Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Anne blinzelte, als der Rückstoß sie aufweckte. Der einlullende Rhythmus ratternder Räder hatte ihr doch noch zu etwas Schlaf verholfen. Sie schüttelte ihre Müdigkeit ab und trat aus dem Dämmerlicht des Abteils in die Helligkeit des Bahnsteigs. Das pulsierende Leben dort schleuderte sie rücksichtslos in den Alltag und sie verwünschte jetzt ihre Entscheidung, die Urlaubstage auf Kreta buchstäblich bis zur letzten Minute ausgedehnt zu haben. Allerdings hatte sie schon mehr Arbeitstage mit Schlafmangel bewältigt.
Der Fahrer des ersten Wagens am Taxistand, ein Südeuropäer, lehnte an einem Mercedes und las eine Zeitung, deren Sprache Anne nicht identifizieren konnte. Nur widerstrebend faltete er sie zusammen, als sie ihm winkte. Der frische Oktoberwind ließ Anne frösteln und auch ohne den eindeutigen Blick des Taxichauffeurs auf ihre verschwitzte Seidenbluse hätte sie den obersten Knopf geschlossen. Der Fahrer roch nach Knoblauch und Annes Wunsch nach einer Dusche wurde fast übermächtig. Lange und ausgiebig palaverte er über die unzulänglichen Sportberichte des Tagblatts, als Anne ihr Fahrtziel genannt hatte. Sie war froh, seinem knoblauchgeschwängerten Redeschwall zu entkommen, als sie nach dem Stopp and Go des morgendlichen Stadtverkehrs das Zeughaus erreichten. Das altehrwürdige Fachwerkhaus in der Stadtmitte beherbergte nicht nur die größte Zeitung Schweinfurts, das Schweinfurter Tagblatt, sondern auch Annes Arbeitsplatz.
Ihr kleiner 1er BMW stand noch auf seinem Parkplatz vor dem Zeughaus, unter dem Scheibenwischer steckte ein Blatt, vorwurfsvoll wie ein Strafzettel. Sie würde Rechenschaft darüber ablegen müssen, dass sie mit ihrem Wagen zwei Wochen lang einen der wenigen Parkplätze belagert hatte, aber diesen Ärger nahm sie in Kauf. Hier hatte er wenigstens sicher gestanden. Anne verstaute ihren Koffer und nahm den offiziellen Weg in die Redaktion. Die Wendeltreppe im Turm des Gebäudes zum ersten Stock diente ihr täglich als Fitness-Gradmesser und auch heute nahm sie zwei Stufen auf einmal.
Ein wenig atemlos erreichte sie den Gang zu den Büros und sah Phil Eisenmann in seiner ganzen Länge von fast eins neunzig am Kaffeeautomaten lehnen. Sie verlangsamte ihren Schritt und fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene dunkelbraune Haar. Sie musste fürchterlich aussehen.
Sie verschluckte ihren spontanen Gruß – Phils Blick war nach links gewandt, wo jetzt Barbara auftauchte, die junge Praktikantin, die sich seit ein paar Wochen die Zeit bis zum Studium beim Tagblatt vertrieb. Phil erinnerte Anne an einen satten, schwarzen Kater, wie er sich nun reckte und ein paar Schritte auf Barbara zuging. Sie lachte perlend und erzählte irgendeine Belanglosigkeit. Wann hat sie jemals etwas anderes von sich gegeben, dachte Anne. Dabei gestikulierte die Praktikantin mit den Händen, wobei sich ihr knappes Top hob und ihre biegsame Taille mit dem gepiercten Bauchnabel freigab. Die beiden schienen sie nicht zu bemerken, stellte Anne mit leichter Enttäuschung fest. Da hielt ihr jemand von hinten die Augen zu.
„Geschenkt, Christian“, sagte sie im Umdrehen mitten in das strahlende Gesicht Christian Classens, des selbst ernannten Kulturredakteurs ihres Teams, einen Status, den er ausschließlich seiner liebenswerten Exaltiertheit zu verdanken hatte.
