„Anne, du schaust jetzt schon fast zehn Minuten aus dem Fenster ohne ein Wort zu sagen.“ Phil lenkte den Polo des Tagblatts auf einen freien Parkplatz am Straßenrand. „Möchtest du darüber reden, bevor wir uns gleich der Polit-Meute stellen müssen.“
„Entschuldige Phil – ich wollte dich nicht kränken. Erst fährst du mich nach Hause, damit ich mich frischmachen und umziehen kann, und dann sitze ich im Auto wie ein bockiges Gör.“
„Darum geht es doch überhaupt nicht … Du knabberst noch an Wielands Unverschämtheit, nicht wahr?“
Anne schluckte den Kloß im Hals hinunter. Phils Fürsorge machte alles nur noch schlimmer. Wenn sie jetzt über ihre Enttäuschung sprach, würde sie weinen müssen, und das war wohl keine Ideal-Voraussetzung für einen Termin im Rathaus.
„Danke Phil, es geht schon wieder. Weißt du, ich hatte mich wirklich auf meinen ersten Arbeitstag gefreut.“
„Und es gibt keinen Grund, dir diese Freude nehmen zu lassen. Weißt du, dass der Oberbürgermeister ausdrücklich nach dir gefragt hat?“
„Woher kennt er mich? Ich bin doch noch gar nicht lange beim Tagblatt …“
„Offenbar lange genug – es hat sich herumgesprochen, dass du schreiben kannst. So, und jetzt lass’ uns fahren, sonst kommen wir bestimmt zu spät.“
Auch wenn ihr klar war, dass Phil sie nur trösten wollte, seine Worte hatten bewirkt, dass es ihr besser ging. Der Parkplatz hinter dem Rathaus war schon besetzt und sie mussten im Parkhaus des Georg-Schäfer-Museums parken.
„Augenblick noch“, bremste sie Phil, als Anne aussteigen wollte und zog eine Krawatte aus der Tasche seines grauen Anzugs. „Nicht früher, als es unbedingt sein muss“, erklärte er auf Annes Kopfschütteln. Sie stand ihm hervorragend, er war sich ganz bestimmt bewusst, dass die Ton-in-Ton-Kombination von Hemd und Krawatte seine blauen Augen unterstrich.
„Hast du eigentlich jemals nach deinen Ahnen geforscht, Phil“, fragte sie, als sie gemeinsam über die Metzgergasse zum Rathaus gingen. Vor ihnen lag der Wochenmarkt. Unter den bunten Schirmen der Marktstände waren Kürbisse in allen Schattierungen von Orange neben violetten Astern und roten Dahlien ausgelegt und Anne genoss die bunte Pracht.
„Wären meine Altvorderen denn wichtig für dich?“
„Nein“, lachte sie, „aber du musst in direkter Linie von den Kelten abstammen.“
„Wieso das denn?“
„Blaue Augen und schwarzes Haar verweisen doch auf keltische Wurzeln – habe ich zumindest mal gelernt.“
„Das musst du Carla erzählen, wenn sie wieder mal behauptet, meine Haare sähen aus wie eine aufgeplatzte Matratze.“
Annes Blick fiel auf das Schaufenster eines Blumengeschäfts auf der rechten Seite, in dem sie sich spiegelten. Gut sahen sie zusammen aus, sie selbst in ihrem engen, schwarzen Satin-Kostüm und Phil im Anzug. Wenn er sie nur nicht so überragen würde. Die Vorstellung von Phil und Barbara vor dem Kaffee-Automaten drängte sich ihr auf. Mit ihren langen blonden Haaren hätte Barbara einem Renaissance-Maler Modell stehen können, auch ohne ihre Model-Figur und ihre endlos langen Beine. Sie passte doch viel besser an seine Seite als sie selbst mit ihren gerade mal eins fünfundsechzig.
