs erzeugten. Ich versuchte so wenig Zusatzstoffe wie möglich zu essen, weil sie nachweislich immunsystemrelevante Darmbakterien zerstörten, benutzte aluminiumfreie Deos, Shampoo ohne Silikone und Sonnencreme ohne Nanopartikel. Zwar hatte ich mich nie so richtig ausführlich damit auseinandergesetzt, was das alles im Detail für Auswirkungen hatte, aber war bislang immer davon ausgegangen, eine gesunde Herangehensweise an Ernährung und Hygiene kultiviert zu haben. Warum hatte ich nie über die elektromagnetische Strahlung von Routern nachgedacht? Wahrscheinlich lag es daran, dass ich Leute, die diese Art von Gedanken äußerten, einfach nicht ernst nehmen wollte. Vor einem Jahr hätte ich den Raum verlassen, wenn jemand so was gesagt hätte — binäre Diskussionen, fehlende Grauzonen, kein Platz für Zweifel und Ambivalenzen. So sprach nicht ich, sondern mein Bruder.
Abends zog ich den Stecker meiner Bluetooth-Boxen, meines TVs und meiner Fritzbox. Die Routerbox war wieder so staubig wie vor zwei Tagen, also wischte ich sie noch mal ab. Sie lag in meiner Hand wie ein Organismus, ein pulsierender Leib, der Strahlen aufnahm, Signale verarbeitete und in den Raum sendete — wie ein Radio, Gehörsystem oder Röntgengerät. Ich musste an Cronenbergs eXistenZ denken, eine der DVDs, die ich in meiner Flohmarktphase an jedem einzelnen Stand für 50 Cent gesehen hatte. Nachdem ich sie vom Strom genommen hatte, blinkte die Fritzbox noch kurz weiter.
*
Bis ich das Geräusch als Handyvibration verortete, dauerte es einen Moment. Das Telefon lag auf dem Dielenboden, neben meinem Bett. Es war eine SMS von Senta. Sie schrieb aus Norwegen, dass ich meine Fenster schließen sollte, weil der Grunewald brannte. Ich las die SMS im Bett. Ich hatte gestern gekifft und vergessen, mein Handy über Nacht auszuschalten. Jetzt war ich froh darum. Ich hätte den Geruch nach verbranntem Holz, der in der Luft hing, nicht mit einem Waldbrand in Verbindung gebracht, sondern wäre wahrscheinlich davon ausgegangen, dass im Viertel ein Straßenfest stattfand. Mit Sicherheit hätte ich auch nicht an schädliche Mikropartikel gedacht, die durch explodierte Feuerwerkskörper in die Südberliner Atmosphäre geschleudert worden waren.
Ich zog die Vorhänge zur Seite.
Der Himmel sah völlig normal aus, kaum Wolken, ein helles Stahlblau.
Ich schloss alle Fenster und fuhr in Schlafanzug meinen Rechner hoch. Ich stöpselte das LAN-Kabel ein. Auf einer lokalen Nachrichtenseite war ein Livestream eingerichtet worden. Hier erfuhr ich, dass der Brand durch Explosionen auf einem polizeilichen Sprengplatz ausgelöst worden war. Warum die Feuerwerkskörper und die dort gelagerte Munition explodiert waren und einen Brand entfachten, der gerade die Größe von zwei Fußballfeldern erreicht hatte, war nicht abschließend geklärt. In den Kommentaren mutmaßten einige Leute, dass es mit den extremen Temperaturen zu tun hatte: fünfunddreißig Grad, seit einer Woche. Andere meinten, dass es sich um fahrlässige Brandstiftung der Polizei selbst handelte. Heute Morgen war die Bundeswehr zur Unterstützung bei den Löscharbeiten angerückt. Sie hatten einen Roboter mitgebracht, der zur Identifikation und Beseitigung von Sprengkörpern eingesetzt wurde. tEODor wirkte wie ein plumper Automaton aus einem Eighties-Sci-Fi-Film. Ein kastenförmiges Objekt, an dem ein teleskopartiger Fortsatz mit integriertem Bolzenschussgerät angebracht war. Er war so groß wie eine Schubkarre und fuhr auf Ketten.
Über eine Website fand ich heraus, in welchen Luftströmungen die freigesetzten Mikropartikel in Berlin gerade herumwehten. Die Partikel, die letzte Nacht durch die Explosion entstanden, waren die gefährlichsten. Letzte Nacht hatte ich alle Fenster in der Wohnung offen gelassen. Vielleicht fühlte sich mein Hals deswegen so an, als hätte ich den Abend in einer Raucherkneipe verbracht — nicht wegen des halben Joints, sondern wegen der mikroskopischen Schadstoffteilchen, die ich die Nacht über inhaliert hatte. Ich räusperte mich.
