Es war nichts Einladendes an der Szenerie, der sich Phil Eisenmann näherte. Die zwei Polizeiwagen mit dem rotierenden Blaulicht am Straßenrand versperrten jeden Zugang. Das rot-weiße Absperrband der Polizei signalisierte ebenfalls „Keinen Zutritt“ und dennoch standen eine Menge Gaffer am Straßenrand. Die lange Wagenschlange verursachte schon einen Stau. Trotz der ungeduldigen Handbewegungen des Polizisten, bewegte sich die Fahrzeugkolonne nur schrittweise weiter.
Was treibt die Menschen zu dieser Art von Neugier, fragte sich Phil wohl zum hundertsten Mal in seiner Berufslaufbahn, und er hatte eine Reihe von Katastrophen dokumentiert. Eines war ihnen allen gemeinsam, ob Zugunglück, Brand, Verkehrsunfall oder Hochwasser: Sie zogen Schaulustige in Scharen an. Das Phänomen war nur schwer zu erklären. Billige Sensationslust allein konnte es nicht sein, eher Genugtuung, noch einmal davongekommen zu sein.
Ziehend wie unterschwelliger Zahnschmerz meldete sich sein Gewissen, dass ausgerechnet die Presse diese Sensationsgier ja schürte – ohne Sensationen keine Auflage. Er würde diesen persönlichen Konflikt heute allerdings so wenig lösen wie vorher. Entschlossen schob er sein Presseschild hinter der Windschutzscheibe ein bisschen mehr in Sichtweite und überholte die Schlange. Der junge Polizist, der den Verkehr regelte, war offenbar neu, denn sein Gesicht sagte Phil nichts. Er selbst schien von diesem allerdings erkannt zu werden, denn eine kurze Geste wies ihn hinter das Absperrband.
Das Bild, das sich Phil bot, ließ ihn trotz der herbstlichen Wärme frösteln: Neben dem ausgebrannten Wrack eines Autos stand ein offener Zinksarg und die Umrisse der zugedeckten Gestalt auf der Bahre daneben ließen ein Kind vermuten. Phil erkannte seinen Irrtum schnell. Schon öfter hatte er gesehen, was Flammen mit einem menschlichen Körper anrichteten. Wer immer auch das bedauernswerte Opfer war, es musste einen qualvollen Tod erlitten haben. Der Tod durch Verbrennen trete spät ein, der gnädige Akt des Körpers, das Bewusstsein zu verlieren, ließe dabei auf sich warten, hatte ihm einmal ein Arzt erläutert. Hatte sich die mittelalterliche Inquisition deshalb so gerne des Feuertodes bedient – gleichsam als Allegorie auf das wartende Höllenfeuer?
„Bevor Sie mit Ihrer Fragerei anfangen, wir wissen noch nichts, was wir der Presse mitteilen können …“
Die harsche Stimme, die Phil aus seinen Betrachtungen riss, gehörte zu einem rotgesichtigen, stämmigen Feuerwehrmann in orangefarbener Schutzkleidung. Der reflektierende Schriftzug auf seinem Rücken wies ihn als Einsatzleiter aus. Phil erkannte in ihm den Chef der Feuerwehr und wusste im gleichen Augenblick, dass es Schwierigkeiten geben würde. Eine sachliche Auskunft würde er wohl kaum bekommen von Heinz Angermann. Mit ihm hatte er sich einmal aus purem Leichtsinn einen Gegner geschaffen. Er sah die Szene noch vor sich: Ehrgeizige, junge Wehrmänner mussten gegen die Stoppuhr mit verschieden starkem Strahl aus B- oder C-Rohren einen Plastikeimer von einem Steinsockel spritzen. Er hatte einen Witz über das Wettpinkeln kleiner Jungen im Sand gemacht. Leider war der Witz nicht angekommen und jetzt hatte er die Folgen zu tragen. Der Feuerwehrchef war heute in der besseren Position, musste Phil wohl oder übel zugeben. Die bedeutungsschwangere Ernsthaftigkeit, die Angermann zur Schau trug, konnte die Schadenfreude dahinter nur unzureichend verdecken.
Phil wandte sich zu Polizeikommissar Hans Fuchs und drehte den beiden Gruppenführern, die darauf brannten, sich durch ein Statement für die Presse in Szene zu setzen, den Rücken zu.