Kleine Grüppchen festlich gekleideter Männer und Frauen standen schon vor der Rathausdiele und unterhielten sich gedämpft, als Anne und Phil ankamen. Die frühbarocke Rathausdiele, Forum vieler kultureller Marksteine der Stadt, war geschmückt zu dem feierlichen Anlass. Vor dem Rednerpult des Oberbürgermeisters stand ein Arrangement aus Sonnenblumen in einer Bodenvase. Davor waren die Stühle halbkreisförmig angeordnet. Im Hintergrund legten Mitarbeiter einer Catering-Firma letzte Hand an das kalte Büfett, das schon vor dem Festakt begehrliche Blicke auf sich zog und für Unruhe sorgte.
„Schlechtes Timing“, raunte Anne Phil zu, „der Oberbürgermeister wird es schwer haben, mit seiner Laudatio gegen so kollektiv auftretende Gier anzukämpfen.“
„Du sagst es! Drück dieser Herde hier Keulen in die Hände und wirf ihr Bärenfelle über und sie vergisst auf der Stelle, weshalb sie gekommen ist und wendet sich dem Eigentlichen zu. Aber, zur Sache, Anne – was hältst du von Aufgabenteilung? Du den Bericht, ich die Fotos und ein paar Interviews?“
„Ich den Bericht …“ Beklommenheit mischte sich in Annes Frage. „Ist das nicht deine Domäne?“
„Im Gegensatz zu dir weiß ich sehr wohl, was du kannst – nur Mut, Anne.“ Phil fasste sie am Ellenbogen und Anne fühlte seine Zuversicht auf sie übergehen. Mehrere Köpfe flogen herum, als sie sich einer Gruppe näherten.
Sie war noch nicht lange genug beim Tagblatt, um die Honoratioren richtig einordnen zu können, aber sie erkannte Johannes M. Rossol, dessen Glatze mit dem Glanz des polierten Silbers konkurrierte. Er betrieb eine Kette von Alten- und Pflegeheimen. Allein in Schweinfurt gehörten ihm zwei mit insgesamt 582 Pflegeplätzen. Mit der Gebrechlichkeit alter Menschen ließen sich offenbar gute Geschäfte machen, nach der Villa zu urteilen, die sich Rossol errichtet hatte und dem Wagenpark, den er unterhielt. Die Zahl der Pflegeplätze seiner Heime mit dem treffenden Namen „Monrepos“ war Anne ebenso geläufig wie das „M“ seines Namens, weil sie erstere in einem ihrer Anfangsberichte nach oben korrigiert und letzteres einfach weggelassen hatte. Ihr Fehler hatte zu massiven Irritationen geführt und sie hörte noch immer Wielands Hinweis: „Das ‚M‘ steht für Maria und Rossol legt Wert auf seinen gesamten Namen.“
„Wollen Sie uns nicht Ihrer bezaubernden Begleiterin vorstellen?“ Ein kleiner, drahtiger Mann mit energischen Gesichtszügen und einem nach außen spitzzulaufenden Schnurrbart löste sich aus der Gruppe und streckte Phil die Hand entgegen. Seine Augen waren wieselflink, ein Eindruck, der vielleicht auch durch den kleinen Tic ausgelöst wurde, der ihn sein linkes Auge immer wieder zusammenkneifen ließ.
„Hermann Sendner – Stadtrat.“ Bildete es Anne sich ein, oder hatte Phils Äußerung einen ironischen Unterton? „Meine Kollegin, Anne Michel.“
Sendner drückte ihre Hand und Anne bezwang den Impuls, ihre Finger zu dehnen, nachdem er sie wieder freigegeben hatte. Sein schütteres schwarzes Haar hatte Sendner auf die Seite gekämmt und mit Gel behandelt, ebenso wie seinen Schnurrbart. „Sie müssen über bemerkenswerte Vorzüge verfügen“, sagte er mit anzüglichem Lachen und einem Augenzwinkern, das Anne anwiderte. „Wenn so ein Chauvi wie Wieland seinen Grundsätzen untreu wird …“ Selbst die abfällige Bemerkung über ihren Chef machte ihn Anne nicht sympathischer.