„Lass’ Dich anschauen.“ Christian hielt Anne auf Armeslänge entfernt, nachdem er seine obligatorischen drei Küsse an ihren Wangen vorbei in die Luft geworfen hatte. „Wie die schaumgeborene Venus.“
„Die schaumgeborene Aphrodite, wenn schon“, kommentierte Phil, der sich von Barbara gelöst hatte und auf sie zukam. „Anne war in Griechenland, das ist da, wo auch Zeus gewohnt hat.“
„Willkommen zu Hause“, begrüßte er sie mit festem Händedruck „wir haben dich verdammt vermisst.“
„Bist du versehentlich in eine Steckdose gekommen?“, wandte er sich an Christian und erst jetzt bemerkte Anne, dass dieser sein Haar verändert hatte. Es erinnerte stark an den Mantel einer Kastanie und sie lachte laut.
„Gefällt dir etwa meine neue Frisur nicht?“, fragte Christian so geknickt, dass Anne ihn augenblicklich tröstete: „Nein, deine Frisur ist in Ordnung, aber vielleicht solltest du etwas weniger Gel verwenden.“ Dabei zupfte sie an einigen Strähnen – und sofort sah Christian viel weniger wie ein gestylter Igel aus.
„Hast du schon einmal daran gedacht, ihn zu adoptieren“, fragte Phil und der Schalk blitzte in seinen Augen, deren Blau so intensiv war, dass er schon mal mit Paul Newman verglichen wurde.
Anne fühlte sich wieder zuhause – mein Gott, hatte sie die täglichen Sticheleien vermisst.
„Da habe ich ältere Rechte.“ Inzwischen kam auch Wolfgang Bauer aus dem Großraumbüro, das sich Phil, Christian, Wolfgang und halbtags auch Angie teilten. Ihre alte Schulfreundin Angie beim Tagblatt, wiederzutreffen, nachdem sie sich einige Jahre aus den Augen verloren hatten, war für Anne die Überraschung schlechthin gewesen.
Wolfgang, sommersprossig, gutaussehend und mit einem Schopf dichter blonder Haare, verkörperte perfekt das Klischee des Sunnyboys. Schon deshalb fühlte sich Anne wahrscheinlich in seiner Gegenwart unbehaglich.
„Ich störe ja höchst ungern.“ Carla, die Sekretärin des Redaktionsleiters, streckte ihren Kopf aus dem Zimmer. „Aber wollt ihr euer Meeting nicht auf später vertagen, Wieland wird gleich hier sein … Hallo, Anne.“
Carlas Gutmütigkeit den Kollegen gegenüber sah ihr Chef gar nicht gern. Deshalb wurde sie auch trotz ihrer engen Zusammenarbeit mit Wieland von allen heiß geliebt.
„Man hört euch schon am Eingang.“ Kurt Falser, Wielands Stellvertreter und Annes Mentor, seit sie beim Tagblatt war, tauchte am Ende der Wendeltreppe auf. „Aber ich hätte es mir denken können, dass Anne wieder da sein muss und alle Redakteure um sich schart.“ Ein gutmütiges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, während er sich über seine Geheimratsecken strich.
„Es reicht“, schaltete sich jetzt Phil ein, „komm mit, Anne, ich muss dir noch ein paar Unterlagen geben, wir beide müssen in einer Stunde im Rathaus sein, Ordensverleihung für verdiente Kommunalpolitiker.“ Warum hatte Phils Ton jetzt scharf geklungen?, fragte sich Anne.
Sie schickte sich zum Gehen an und erstarrte plötzlich. Die Tür zu Wielands Zimmer war geöffnet und im Türrahmen stand er selbst. Sein rundes Gesicht war gerötet, noch betont durch die akkurat gebundene rote Krawatte. Er hatte bereits sein Jackett ausgezogen und auf dem weißen Hemd leuchtete sie wie ein Fanal. Wie lange stand er wohl schon dort? Er räusperte sich, bevor er zu sprechen begann, und alle Gesichter wandten sich in seine Richtung.
„Frau Anne Michel ist wieder da, wie ich sehe – oder besser höre … Ich schätze Mitarbeiter, die dazulernen können – sie war doch in einem Robinson-Club auf Kreta, oder?“ Er lachte wiehernd. „Bilden die eigentlich auch Animateure – äh – Animierdamen aus?“
Bis auf Phil lachten alle und Anne fühlte sich, als habe man ihr einen Eimer kaltes Wasser übergeschüttet.