Zu meinen Ängsten vor Strahlenbelastungen und den unmittelbaren Folgen von Mikropartikeln kamen während der Recherche noch Ängste vor realen Auswirkungen des Ukraine-Krieges hinzu. Während ich weg war, hatte ich kaum Nachrichten gelesen und war die geballte Informationsintensität überhaupt nicht mehr gewohnt. Die Einschätzungen der Bundesnetzagentur, dass es im Winter zu einer Gasknappheit kommen könnte, beunruhigten mich. In der Online-Presse waren polemische Schlagzeilen aufgetaucht: Nur noch einmal in der Woche duschen, heißes Wasser nur noch am Nachmittag? Ich hatte ein ungutes Gefühl, weil sich wegen der Gasknappheit der Abschlag im Winter verdreifachen würde. Der Geldbetrag, den ich monatlich bekam, wurde schon wegen der Inflation knapp, Ausgleiche wurden zwar angekündigt, würden aber — hier war ich mir sicher — nur marginale Veränderungen für Geringverdiener bringen. Ich erinnerte mich daran, dass ich als Kind nur einmal in der Woche gebadet hatte, am Samstag. Gerade duschte ich im Schnitt alle zwei Tage, war das zu viel? Oder noch im Rahmen? Ich konnte nicht einschätzen, ob ich länger als fünf Minuten duschte. Ich schaltete in jedem Fall das Wasser nicht aus, wenn ich meine Haare wusch oder mich einseifte, weil ich das zu kalt fand.
Im Laufe des Tages erhitzte sich meine Wohnung so stark, dass ich weitgehend unbekleidet herumlief. Im Wohnzimmer roch es außerdem latent nach dem, was ich mir unter Elektrosmog vorstellte. Wahrscheinlich wäre mir der Geruch nie so stark aufgefallen, wenn mir mein Bruder nicht per E-Mail einen Link zu einem Artikel geschickt hätte, in dem es um Elektrosmog ging, der sich durch ausbleibendes Lüften in Zimmern mit technischen Geräten sammelte. Auch wenn ich meinen Fernseher nie mit dem WLAN verband, stellte der TV durch die integrierte Funktion einen erhöhten Strahlenherd dar. Ich schloss die Vorhänge, damit die Sonne nicht auf die Stereoanlage schien und sie weiter aufheizte.
Den Router hatte ich bereits in einer Kiste im Flur ausgelagert.
Schlafen gestaltete sich bei sechsunddreißig Grad Raumtemperatur als schwierig. Ich blieb bis halb zwei wach, in der Hoffnung, dass es trotz geschlossener Fenster doch noch runterkühlen würde, aber die Wände des Altbauhauses waren viel zu dick und aufgeheizt. Die dünne Baumwolldecke warf ich sofort ab. Ich legte mich so auf den Rücken, dass meine Arme meinen Körper nicht berührten. Mein Hals fühlte sich immer noch rau an. Ich kreiste um die Sorge, mich durch die Nacht bei offenem Fenster einem Lungenkrebsrisiko ausgesetzt zu haben. Die Artikel, die ich online gelesen hatte, waren alarmierend. Es ging nicht nur um den Waldbrand, sondern auch um die Feinstaubbelastung durch die explodierte Munition. Ich erinnerte mich an Oma A.s Erzählung zu den Hustgeräuschen, die ich als Baby gemacht hatte, weil nahe und entfernte Familienmitglieder um mich herumstanden und rauchten. Jedes Mal, wenn ich an einem Joint zog, brannte meine Lunge.
Ich schlief mit dem tröstlichen Gedanken ein, dass mein Verdunklungsvorhang aufgrund seiner textilen Beschaffenheit die Mikropartikel aus der Luft filtern konnte.
»Heavy«, sagte Senta, als wir am nächsten Vormittag telefonierten und ich ihr erzählte, dass sich seit zwei Tagen mein Hals rau anfühlte. »Als hätte ich die letzte Nacht in einer unbelüfteten Raucherkneipe abgehangen.« Ich räusperte mich wieder, aber die Schleimschicht war immer noch da. »Das soll voll gefährlich sein, also lass die Fenster lieber erst mal zu.« Sie verfolgte den Waldbrand über Instagram und Twitter. Viele Aufnahmen waren mit Drohnen gefilmt worden und zeigten dunkelgraue Rauchschwaden, die vom Wald aufstiegen und die Sicht bis zur Avus verdunkelten.