„Wieland soll Grundsätze haben, höre ich gerade.“ Rossol schickte sich grinsend an, sich zu ihnen zu gesellen, als ein allmählich einsetzender Applaus die Aufmerksamkeit auf sich zog. Alle Köpfe drehten sich jetzt in Annes Richtung, sodass sie unwillkürlich nach hinten schaute. Mit flottem Schritt erschien jetzt Oberbürgermeister Dr. Reinhard Hasselberg.
Seine hagere Gestalt mit dem schneeweißen Haarkranz erinnerte an einen Leuchtturm. Und zweifellos verkörperte er Autorität, auch wenn er seinen Oberkörper leicht gebückt hielt, als sei ihm seine Körpergröße peinlich.
Zwei Schritte hinter dem Oberbürgermeister, eine Klarsichthülle mit Manuskripten unter den Arm geklemmt, ging Lutz Amman, der Pressesprecher der Stadt und neben ihm Lydia Zirkel, die Sekretärin des Oberbürgermeisters. Sie trug eine Unterschriftenmappe mit derselben Pietät wie ein Ministrant das Messbuch, ihr dunkelblaues Kostüm ebenso untadelig wie ihre Frisur. Anne fühlte sich an Maggie Thatcher erinnert.
Die Rathausdiele hatte sich inzwischen gefüllt. Anne entdeckte einige Kollegen von Schweinfurter Anzeigenblättern und auch die Mitarbeiter von TV Touring hatten ihre Kameras schon in Position gebracht.
„Wir setzen uns in die zweite Reihe“, raunte Phil Anne ins Ohr und umfing ihre Schultern mit einer intimen Geste, die sie ein wenig irritierte.
Amman verteilte großzügig Manuskripte und drückte erst Anne, dann Phil eine Namensliste in die Hand. Es war sicher keine bewusste Geste, doch Anne schätzte sie. Sie hatte es oft genug erlebt, dass sie übersehen wurde, wenn sie mit einem Kollegen unterwegs war. Nach einem stillschweigenden Code schienen sich Männer immer an ihre Geschlechtsgenossen zu wenden, wenn nach dem obligatorischen Smalltalk schließlich Inhalte erläutert wurden.
Anne schaute Amman genauer an. Er war groß und so schlank, dass er fast hager wirkte. Seine korrekte Kleidung – er trug einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug mit Weste und seine Goldrandbrille – gab ihm etwas Intellektuelles. Das verschmitzte Lächeln und die hellblaue Krawatte mit Snoopy-Motiven verrieten allerdings eine spielerischere Seite seiner Persönlichkeit.
„Du bist die Sensation heute Morgen“, flüsterte Phil, als sie sich hingesetzt hatten, „schau nur, wie sich Schweinfurts VIPs die Hälse verrenken.“
„Keine allzu große Kunst, ich scheine die einzige Frau unter 60 zu sein.“
Neben Anne saß ein hochgewachsener Mann schwer bestimmbaren Alters, der ihr freundlich zunickte. Er war attraktiv und Anne musste sich bezähmen, ihn nicht zu auffällig zu mustern.
„Ludwig Moreno, Mitinhaber der bekannten Maler- und Verputzerfirma, sie beschäftigen fast zweihundert Leute“, flüsterte Phil ihr ins Ohr. Konnte er plötzlich Gedanken lesen? „Er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Stadtrat und wird heute auch geehrt.“ Mit seinem Kugelschreiber tippte Phil auf seinen Namen auf der Liste.
Der Oberbürgermeister klopfte auf das Mikrophon hinter dem Rednerpult und langsam verstummten die Gespräche im Saal.
Anne schlug eine neue Seite ihres Notizblockes auf und versuchte, sich auf die Rede Dr. Hasselbergs zu konzentrieren. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich solche Reden glichen wie ein Ei dem andern, und dass es einer gewissen Kunstfertigkeit bedurfte, um etwas wirklich Originelles festzuhalten.
Sie erwischte sich dabei, wie sie verstohlen ihren Sitznachbarn musterte. Er spürte es, drehte den Kopf und lächelte ihr zu.
Rasch senkte Anne den Blick auf ihre Notizen und blendete den Oberbürgermeister wieder ein.
