Wieland saß bereits an der Stirnseite des Konferenztisches, Kurt an seiner Seite, als sie alle nacheinander ins Sitzungszimmer kamen. Kurt nickte Anne zu und winkte ihr, sich neben ihn zu setzen. Sie ging allerdings nicht darauf ein, denn neben Kurt zu sitzen hätte bedeutet, Wolfgang in die Augen schauen zu müssen und genau dies wollte sie vermeiden.
Kurt Falser war am längsten beim Tagblatt, ein journalistisches Urgestein, und Wieland nicht nur stilistisch überlegen. Er nahm nur noch selten einen Termin wahr und widmete sich größtenteils der Gestaltung der Zeitung. Anne bewunderte ihn für seine Geduld, mit der er die Berichte der vielen freien Mitarbeiter und Vereinsvorstände, die täglich seinen Schreibtisch überfluteten, in lesbare Artikel verwandelte. Anne hatte ihm viel zu verdanken. Es war Kurt gewesen, der sie mit viel konstruktiver Kritik von ihrem literarischen Parnass heruntergeholt und sie die sachliche Berichterstattung einer Tageszeitung gelehrt hatte.
Sie stand noch unschlüssig an der Tür, als Christian mit einem vollen Kaffeebecher neben ihr auftauchte.
„Scheußliches Gebräu, aber immer noch besser, als dem morgendlichen Ritual mit nüchternem Magen beiwohnen zu müssen“, flüsterte er ihr zu und Anne lächelte über seine getragene Ausdrucksweise, die er ebenso wenig ablegen konnte wie die Fliege, die er – täglich wechselnd und passend zum Hemd – trug.
„Erwartet uns heute ein österliches Hochamt oder zelebriert er nur eine einfache Messe?“, setzte Christian ebenso leise hinzu und Anne knuffte ihn in die Seite, worauf er seinen Kaffee verschüttete.
„Können die Herrschaften sich vielleicht endlich entschließen, Platz zu nehmen?“ Wieland sah demonstrativ auf seine Uhr, während er mit einer gebieterischen Bewegung auf die noch unbesetzten Stühle zeigte.
Anne hasste diese Zusammenkünfte, auch wenn sie rein faktisch notwendig waren, um Aufgaben zu koordinieren und Themenschwerpunkte zu diskutieren. Sie wusste von ihren Kollegen, dass auch sie die Redaktionskonferenzen verabscheuten, zu oft hatten sie alle erlebt, dass Wieland sie ausschließlich als Plattform für seine Selbstdarstellung missbrauchte.
Heute durften sie sich wohl auf eine solche Inszenierung gefasst machen, dachte Anne, wenn sie Wielands gerötetes Gesicht und sein ärgerliches Räuspern richtig interpretierte. Sie warf einen Blick auf Phil, der ihn musterte, und fragte sich, ob er wohl zu dem gleichen Schluss gekommen war. „Also – was haben wir heute?“, schnarrte Wieland, während er taxierend Annes Minirock begutachtete. Sie entdeckte etwas Lauerndes in seinem Blick und wappnete sich innerlich. Für einen Scherz auf ihre Kosten war Wieland immer gut.
„Sie wollten doch das ‚Pro und Contra‘ zur Müllverwiegung“, diente sich Wolfgang an und reichte Wieland einige Manuskriptblätter.
„Und wo ist der Bericht dazu?“, herrschte Wieland ihn an, während seine Augen dem Blick Wolfgangs folgten und an Anne hängen blieben.
Widerlicher Schleimer, dachte sie, als sie das triumphierende Aufblitzen in Wolfgangs Augen auffing, er musste sich genau überlegt haben, wie er sie am besten demütigen konnte.
„Hätte ich mir ja denken können“, sagte Wieland, wobei er sich nicht einmal die Mühe machte, Anne anzuschauen.
Sie würde sich nicht in die Defensive drängen lassen, er wusste sehr wohl noch, dass er zugesichert hatte, der Bericht habe Zeit. Mit herausforderndem Blick wandte Wieland sich an sie. „Im Übrigen warte ich auf Ihren Beitrag zur Kandidatenvorstellung für die Oberbürgermeister-Wahl“, zischte er. „Wenn Sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlen, geben Sie sie besser ab.“ Anne zählte bis zwanzig. Wieland wusste schließlich genau, dass die Serie in loser Folge für die nächsten Monate geplant und sie erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen war.