Senta meinte, dass sie wahrscheinlich früher aus Norwegen zurückkommen würde. Ob ich Lust hatte, mit ihr zum Freibad am Insulaner zu kommen, falls der Grunewaldbrand bis dahin gelöscht war. Ich sagte nein — zu viele Kids mit iPhones. Ob ich mit zu einem Yogakurs in einem Studio am Kotti kommen wollte. Auch nicht — ich meinte: man kann sich nur über eine App anmelden. Ob ich dann vielleicht mit zu einer Veranstaltung von den Städelleuten kommen wollte. Auf gar keinen Fall — 1000 iPhones und Storys — mit Sicherheit wäre auch Lisa da. Ich schlug vor, was für uns zu kochen. Oder einen Spaziergang zur Sternwarte, nachts zum Beispiel.
»Was machst du eigentlich die ganze Zeit?«, fragte Senta dann.
Ich erzählte, dass ich seit einer halben Stunde auf dem Badewannenrand saß, weil es in meiner Wohnung achtunddreißig Grad waren. Meine Zehen waren vom mittlerweile lauwarmen Wasser schrumpelig geworden. »Bei dem Wetter nicht zu lüften ist schon krass«, sagte ich. In meinem Schlafzimmer roch es langsam wie im ehemaligen Kinderzimmer meines kleinen Bruders. Es war eine Mischung aus verbrauchter Luft, Körperausdünstungen und elektronischen Geräten. »Ich versteh dich irgendwie ganz schlecht«, meinte Senta irgendwann. Ich sagte, dass ich mich in letzter Zeit etwas mehr mit Strahlenbelastungen auseinandergesetzt hatte und jetzt nur noch über Lautsprecher telefonierte. Mein Telefon lag neben mir auf der Badablage. Ich schob es etwas mehr zu mir ran. »Besser so?«, fragte ich. »Warum machst du keine Kopfhörer rein?« »Es gibt keinen Audioanschluss.« »Vielleicht kannst du’s ein bisschen näher an deinen Kopf legen?« Ich stellte mir vor, dass sie mit ihren Airpods im Ohr auf einem grau melierten Sofa saß, vor ihr, ausgebreitet auf dem Wohnzimmertisch, ein Stapel poststrukturalistischer Theorie. Seit Anita die gutartige Hautwucherung am Ohr wegoperiert worden war, telefonierte Senta ausschließlich über ihre Airpods.
Sendeten Airpods nicht auch Strahlung aus, weil sie sich via Bluetooth mit den Endgeräten verbanden? Und war diese Form der Strahlung nicht vielleicht sogar viel schädlicher, weil die Kopfhörer direkt ins Ohr eingeführt wurden?
Ich fragte Senta, ob sie wusste, wie hoch die Strahlungswerte von Airpods waren.
Senta fragte, ob ich ein bisschen zu viel mit meinem Bruder abgehangen hatte. Die Frage lachte ich weg.
Das raue Gefühl in meinem Hals verschwand am nächsten Tag. Dafür konnte ich nicht mehr ignorieren, dass es in meinem Wohnzimmer zunehmend nach Elektrizität roch. Ich öffnete einmal das Fenster, um es direkt wieder zu schließen. Ich verarbeitete die Gemüse- und Fruchtreste aus meinem Kühlschrank zu einem Smoothie. Auch die Küchenmaschine roch bei den Temperaturen sofort, als wäre sie zu heiß gelaufen. Ich hörte die Postbotin, die einen Umschlag durch den Briefschlitz in meine Wohnungstür schob. Ich schaltete die Küchenmaschine ab und öffnete das Schreiben im Flur. Die Miete erhöhte sich wegen der gestiegenen Nebenkosten um sechzig Euro pro Monat. Sechzig Euro. Sechzig zusätzliche Euro. Strom, den ich über einen Ökostromanbieter aus der Schweiz erhielt, nicht mit einberechnet. Letztes Jahr hatte ich schon vierhundert Euro nachzahlen müssen, und da war Nordstream1 noch uneingeschränkt offen gewesen. Ich sah mich im Februar einen Brief von Schweizstrom öffnen, der einen akuten Weinkrampf auslösen würde, weil ich gezwungen wäre, mein ALG1, das dann sowieso bald auslief, aufstocken zu lassen. Ich dachte darüber nach, mein Schlafzimmer und mein Wohnzimmer zu tauschen. Das Schlafzimmer war leichter zu heizen, weil das Fenster kleiner war. Ich könnte das Zimmer, das zum Hof zeigte, den Winter über als unbeheizte Abstellkammer für meine Kleider nutzen. Nebenkosten würde ich reduzieren, indem ich weniger Geschirr verwendete, eine Tasse für einen Tag anstatt einer Tasse für jedes Getränk. Weniger waschen. Am besten nur noch einmal in der Woche. Nur noch nachts im Fitnessstudio duschen, wo ich vertraglich sowieso noch dazu verpflichtet war, eineinhalb Jahre zwanzig Euro pro Monat zu zahlen. Weniger am Gasherd kochen, dafür öfter den Reiskocher benutzen und als Ausgleich für den erhöhten Stromverbrauch die Benutzung der Küchenmaschine reduzieren — vielleicht wäre es gut, sie einfach wegzugeben, zusammen mit dem Paninigrill. Dann würde sich auch weniger Elektrosmog in der Wohnung bilden. Ich räumte die Küchenmaschine, die elektrische Zahnbürste, alte Bluetooth-Boxen und den Router in eine Kiste.