„… auf die eine oder andere Weise haben sich alle heute hier Anwesenden um die Allgemeinheit verdient gemacht und ich darf mit Fug und Recht sagen, dass unsere Stadt ohne ihr Engagement ein wenig ärmer wäre“, behauptete er gerade.
Danach rief der Oberbürgermeister verschiedene Namen auf und auch Ludwig Moreno erhob sich, um sich die Ehrennadel des bayerischen Ministerpräsidenten anheften zu lassen. Von vorne sah er nicht ganz so atemberaubend aus wie im Profil, wenn auch noch immer anziehend genug. Er hatte tiefliegende Augen und spitz nach oben gebogene Augenbrauen, die seiner Miene den Ausdruck gaben, als amüsiere er sich ständig. Vielleicht tat er das ja auch, dachte Anne, ihm fehlte jedenfalls der würdige Ernst, der sich auf den Gesichtern der anderen Geehrten abzeichnete.
„Dieser sogenannte Orden sieht aus wie das Abzeichen für zwanzig Kilometer Volkswandern“, murmelte er, als er wieder neben ihr saß und Anne entgegnete flüsternd: „Ich habe mich schon immer gefragt, warum der Staat seine Orden nur verleiht, traut er seinen eigenen Würdenträgern nicht?“
„Ein bisschen mehr Achtung“, sagte er lachend, „Sie haben schließlich eine frischgebackene Respektsperson vor sich.“
Unvermittelt brach er ab und wandte den Blick zur Seite. Anne wunderte sich über sein verändertes Mienenspiel, er verengte seine Augen zu Schlitzen und presste die Lippen zusammen zu einem schmalen Strich. Sein Gesichtsausdruck wurde hart und erinnerte Anne an einen Raubvogel.
Sie folgte seinem Blick und sah einen Mann in dunkelblauem Zwirn, der nach Armani aussah, den schmalen Gang entlangschlendern, den man in der Mitte der beiden Blöcke mit den Stuhlreihen gelassen hatte, langsam und unbekümmert wie bei einem Schaufensterbummel. Obwohl nicht überragend groß, schien er den Saal mit seiner Präsenz auszufüllen. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen silbrig meliert und er trug eine randlose Brille. George Clooney mit Brille, dachte Anne.
Alle Blicke wandten sich ihm zu und sogar der Oberbürgermeister unterbrach seine Rede für ein kurzes Nicken in seine Richtung. Annes Augen hingen wie gebannt an dem Fremden. Unvermittelt drehte er sich um und sah ihr direkt in die Augen. Hatte er ihre Blicke gespürt? Anne fühlte, wie ihr Herz laut und heftig zu klopfen begann. Sie hörte, wie Moreno neben ihr etwas sagte und riss sich mühsam vom Anblick des späten Gastes los.
„Bitte?“, fragte sie, während Morenos Lippen sich bewegten, ohne dass sie ein Wort verstand. Sie hatte die absurde Vision von einem Fernseher mit abgestelltem Ton und musste an sich halten, nicht hysterisch zu kichern.
„Vergessen Sie’s“, war der einzige zusammenhängende Satz, den sie verstand, bevor ihre Augen wieder zu dem Unbekannten glitten.
Der Oberbürgermeister beendete gerade seine Rede und ging unter dem Applaus der Zuhörer zurück zu seinem Platz. Der Dunkelhaarige schüttelte ihm auf eine Weise die Hand, als drücke ein Lehrer seine Zufriedenheit aus über die Leistung eines Prüflings. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er hereingeschlendert war, trat er jetzt ans Mikrofon. Der Dirigent der Gitarrengruppe, der bereits die Hand zu Vivaldis Gitarrenkonzert gehoben hatte, setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander.
„Verzeihen Sie, wenn ich den Ablauf störe …“, sagte er, und ein Ruck ging durch die Versammlung. Die Zuhörer, die gegen ihre Schläfrigkeit gekämpft hatten, richteten sich auf und hörten zu.
Anne verstand nicht viel von seinen Ausführungen, während sie der suggestiven Kraft seiner Baritonstimme lauschte, doch sie spürte die Verwandlung, die mit dem Publikum vorging. Das unruhige Stühlerücken hörte auf und das Catering-Personal stellte sein störendes Geschirrklappern ein.
