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Nur noch Kurt Falsers Audi stand auf den reservierten Parkplätzen vor dem Zeughaus und Anne schaute auf ihre Armbanduhr, als sie ihren Wagen abschloss. Sie hatte eine Menge Zeit vertrödelt und musste eben jetzt arbeiten, wenn alle schon ihren Feierabend genossen. Dies kam ihr gar nicht so ungelegen, zumindest würde kein Dauerklingeln der vielen Telefone ihren Gedankenfluss stören.

Die schwere, eisenbeschlagene Tür, die unmittelbar über die enge Wendeltreppe zu den Redaktionsbüros führte, war nur angelehnt. Seltsam, dachte sie, um diese Zeit war doch gewöhnlich schon abgeschlossen. Sie hörte Stimmen am oberen Treppenabsatz und verhielt unwillkürlich ihren Schritt.

„So einfach kann ich das nicht machen“, hörte sie Kurt sagen. Die Antwort: „Ich dachte eigentlich, dass eine Tageszeitung keine festgefahrene Behörde ist“, ließ ihren Atem stocken.

Anne erkannte ohne jeden Zweifel die Stimme Matthias Reiningers. Wie angewurzelt blieb sie stehen, bis ihr aufging, dass sie sich dem Verdacht des Lauschens aussetzte, wenn die beiden herunterkamen. Sie schüttelte die Betäubung der Schrecksekunde ab und ging langsam die Treppe nach oben.

Kurt grüßte mit einem angedeuteten Lächeln, er hatte seine Aktentasche unter den Arm geklemmt und war auf dem Heimweg. Ihr Blick heftete sich auf Matthias Reininger, aber ihr herzliches Lächeln erstarb, als sie in seinen Augen nicht den leisesten Funken eines Wiedererkennens ausmachte. Die Enttäuschung schoss wie eine Flamme in ihren Magen. Auch gut, wenn er sie nicht kennen wollte, war das zumindest auch eine Aussage. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Kurt ging voraus und war schon an ihr vorbei, als sie Matthias erreichte. Selbst die Intimität des schmalen Treppenhauses veranlasste ihn nicht, Anne anzuschauen. Aber als sie zusammen auf einer Stufe standen, strich er, die Augen fest auf Kurts Rücken, federleicht mit dem Daumen über ihre Brustwarze und ging weiter. Wäre ihre körperliche Reaktion nicht so eindeutig gewesen, hätte sie geschworen, sich die Geste nur eingebildet zu haben.

Anne spürte, dass sie zitterte, als sie ihren Schreibtisch erreichte. Die widerstrebendsten Gefühle stritten in ihr. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie der Demütigung dieser Geste oder der Erregung, die sie ausgelöst hatte, den Vorzug geben wollte. Sie knallte ihre Tasche auf den Stuhl und zog ihre Jacke aus. Aufgewühlt ging sie auf und ab und verwünschte zum ersten Mal die Enge ihres Büros. Als sie sich endlich an ihren Schreibtisch setzte, sah sie auf der vollgekritzelten Papierunterlage jene Rose liegen, die sie im Garten der Reininger’schen Villa so bewundert hatte. Lange blieb sie regungslos sitzen, bevor sie sich endlich ihrem Bericht widmen konnte.

Als sie feststellte, dass sie einen Absatz bestimmt schon fünfmal gelesen hatte, ohne das Gelesene zu begreifen, klappte sie ihren Block zu und stützte den Kopf in die Hände. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was war denn eigentlich geschehen? Ein – zugegeben – umwerfender Mann hatte sie geküsst, und ihre Hormone spielten verrückt. Sie sollte nicht zu viel hineininterpretieren und das Intermezzo am besten vergessen. Ein Mann wie Matthias Reininger hatte schon viele Frauen geküsst und würde noch viele küssen. Ganz allmählich fand sie ihr Gleichgewicht wieder und schämte sich plötzlich, so heftig auf ihn reagiert zu haben. Sie räumte ihren Schreibtisch auf und fuhr den Computer herunter. Heute würde es nichts mehr werden mit vernünftiger Arbeit. Sie konnte genauso gut nach Hause fahren und sich in der Badewanne entspannen. Morgen sah die Welt wieder anders aus.