*
Vier Tage später war ich zum ersten Mal wieder draußen. Der Brand war seit gestern gelöscht. Die S-Bahn-Sperrung wurde aufgehoben, die Avus war wieder befahrbar. Ich fand aber, dass die Luft hier in Südberlin immer noch nach Rauch und Feuerwerkskörpern roch. Ich wartete mit FFP2-Maske und Fischerhut vor der Haustür, neben mir vier Umzugskartons, in denen sich Elektroschrott befand.
Senta kam ein bisschen zu spät.
Sie war weniger gebräunt als auf den Fotos, die sie mir per E-Mail geschickt hatte. Die Sommersprossen waren auch weg. Sie meinte, dass sie in den letzten Tagen nicht mehr so viel draußen gewesen war, weil sie einen Text fertig schreiben musste. »Die Sonne hat mich irgendwie auch genervt.« »Wie war’s mit deinen Tanten?« Eigentlich interessierte ich mich viel mehr dafür, wie sie die zehn Tage empfunden hatte, die sie allein gewesen war, vor allem die zwei Tage, an denen der Router ausfiel. »Intense«, sagte Senta. »Ziemlich dreamy.«
Bevor wir losfuhren, ging ich einmal ihre Altkleider durch. Ich fragte, ob ich das schwarze Shirt haben konnte. »Das könnte auch cute an dir aussehen«, sagte sie und hielt ein gelbes Top hoch. Ich lehnte ab, weil ich darauf hinarbeitete, abwechselnd einmal wöchentlich entweder nur noch dunkle oder helle Kleidungsstücke zu waschen. Senta meinte, dass ich irgendwie anders aussehen würde. Ich hatte, ohne darüber nachzudenken, meinen Fischerhut abgezogen, um das schwarze Shirt anzuprobieren. »Wird vielleicht mal wieder Zeit?«, fragte sie, als ich meinte, dass ich vor sechs Tagen das letzte Mal geduscht hatte. Senta hielt sich kurz die Hand vor den Mund, um einen Emoji zu imitieren, den sie früher öfter geschickt hatte.
Ich fuhr das Lastenrad, Senta mein Rad mit den Satteltaschen. Der Gürtel ihres Mantels flatterte hinter ihr her, ich befürchtete, dass er in die Speichen geraten würde, darum rief ich ihr zu, dass wir kurz anhalten sollten. Irgendwann, hinter der Kreuzung, die zur Autobahnauffahrt führte, bogen wir links ab. Vor der Mülldeponie warteten Autos, die von einem Mitarbeiter in neonfarbener Weste tröpfchenweise auf die Deponie gelassen wurden. Wir stiegen ab und schoben unsere Räder an der Schranke vorbei. Elektromüll wurde hinten rechts gelagert. Der Container war voller defekter Lampen, Küchenmaschinen, Toaster, Tastaturen, Schaltapparate, überall ragten Kabel aus dem Elektroschrotthaufen, sie hatten sich verheddert, bildeten Knoten, wuchsen unter das metallische Dach des Containers, in dem es weder Fenster noch eine Luke gab. Mit Sicherheit würde der Container irgendwann nach Indien verschifft werden. Ich hatte gelesen, dass Westeuropas Elektroschrott hauptsächlich nach Indien und China geliefert wurde und der Elektromüll aus den USA in Afrika landete. Ich räumte ein altes MacBook, einen defekten E-Book-Reader, einen kaputten Mixer, zwei Lampen mit Wackelkontakt und eine alte, externe Festplatte in den Container.
»Reicht es nicht, wenn du die Funktion ausstellst?«, fragte Senta. Sie hockte sich in den Schatten des Containers und rieb ihre Augen. Ihr Zustand war weniger auf Heuschnupfen zurückzuführen als darauf, gestern in einer Bar vier Negronis getrunken zu haben. Ich merkte, dass sie ein wenig defensiv wurde, als ich über Strahlung durch WLAN- und Bluetooth-Geräte, Router und iPhones sprach, die omnipräsent war, selbst wenn man die Geräte ausstellte. Dass man nachts den Router ausschalten, seinen Laptop nicht unbedingt auf den Bauch stellen sollte, okay, aber dass ich deswegen alle technischen Geräte mit WLAN oder Bluetooth-Funktion aus meiner Wohnung entfernte, fand sie dann doch etwas übertrieben.
Sie warf die Altkleider rechts in den Container, kaputtes Geschirr, zerfledderte Bücher in den Container links.