„Weiß man schon Näheres über den Unfallhergang?“
Kommissar Fuchs räusperte sich und blätterte in den Notizen auf seinem Klemmbrett, bevor er antwortete: „Der oder die Tote sind noch nicht identifiziert – wir warten auf den Gerichtsmediziner, und natürlich muss sich unser Brandexperte das Fahrzeug noch vorknöpfen. Aber, so wie es jetzt aussieht, war kein anderes Fahrzeug beteiligt.“
„Na, allein die Tatsache, dass ein leitender Beamter der Mordkommission am Unfallort ist, lässt doch darauf schließen, dass der Polizei der Gedanke an ein Fremdverschulden schon einmal gekommen sein muss“, konterte Phil. „Und vertrösten Sie mich jetzt nicht auf den Polizeibericht und Ihre Sachverständigen. Wann wurde der Brand denn entdeckt? Es ist doch ungewöhnlich, dass ein Auto mitten in einer Stadt komplett ausbrennen kann, ohne dass es irgendjemand bemerkt, meinen Sie nicht auch?“
„Tut mir leid.“ Zielsicher erfasste der Feuerwehrkommandant den passenden Zeitpunkt seines Auftritts. „Dies ist ein Einsatz im Ernstfall und ich kann nicht dulden, dass Sie die Arbeiten hier mit Fragen behindern. Und kommen Sie mir bloß nicht mit dem Recht der Presse auf Information.“ Mit gebieterischer Geste wies er ein paar Neugierige zurück, die in Erwartung einer Sensation hinter das Absperrband der Polizei gelangt waren.
Kommissar Fuchs, sonst ein souveräner Gesprächspartner, gewohnt, kritische Fragen zu parieren, ergriff für Phils Geschmack eine Spur zu schnell die Chance und wandte sich mit einem gemurmelten „In einer Stunde ist Pressekonferenz im Polizeipräsidium“ ab.
Phil wusste, wann er geschlagen war. Offizielle Pressekonferenzen konnte man sich schenken. Ihr Nachrichtenwert war gering, außerdem waren die lokalen Rundfunk- und Fernsehsender dabei immer im Vorteil. Allerdings dachte er nicht daran aufzugeben. Sein journalistischer Spürsinn war geweckt. Irgendetwas sagte ihm, dass er auf einer vielversprechenden Spur war. Zu verräterisch war der schnelle Verweis des Kommissars auf die Pressekonferenz. Außerdem konnte Phil sich nicht erinnern, dass die Polizei jemals ihren ersten Platz in der Hackordnung ohne Gerangel der Feuerwehr abgetreten hätte.
Das Geräusch eines nahenden Polizeihubschraubers lenkte Phils Blick zum Himmel. Er fotografierte den verbrannten PKW mit dem Polizeihubschrauber im Hintergrund. Zielstrebig näherte sich der angekommene Gerichtsmediziner der Gestalt unter der Plane und Phil wandte sich ab. Dies hat nichts mit Feigheit zu tun, beruhigte er sich, ein solches Foto würde das Tagblatt ohnehin nicht veröffentlichen.
Durch die Menge der Schaulustigen zwängte Phil sich zurück zu seinem Fahrzeug. Langsam nahm in seinem Kopf ein Plan Gestalt an. Ein kleiner konspirativer Gedankenaustausch mit Sandra im Polizeipräsidium konnte den Informationsfluss deutlich beschleunigen. Er kannte die kesse Rothaarige vom Inlineskaten. Heute würde er diese gute Beziehung eiskalt nutzen.
Es waren solche Anlässe, die ihn in seiner Berufswahl bestätigten, spannende Ereignisse, die Kreativität erforderten. Sicher, auch die Kommunalpolitik brauchte engagierte Journalisten, aber Phil gestand sich ehrlich ein, dass die Möglichkeiten der Presse, mit kritischen Kommentaren etwas zu verändern, begrenzt waren. Er hatte sich in der Tretmühle des journalistischen Alltags schon öfter gefragt, ob er nicht besser den Wunsch seines Vaters erfüllt und Jura studiert hätte. Vielleicht wäre er gar kein so schlechter Notar geworden. Noch heute war er sich nicht sicher, ob der Journalismus nun seine Berufung war oder nur ein Job, den sein Vater nicht wollte. Aber immerhin hatte er sich von dessen überzogenen Ansprüchen freigeschwommen. Als er nach dem Abitur verkündete, eine Buchhändlerlehre zu absolvieren, hatte es ein ernstes Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Vater gegeben. Phil erinnerte sich an die fast perverse Genugtuung, die es ihm verschafft hatte.