„Wir sollten die Demonstration der Bürgerinitiative gegen die Kernkraft als Aufmacher nehmen“, sagte Phil in ruhigem Ton. „Gestern war ein ziemlicher Auftrieb bei der Brennstäbe-Verladung, sogar Greenpeace war da. Das wird ein satter Vierspalter.“
Entspannt lehnte er sich zurück und Anne konnte nicht umhin, ihn für seine Souveränität zu bewundern. Nicht zum ersten Mal war es ihm gelungen, die Wogen zu glätten. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber unterschwellig beneidete sie ihn – auch um das Germanistikstudium, das Phil brillant abgeschlossen hatte. Anne war Übersetzerin und hatte in ihrer Freizeit als freie Mitarbeiterin gejobbt, weil sie ihre Übersetzungen mehr schlecht als recht ernährten. Eine Kurzgeschichte hatte ihr einen ersten Preis und schließlich ein Volontariat und die Übernahme als Redakteurin beim Tagblatt eingebracht. Kein Geringerer als der Verleger selbst war ihr Fürsprecher gewesen – er hatte der Jury angehört.
Annes Gedanken waren abgedriftet. Sie zwang sich zur Konzentration, sie musste Wieland nicht noch eine Steilvorlage zu einer weiteren sarkastischen Bemerkung geben.
„Nachdem uns mit den GRÜNEN jetzt endlich doch ein bisschen frischer Wind im Stadtrat beschert wurde, müssen wir ihnen auch ein Podium bieten“, hörte sie gerade von Kurt Falser, der es als Einziger schaffte, Wieland bei diesen Konferenzen einigermaßen wirkungsvoll zu unterbrechen.
„Nein, Kurt!“, unterbrach ihn Wieland mit seiner lauten, abgehackten Sprechweise, die wohl Autorität zeigen sollte und ein Relikt von seinem immer noch vermissten Kasernenhof war. „Diese Bürschchen werden wir nicht auch noch hofieren. Diese Chaoten müssen in der Kommunalpolitik erst einmal zeigen, ob sie außer flotten Sprüchen noch etwas anderes draufhaben.“ Unüberhörbar schlürfte er von seinem Kaffee und Anne schaute unwillkürlich zu Phil, der die letzte Bemerkung Wielands wohl nicht schlucken würde, als Carla hereinkam und ihm ein Fax hinlegte.
„Ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, ich möchte bei der Konferenz nicht gestört werden“, polterte er, ohne die resolute Sekretärin einschüchtern zu können.
„Ich weiß, Herr Wieland, entgegnete sie, aber dieses Fax ist unter Umständen wichtig.“
Ohne falsche Scheu setzte sie sich auf den einzigen freien Platz neben Wieland und reichte ihm das Fax, wobei ihr kurzer Rock noch ein Stück weiter nach oben rutschte, ein gewagter Vorgang bei fast 100 Kilo Lebendgewicht. Anne kannte keine andere Frau, die so unbehelligt von der weitverbreiteten Diätmanie zu ihrer Körperfülle stand.
Es musste eine Sensationsmeldung sein, die Carla dem Ressortleiter gegeben hatte, denn die Veränderung, die mit Wieland vor sich ging, war auffällig. Sein Gesicht lief dunkelrot an, er plusterte sich auf und blickte fast triumphierend in die Runde. Eigentlich wäre er die ideale Werbefigur für Meister Proper, dachte Anne, er muss jetzt nur noch die Arme verschränken …
„Wenn uns die Polizeimeldungen jetzt erst per Fax erreichen müssen, pfeife ich auf deinen ganzen Polizeifunk“, blaffte er Willi Heises Richtung, dem Unfallexperten der Redaktion und Junggesellen aus Überzeugung.
Die unterschwellige Anspannung, die während des morgendlichen Rituals fast greifbar gewesen war, entlud sich nun in aufgeregtem Stühlerücken und Fragen, die auf Wieland einprasselten. Der nahm die Haltung eines Kapitäns auf der Kommandobrücke ein und beauftragte Phil – offenbar um Willi für den verpassten Polizeifunk zu bestrafen. „Da gehen Sie hin, Eisenmann – es hat eine Sauerei drüben im Hafen gegeben. Auf dem Weg zur Arbeit hat heute Morgen der Lagerist eines Baumarkts einen ausgebrannten Wagen entdeckt und hinter dem Steuer eine verkohlte Leiche gefunden.“ Dabei wedelte Wieland das Fax wie ein Linienrichter eines Fußballspiels seine Fahne und fügte hinzu: „Bohren Sie nach, Eisenmann! Das kann eine heiße Kiste werden – von Fahrerflucht bis zum Mord ist da alles drin.“