Auch auf die Gefahr hin, zu klingen wie Zerzan oder Kaczynski, lag es auf der Hand, warum kaum über gesundheitsschädliche Effekte von WLAN-Geräten gesprochen wurde. Seit Jahrzehnten wurden sie von global-agierenden, markt-dominierenden Tech-Firmen vertrieben. Auch wenn immer deutlicher wurde, was diese Technologien wirklich anrichteten, wurden die schädlichen Effekte wie üblich als irrelevant abgetan. Dass Zigaretten das Lungenkrebsrisiko erhöhten, war bereits in den Zwanzigern beobachtet worden, aber es hatte gut sechzig Jahre gedauert, bis sich erste strukturelle Veränderungen einstellten. Ich versuchte das zu formulieren, ohne so zu klingen wie Gregor. Das war noch so ein Punkt: die Geräte trug man meist in Hosentaschen, auf Höhe von Reproduktionsorganen, oder Brusttaschen, auf Höhe des Herzens. Senta trank jeden Tag Kokoswasser, um Entschlackungsprozesse anzuregen — wie oft berührte sie den Bildschirm ihres iPhones? »Das ist doch auch der Grund gewesen, warum du dir die Strahlenschutz-Hülle gekauft hast.« In Sentas iPhone-Tasche gab es ein Fach, das mit Metallen ausgekleidet war und das Smartphone hermetisch abriegelte. Vor zwei Jahren hatten sich alle in ihrem Freundeskreis diese Hülle gekauft. Ich erst vor zwei Monaten.
Es war das erste Mal, dass mich Senta ansah, als würde ich langsam in die Unzurechnungsfähigkeit abgleiten.
»Ich weiß, dass bei dir gerade ganz schön viel los ist, mit deiner Oma, deinem Bruder und allem.« Ich kippte die Tüte mit Chipkarten, Kartenlesegeräten, Kabeln und Steckdosenaufsätzen in einen Korb, der vor dem Elektroschrottcontainer aufgestellt war. »Aber wird das nicht langsam obsessiv … also, wo willst du damit hin?« Die Frage fühlte sich patronisierend an. Wieso war es so schwer zu verstehen, dass ich nichts anderes machte, als die iPhone-Hülle auszuweiten? Oder drastischer formuliert: Warum war Senta nicht in der Lage zu begreifen, dass die Hülle nichts brachte, wenn sie weiterhin mit dem MacBook auf dem Schoß Serien streamte?
Ich wollte mich nicht mit ihr streiten.
Ich fragte, ob unser Kino-Date noch stand. Wir wollten nächste Woche Jurassic World Dominion im verwaisten Cineplex in Steglitz schauen.
»Klar«, sagte Senta. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf.
Als ich von der Toilette zurückkam, sah ich, dass Senta den Elektroschrottcontainer filmte.
Der Trailer von Jurassic World Dominion war Ende März einer der letzten Clips, die ich über den YT2MP4-Converter runtergeladen hatte. Ich fieberte dem finalen Teil der Hexalogie seit einem Jahr entgegen. Wahrscheinlich hätte ich mich für keinen anderen Film in ein Cineplex bewegt. Den Film auf Deutsch zu sehen, konnte ich verkraften, solange ich mich dafür in einem Kino aufhielt, das weitgehend leer war. Horrorvorstellung, in einem Kino zu landen, wo »Gentleminions« saßen, die TikTok-Clips aufnahmen — Senta hatte erzählt, dass das nach dem Kino-Release von Minions: The Rise of Gru ein Ding gewesen war, Kids, die in Anzügen ins Kino strömten und sich während der Vorstellungen gegenseitig filmten.
Mein Bruder meinte, er würde warten, bis Jurassic World Dominion auf Popcorntime wäre. Wir telefonierten an seinem Geburtstag etwa fünfzehn Minuten. Es war das erste Mal, dass er weder Corona noch Impfpolitiken thematisierte. Während wir redeten, merkte ich, dass ich mich selbst riechen konnte. Trotz täglicher Katzenwäsche rochen meine Achseln schlecht. Außerdem sonderte meine Kopfhaut einen unangenehmen Geruch ab. Ich wollte wissen, was er heute noch vorhatte. »Nichts Besonderes.« Kuchenessen. Mit dem Hund raus. Er hatte ein neues Ballwurfgerät gekauft, mit dem man den Ball mühelos fünfzig Meter weit schleudern konnte. Dann mit Oma A. zum Friedhof. Mein Bruder war jetzt, seit sie die Reha vorzeitig beendet hatte, öfter unten, um sie daran zu erinnern, mit dem Fingerhantelgerät zu arbeiten oder ihre Hüfte durch gezielte Übungen zu mobilisieren. Einmal am Tag ging er mit ihr zur Urnenwand am Friedhof, wo sie ein kurzes Gespräch mit Opa J. führte oder Margeriten auf die Steinwand legte. Die Verantwortung schien ihm gutzutun, er ging früher schlafen und machte direkt morgens eine Trainingseinheit auf den Fitnessgeräten im Gartenhäuschen. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, aber ich fand, er hatte eine andere Stimme bekommen, er klang irgendwie zuversichtlicher.