Er beendete seine Buchhändlerlehre und schrieb sich für ein Germanistikstudium ein, mehr um seine innere Umtriebigkeit zu befriedigen als aus echtem Bedürfnis. So landete er beim Journalismus. Zeitungen brauchten schon damals freie Mitarbeiter, die sie nach Belieben ausbeuten konnten, und auch Phil hatte davon profitiert. Nach seinem Magister volontierte er beim Tagblatt. Es war vielleicht der Reiz, sich an einem ultraorthodoxen Chefredakteur reiben zu können, der bewirkte, dass er immer noch dort war.
Das übliche Stopp-and-Go auf der Maxbrücke zerrte heute besonders an seinen Nerven, und er parkte widerrechtlich hinter dem Rathaus, zwei Minuten für ein Stück Schokoladekuchen sollten drin sein. Ausgerechnet war beim Kiliansbäck in der Spitalstraße heute richtig viel los und Phil spurtete mit seinem Kuchenpäckchen zurück zum Auto.
Das rote Gebäude des Polizeipräsidiums glänzte im Licht der Herbstsonne und Phil gestattete sich ein Grinsen bei dem Gedanken, dass er es nahezu einladend fand. Er benutzte den Seiteneingang und erreichte unbemerkt Sandras Büro. Sie zuckte zusammen, als er die Türe öffnete. Ein rascher Mausklick verbarg zu spät die Umrisse eines Cartoons auf dem Bildschirm.
„Du musst deine Reflexe besser trainieren“, bemerkte Phil. „Mehr Praxis verhindert nämlich auch Stürze beim Skaten.“ Beiläufig strich er über ihren Unterarm. „Es ist aber alles wieder verheilt, wie ich sehe.“
Sandras rote Locken bändigte ein Kamm, das enge, grüne T-Shirt gewährte großzügig Einblick und unterstrich wirkungsvoll ihre grünen Augen, die jetzt missbilligend funkelten.
„Warum vergewaltigst du eigentlich dein herrliches Haar?“, fragte Phil.
„Weil ich heute bestimmt niemanden heiraten werde.“
Das Stichwort Heiraten lenkte Phil ab. Er dachte an Anne. An ihr war alles perfekt, ihre glänzenden kurzen Haare, die wie eine Badekappe an ihrem Kopf anlagen, das zarte olivbraune Gesicht mit den großen Mandelaugen und ihre atemberaubende Figur. Ein Blick von ihr schnürte Phil regelmäßig ein wie ein Paket. Was hatte er hier bei Sandra verloren?
Die löste jetzt gar nicht reflexartig den Kuchen aus dem Papier, nahm eine Kuchengabel aus einer Schreibtischschublade und umrundete das kleine Kuchenstück mit spitzer Zunge. Dabei gelang ihr ganz nebenbei ein spöttisches Lächeln.
„Eindeutiger Fall von Fehlinvestition, mein Lieber.“ Die Zunge schnellte vor und wieder zurück. „Pressekonferenz ist in zwei Stunden.“
„Dein Anblick wiegt doch jede der gestelzten Ankündigungen deines Chefs auf“, versuchte es Phil. Auch der Gedanke an Anne bewahrte ihn nicht davor, auf das kleine goldene Kreuz in Sandras Ausschnitt zu starren.
„Geschenkt“, kommentierte sie seine Bemühungen, „probier es nochmal, wenn dir etwas Besseres eingefallen ist.“ Doch dabei überzog Röte ihr Gesicht und tauchte ihre Sommersprossen zart in Farbe. Phil fühlte sich schuldig. Er hatte sich immer für einen ehrlichen Menschen gehalten und es gefiel ihm gar nicht, was er hier tat. Aber heiligte der Zweck nicht die Mittel?
„Schau, Sandra.“ Phil meinte in diesem Moment tatsächlich, was er sagte. „Ich würde doch von dir nie etwas verlangen, was dir schadet …“ Er fuhr sich angestrengt durchs Haar, die Mission war schwieriger, als er gedacht hatte, „es ist nur so, dass ich während der langatmigen, nichtssagenden Ausführungen des Herrn Polizeipräsidenten schon an meinem Computer sitzen könnte …“
„Da läuft nichts, Phil“, sagte sie, jeder Zoll die zuverlässige Sekretärin. „Selbst, wenn ich wollte, das Band muss noch abgeschrieben werden.“ Phil sah ihren flackernden Blick auf ein kleines Tonband, das abseits von einem größeren Stapel lag. Jetzt wollte er erst recht nicht aufgeben.
„Herzlichen Dank für den Kuchen, wir sehen uns Samstag beim Skaten.“ Sandra stand hinter ihrem Schreibtisch, ein eleganter Wurf beförderte die Kuchenverpackung in den Papierkorb. Sie hakte die Daumen in die Taschen ihrer Jeans und reckte das Kinn in die Höhe. Deutlicher konnte Körpersprache nicht ausdrücken, dass er entlassen war.