Er hatte das, worum ihn jeder professionelle Rundfunk-Moderator beneiden musste, ein Lächeln in der Stimme und mühelosen Witz. Mit wenigen Worten nahm er der Feierstunde die rituelle Strenge, machte die Zuhörer zu seinen Komplizen, während er warb und schmeichelte. Niemanden schien die Dreistigkeit zu stören, mit der er die Aufmerksamkeit an sich gerissen hatte. Er beendete seine Glückwünsche, nahm, fast schon gelangweilt, den Beifall entgegen und ging zum Büffet.
Die Catering-Firma hatte während des Festakts ganze Arbeit geleistet. Um die Bistro-Tische hatten sich bereits die ersten Gäste mit vollbeladenen Tellern und Weingläsern gruppiert.
Anne schaute sich suchend nach Phil um und fand ihn im Gespräch mit einigen der Geehrten, unter ihnen auch Moreno. Er stand an einem der Tische, sein kleines Aufnahmegerät und einen Block vor sich liegend. Anne bewunderte ihn für seine Effizienz, er musste seine Gesprächspartner sofort beim allgemeinen Run auf das Büffet mit Beschlag belegt haben.
Auch Anne nahm sich einige der kleinen appetitlichen Kanapees und ein Glas Rotwein. Sie konnte den Blick nicht von dem mysteriösen Redner wenden, über dessen Identität sie weder Phil noch Moreno aufgeklärt hatten. Er flirtete gerade hemmungslos mit einer blonden Serviererin. Ihre Augen blitzten, während sie ihm eine Platte mit Kanapees hinhielt. Irgendeine Schmeichelei, die er ihr ins Ohr flüsterte, brachte sie zum Kichern, bevor er mit geschickt inszenierter Verzögerung endlich zugriff. Anne wurde angerempelt und brachte sich vor dem überladenen Teller eines älteren Mannes mit auffallend rotem Gesicht in Sicherheit. Seine gestelzten Entschuldigungen wollten kein Ende nehmen. Als ihr Blick wieder auf den Fremden fiel, sah sie die Serviererin wie hypnotisiert seinen Artigkeiten lauschen, während das Glas, das sie gerade einschenkte, überlief und sich der Rotwein über die Tischdecke ergoss.
Mit schadenfrohem Grinsen ging Anne, mit Teller und Rotweinglas beladen, auf einen der Tische zu.
„Sie wollen also etwas frischen Wind in die stereotype Presselandschaft unserer Stadt bringen?“ Auf halbem Wege wurde Anne von Oberbürgermeister Dr. Hasselfeld aufgehalten, der ihr, von Rossol und Sendner eskortiert, zwanglos zu ihrem Tisch folgte. „Das soll keine Kritik am Tagblatt sein – wir können uns nicht über mangelnde Fairness beklagen“, setzte er hinzu, als er Annes fragenden Blick bemerkt hatte. „Aber ich habe natürlich einige Ihrer Berichte gelesen. Sie zeugen doch von einer gewissen Respektlosigkeit, die den eingefahrenen Gleisen Ihrer Zeitung nur guttun kann.“
„Ich gebe mein Bestes“, antwortete Anne, unsicher, was sie mit dem zweifelhaften Kompliment anfangen sollte. Sie würde den Teufel tun und sich aufs Glatteis begeben. Wahrscheinlich würde der Oberbürgermeister beim nächsten offiziellen Anlass Wieland von ihren Äußerungen berichten. Aus den Augenwinkeln sah Anne, dass Phil und Moreno jetzt ebenfalls auf ihren Tisch zukamen.
„Der Herr Oberbürgermeister und der Fraktionsvorsitzende der Opposition an einem Tisch – sollte so ein Orden tatsächlich die Kultur in unserem Stadtrat verbessern?“, witzelte Moreno, als er sich mit Phil im Schlepptau ihrer Runde zugesellte, und Anne bemerkte, dass Sendner ihn mit einem giftigen Blick bedachte, und dass sein Schnurrbart gefährlich zuckte.