Nach unserem Telefonat ging ich ins Bad und sprühte mir Trockenshampoo in die Haare. Danach roch ich immer noch schlecht, wurde jetzt aber zusätzlich von einer künstlichen Pfirsich-Wolke umgeben.
Senta hatte recht, ich musste mal wieder duschen.
Ich hielt mich mit Datteln und grünem Tee bis halb drei wach und fuhr dann nach Steglitz ins Fitnessstudio. Auf dem Weg durch das Rheingauviertel sah ich am Himmel Sterne, der Mond hing als aufgeblähte Kugel über den Dächern. Der Platz vor dem Einkaufszentrum war wie ausgestorben. Ich nahm den Fahrstuhl ins oberste Stockwerk und checkte mit meiner Mitgliedskarte ein. Bis auf einen jungen, schlaksigen Mann war niemand hier. Im Fitnessraum hingen überall TV-Bildschirme und Boxen, die nicht mit Kabeln verbunden waren, sondern offensichtlich über Bluetooth funktionierten.
Ich ging direkt zu den Umkleidekabinen und zog meine FFP2-Maske aus.
Ich hatte den gesamten Duschraum für mich allein.
Ich stellte das Wasser an und ließ es über meine Haare laufen. Es fühlte sich gut an. Ich wusch meine Haare zwei Mal und achtete darauf, meine Kopfhaut dabei gründlich sauber zu massieren. Meine Achseln rochen immer noch nach Schweiß, obwohl ich sie mehrfach intensiv abgeschrubbt hatte. Ich ging zu meinem Spind, holte den Einwegrasierer aus dem Nebenfach und rasierte mich unter den Armen. Eigentlich war es nicht erlaubt, sich im Duschbereich zu enthaaren, aber um halb drei Uhr nachts war sowieso niemand hier — wen juckte es also, dass ich den Abfluss verstopfen könnte.
Als ich mich mit Kokosöl eincremte und vor dem großen Spiegel föhnte, fiel mein Blick auf die Digitalwaage. Es gab die Möglichkeit, sich via Bluetooth mit der Anzeigetafel zu verbinden, um per App oder Apple-Watch Angaben zu Gewicht, Wasserhaushalt und Fettanteil zu speichern.
*
Irgendwie war ich enttäuscht, als ich am Cineplex ankam und Senta meinte, dass ihre Cousine gleich noch dazukommen würde. Ich schloss mein Rad an einer Laterne an. Weil ich nur noch spätabends rausging, um in 24/7-Supermärkten einzukaufen, empfand ich die Stadt um diese Uhrzeit als extrem überfüllt. Überall waren Menschen, die draußen saßen, um Eis zu essen oder Bier zu trinken. »Ich hab vergessen, dass sie wieder bei mir schläft, weil sie sich eine Wohnung anschaut, sorry, eh.« »Wie viele Wohnungen will sie eigentlich kaufen?«, fragte ich. Ich ließ meine Maske auf. Ich befürchtete, dass Sentas Cousine unnötig viel mit ihrem iPhone herumspielen und im Foyer des abgewrackten Kinos auf dem antiquierten roten Teppich, der sich an den Seiten bräunlich hochrollte, Storys generieren würde. Den Film würde sie mit Sicherheit auch nicht ernst nehmen. Senta meinte, dass Nike eben immer noch keine Eigentumswohnung gefunden hatte. »Diesmal scheint aber mehr dabei zu sein. Wahrscheinlich nimmt sie die in Moabit.« »Hast du eigentlich das Buch gelesen?«, fragte ich Senta. »Welches Buch?« »Jurassic Park.« Dann fragte ich sie, ob sie wusste, dass es in der deutschen Übersetzung Dino Park hieß. »Irgendwie lächerlich, aber auch neunziger Vibe.« Es fühlte sich gut an, mich besser in der Lore des Jurassic-Universums auszukennen als Senta. Ich war ganz in meinem Element, als ich Verbindungen zu gesellschaftlichen Debatten herstellte, die Michael Crichton 1990 in der Buchvorlage aufgegriffen hatte. Dass es um Klonen ging, war offensichtlich. »Dolly wurde 1996 geboren. Das heißt, vorher hat es längst eine Debatte um Gentechnikversuche gegeben. Damals ging es darum, ob Klone die Kleinfamilie abschaffen würden.« Crichton machte daraus nicht weniger als die Frage nach »Gott«. Letztlich war die Botschaft eine düstere: In der ersten Jurassic Park-Trilogie waren Dinosaurier Monster, außer Kontrolle geratene Produkte, die letztlich das Ende der menschlichen Rasse herbeiführen würden. Es war eine kulturpessimistische Parabel darauf, wie sich eine Gesellschaft durch morbiden Größenwahnsinn abschaffte, der unter der Schirmherrschaft biotechnologischer Entwicklung lief, so wie in Terminator. Senta fragte, wie sich das bei den neuen Filmen entwickelt habe. Ich meinte, dass nicht mehr Dinosaurier als Produkt des Menschen stilisiert oder stigmatisiert wurden, sondern sich die Grenze zwischen »natürlich«, ergo »schützenswert« und »unnatürlich«, ergo »nicht-schützenswert« verschoben hatte. »Schau dir den ersten Teil der neuen Trilogie an, Jurassic World I kam 2015 raus. Hier ist nicht mehr der T-Rex der Antagonist, sondern der Indominus Rex, in dessen DNA verschiedene Attribute von Oktopussen, Fröschen usw. eingebaut worden sind, um das Tier für die Kriegsführung zu designen. Eigentlich geht es um außer Kontrolle geratene Biowaffen«, führte ich aus.