„Na, na Sandra – Plastik gehört doch nicht in den Papierkorb.“ Er strahlte sie an, während er sich auf die Kante ihres Schreibtischs setzte und mit einer akrobatischen Rumpfbeuge den Plastikteller wieder aus dem Papierkorb fischte. Seine Kameratasche fegte Aktenstapel und Papierfetzen von Sandras Schreibtisch, während sie ihn mit unflätigen Schimpfworten bedachte. Phil ließ sich nicht beirren. Galant half er Sandra beim Aufsammeln, als Türeklappern und Stimmengemurmel hinter der angrenzenden Bürotür sie zusammenfahren ließ. Ihr erschrockenes Erstarren verschaffte ihm einen eleganten Abgang. Er warf Sandra eine Kusshand zu und war draußen. Sie rief ihm noch etwas nach, das er lieber überhören wollte.
In Phils Auto stand die Luft und die zahllosen Gegenstände, die sich im Laufe der Zeit auf der Rückbank angesammelt hatten, machten das Einsteigen auch nicht einladender. Zum hundertsten Mal nahm er sich vor, am Wochenende in die Waschstraße zu fahren und den Wagen auch endlich zu reinigen. Aber wie immer, wenn ihn ein solcher Gedanke behelligte, hatte er Wichtigeres zu tun. Er öffnete beide Türen – die Luft wurde nur unwesentlich besser – und suchte in seiner Tasche auf dem Rücksitz hastig nach dem Diktiergerät, das er nie benutzte, obwohl Carla ihm schon oft angeboten hatte, seine Texte abzuschreiben. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er es schließlich zutage förderte. Er ahnte schon, was ihn erwartete – und natürlich war der Akku leer. Phil fluchte ausgiebig, warf die Autotüren wieder zu und kaufte im Drogeriemarkt um die Ecke Batterien.
Als er das Band schließlich einlegen konnte, hörte er nur Rauschen. So viel zu deiner Karriere in investigativem Journalismus, dachte er und drehte sich frustriert eine Zigarette. Ein Lieferwagen fuhr an den Straßenrand und parkte die Ausfahrt zu. Phil spürte wie die Ader an seiner Stirn schwoll und riss mit einem Fluch die Türe auf, dieser Hornochse kam ihm gerade recht. Der Fahrer stieg aus, warf eine Zigarettenschachtel in den Abfalleimer und fragte Phil höflich nach der Adresse eines Geschäfts. Auspuffgase schwängerten die Luft, als er wieder abfuhr.
Das Adrenalin kreiste noch immer in seinem Blut, als Phil zu seinem Auto zurückging. Zu gerne hätte er sich mit dem Fahrer angelegt. Der Motor heulte auf, als er startete. Er zuckte zusammen, als er durch die verdreckten Tonköpfe seines Rekorders eine monotone Männerstimme hörte. Ruckartig bremste er und drückte die Stopptaste. Eine Frau ging kopfschüttelnd vorbei, und Phil sah auf ihre murmelnden Lippenbewegungen. Er konnte sich schon denken, was sie sagte.
„… ob Fremdeinwirkung im Spiel war, ist bei diesem frühen Stand der Ermittlungen noch nicht zweifelsfrei auszuschließen …“
Phil hörte die näselnde Stimme von Polizeidirektor Walter Jobst. Sie gewann sicher nicht durch die Wiedergabe, stellte er grimmig fest. Der kleine Mann mit dem schütteren Haar zählte nicht zu seinen Freunden. Phil spulte das Band zurück zum Anfang und lauschte ebenso fasziniert wie widerstrebend.
Einige Zigarettenlängen später nahm er das Band aus dem Kassettenrekorder und machte sich auf den Rückweg zu Sandra, um seinen „vergessenen“ Schreibblock zu holen und die Kassette unauffällig wieder zurückzulegen.
Er hatte eine Menge erfahren in den vergangenen Minuten. Jetzt musste er sich beeilen, wenn er seinen Vorsprung nutzen wollte. Immerhin, den Bericht hatte er schon fast fertig in seinem Kopf, auch wenn er viele Hintergrundinformationen noch nicht verwerten konnte. Ihre Bedeutung ging ihm noch nicht vollständig auf. Im hintersten Winkel seines Bewusstseins formte sich ein Gedanke, der allerdings im gleichen Augenblick verschwunden war, in dem Phil ihn fassen wollte.