„Gerade Sie sollten sich aber besser nicht über die eingefahrenen Gleise unserer Presse beschweren, Herr Dr. Hasselfeld. Sie trinken Wein, während sie Wasser predigen.“ Morenos Äußerung war ja geradezu bissig und Anne sah, wie sich der Oberbürgermeister versteifte.
Sie registrierte vage den Konflikt, der zwischen beiden Männern schwelte, doch ihr Blick wanderte zurück zum Büffet. Der Fremde war verschwunden. Annes Augen suchten den Saal ab nach ihm, während sie sich eine dumme Gans schalt. Ich bin doch kein Jota besser als die Serviererin, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch am Tisch, die vage Stimme in ihrem Innern ignorierend, die ihr einflüstern wollte, dass das Fest seinen Glanz verloren hatte.
„Die Kultur unserer Geselligkeiten war immer gut“, sagte Rossol mit röhrendem Lachen, während sein Bauch in dem engen Anzug hüpfte. „Sie sollten grundsätzlich Wein statt Kaffee ausschenken lassen in den Stadtratssitzungen …“
Der Augenblick der Anspannung, den Anne kurz vorher bemerkt zu haben glaubte, war vorüber.
„Wenn Frau Michel ihn ausschenkt, überlege ich es mir“, konterte Hasselfeld.
„Das wäre aber eine arge Verschwendung von Talenten“, gab Moreno zurück, während er Anne zulächelte. „Kennen Sie eigentlich Frau Michels preisgekrönten Essay über die Veränderung der deutschen Sprache in Politik und Medien während der vergangenen 20 Jahre, Herr Oberbürgermeister?“
Hasselfeld schaute überrascht zu Anne, die Blicke der anderen folgten ihm und sie stellte fest, dass sie errötete und sich unwohl fühlte so im Zentrum des Interesses zu stehen.
„Das ist lange her“, brachte sie unbestimmt heraus.
„Der Wettbewerb war doch von der ‚Zeit’ ausgeschrieben, wenn ich mich nicht irre. Dort war er zumindest abgedruckt“, wandte sich Moreno an sie.
„Herr Sendner, ich müsste auch mit Ihnen noch ein Gespräch führen“, intervenierte Phil und Anne war ihm dankbar für seinen gutgemeinten Versuch, das Thema von ihr abzulenken. „Rufen Sie mich an“, herrschte Sendner Phil an und richtete sich wieder mit unerwarteter Ernsthaftigkeit an Anne: „Ich bin mir fast sicher, dass unser Freund Wieland einen solchen Edelstein in seinem Mitarbeiterstab nicht zu schätzen weiß. Das soll keine Abwertung Ihres Chefs sein, Frau Michel, aber er hat nun einmal seine Grenzen. Vielleicht wissen Sie, dass die beiden regionalen Radiosender mir gehören. Wann immer Sie Ihrer Arbeit beim Tagblatt überdrüssig werden, ich habe einen Job für Sie.“ Er kramte seine Brieftasche heraus und reichte Anne seine Visitenkarte. „Berufen Sie sich ruhig auf unser heutiges Gespräch.“ Bevor Anne antworten konnte, wandte er sich nach einem Blick auf seine Armbanduhr zum Gehen. „Frau Michel, meine Herren.“ Mit einem imaginären Heben seines nicht vorhandenen Hutes strebte er dem Ausgang zu.
Phil schaute ihm mit wütendem Gesichtsausdruck nach – und Anne bekam eine Vorstellung davon, Phil zum Feind zu haben. Hoffentlich kam sie nie in diese Lage. „Müssen wir nicht auch langsam …“, fragte sie beiläufig, während sie die Visitenkarte in ihrer Handtasche verstaute. Phil signalisierte Zustimmung. Seine Lippen waren noch immer zusammengepresst und seine Kiefer mahlten. Hatte ihn allein Sendners Abfuhr so aufgebracht? Der Phil, den sie zu kennen glaubte, hätte doch mit einer ironischen Bemerkung der Situation den Stachel genommen.