Ich glaube, Senta war zum ersten Mal ernsthaft froh, ihre Cousine zu sehen. Sie kam mit Prada-Schlappen und einem Bandeau-Top aus der U-Bahn-Station. Irgendwie kam sie mir kleiner vor als letztes Jahr, vielleicht lag es daran, dass sie ihre Haare offen trug. Sie wehten in mein Gesicht, als wir uns umarmten. Nike fragte mich, ob ich auf einem Festival oder so was gewesen war. »Warum?«, fragte ich. Meine Haare konnten unmöglich noch stinken, meine Achseln rochen auch nicht, nachdem ich sie glattrasiert und dann mehrfach mit Deo eingerieben hatte. Vielleicht lag es an meinem T-Shirt? Ich hatte blindlings nach einem schwarzen T-Shirt gegriffen, das über meiner Stuhllehne hing. Ich drehte meinen Kopf leicht nach rechts, um an dem Kragenbündchen zu riechen. Erst jetzt fiel mir der leichte Geruch nach in der Waschmaschine vergessener Kleidung auf. Ich meinte, dass ich wegen der Gasknappheit weniger duschte. Nike lachte, weil sie dachte, ich hätte einen Witz gemacht. »Ich find ja, dass wir alle ein bisschen weniger lange duschen können, aber gar nicht mehr duschen führt irgendwie auch am Ziel vorbei.« »Was ist denn das Ziel?«, wollte ich wissen. Nike roch für mich wie ein Seifenspender, in den man Patschuli-Öl geträufelt hatte. Senta sagte, dass sie es unmöglich fand, wie Politiker sämtlicher Parteien gerade großkotzig dazu anhielten, sich beim Duschen ein bisschen zusammenzureißen, während es viele Menschen gab, die durch die Inflation unter die Armutsgrenze gerieten und deswegen gezwungen waren, ihr Geschirr kalt zu spülen. »Vielleicht sollten sie einfach ein bisschen mehr arbeiten«, schlug Nike ernst gemeint vor. Ich prüfte noch mal mein Shirt. Auf der linken Seite roch es weniger schlimm als auf der rechten. »Wie viel verdienen Politiker?«, fragte ich, um das Thema Körperpflege wieder zu verlassen. Daraufhin regte sich Senta über Lindner auf und verglich ihn mit Marie Antoinette. Das Gespräch über Lindners steuerfinanzierte BahnCard100 ebbte erst ab, als wir an der Kinokasse anstanden. Nike legte das Geld für die Tickets vor, sie meinte, dass wir es ihr paypalen sollten. Dass sie Bock auf Nachos hatte, fiel ihr erst ein, als wir den Kassenbereich schon wieder verlassen hatten, also stellten wir uns ein weiteres Mal an. »Was ist mit euch, will jemand teilen?«, fragte sie. Ich hatte mich im Supermarkt mit Bananenchips eingedeckt und eine Flasche Wasser in meinem Rucksack. Senta meinte, dass sie keinen Bock auf Nachos hatte, aber bei salzigem Popcorn dabei wäre. Ich zählte das Geld für das Kinoticket ab, weil ich es später bestimmt vergessen würde. Nike hatte kein Portemonnaie, nur ein kleines Lederetui, in dem sie ihre Kreditkarten lagerte. Deswegen wollte sie kein Bargeld annehmen. Ich meinte, dass ich kein PayPal mehr hatte. »Sofortüberweisung?« »Geht auch nicht.« Sie fragte, ob ich immer noch so fanatisch war, was das Internet anging, und ob sich irgendwas mit dem Groschenroman ergeben habe. »Darum hast du dich doch gelöscht, oder?« Ich meinte, dass es mittlerweile um grundsätzliche Lebensfragen ging. »Aha«, sagte Nike, »und wie sieht es beruflich aus?« Ich wusste selbst nicht, warum ich meinen Zustand als inbetween jobs bezeichnete, wahrscheinlich waren Nikes Prada-Schlappen dafür verantwortlich. »Ich hab mich gerade für ein Research-Department bei einer NGO beworben«, sagte ich dann noch. Das war drei Monate her. Ich war nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden. »Ernsthaft? Wann das denn? Und was für eine NGO?«, fragte Senta. »Das heißt, du bist arbeitslos«, sagte Nike. Sie fragte, ob es nicht seltsam war, so picky zu sein, wenn es um Daten im Internet ging, aber dann beim Arbeitsamt sämtliche Infos zu Vermögen, Ein- und Ausgaben, Aufenthaltsorten und »jeden einzelnen Schritt, den man macht«, offenlegen zu müssen. Für mich war das Internet mittlerweile so ein amorphes und unkontrollierbares big other, dass ich staatlichen und zentralisierten Institutionen beinahe blind vertraute. Ich antwortete irgendetwas mit Kontrollgremien, Prüfinstanzen und Datenschutzauflagen.
Ich wollte unbedingt den Werbeblock sehen, darum drängte ich Nike und Senta dazu, schon in den Kinosaal zu gehen. Wir saßen in einem gedrungenen Saal, mittig, der Bildschirm kam mir kaum größer vor als mein Plasma-TV. Bisher waren wir die einzigen Leute hier. Nike und Senta unterhielten sich über einen Rohrbruch im Haus in Norwegen, es ging um neue Fliesen, eine neue Dusche. Ich zog die Schuhe aus und legte meine Füße auf der Lehne des vorderen Sitzes ab.
Es lief eine Werbung für Magnum. Für Berlin. Für die BVG. Für Sony-Kopfhörer. Dann kam die 5G-Werbung von O2. Das 5G-Netz wurde als unsichtbare Struktur etabliert, der wir in einer Kamerafahrt folgten. Zuerst die gläserne Fassade eines Hochhauses runter, dann in Highspeed über einen abgelegenen Waldweg und durch den abgeschotteten Keller eines Gebäudekomplexes oder einer Firma, die verschiedene unterirdische Stockwerke haben musste, die Gott weiß wie tief in der Erde vergraben lagen. Weiter über einen See, dessen Wasseroberfläche sich unter dem Druck des unsichtbaren Dings kräuselte, dann über ein Weizenfeld. Dass es sich um einen viel größeren Körper handelte als bisher angenommen, wurde deutlich, als der Weizen so auseinanderwogte, als wäre ein Flugobjekt in einer immensen Geschwindigkeit darüber hinweggeflogen. O2 spielte hier mit Tropen aus älteren Sci-Fi-Filmen, die keine Angst mehr machten, aber trotzdem Gänsehaut erzeugen konnten. Es hatte einen ähnlichen Effekt auf mich wie das Motiv des bebenden Wasserglases in den Jurassic Park-Filmen. Auf affektiver Ebene funktionierte selbst das überzeichnete Voiceover. Es war die Stimme einer Frau, die beschwörende Hauptsätze aneinanderreihte: Es ist da. In jedem Moment. Zu jeder Zeit. Du kannst es spüren. Du kannst es testen. Nutzen. Aber sehen kannst du es nicht. Schließlich: Manche Dinge glaubt man erst, wenn man sie sehen kann. Die Aliens lebten längst unter uns. Das Netz war überall. Es war kein singuläres Wesen, sondern ein Schwarm, der am Ende des Werbespots als dominoartig aneinandergereihte Lichtstäbe sichtbar gemacht wurde. Es waren zusammengeführte Fotos des Messgeräts, anhand derer O2 den 5G-Empfang visualisiert hatte. Dafür erhob sich eine Drohne, an der ein stabförmiges Messgerät befestigt war, und flog bei Nacht durch eine Stadt — der Stab leuchtete bei erfolgreich hergestellter Verbindung. Ich erkannte Frankfurt an dem Licht der Pyramide, die sich auf dem Messeturm befand. Die modifizierte Drohne bewegte sich vom Gallusviertel aus über den Main, überquerte den Eisernen Steg, und flog weiter in Richtung Skyline. Der Leuchtrhythmus bewies, dass die Verbindung lückenlos funktionierte. Ich fragte mich, ob Senta und Nike den Inhalt der Werbung genauso verstörend fanden wie ich. Beide überprüften noch einmal ihre iPhones, bevor sie den Flugmodus anstellten.