Unbewegt wie eine Statue lehnte er an der Kastanie vor ihrer Haustüre und schaute in Annes Richtung. Das dunkle Haar kräuselte sich auf seiner Stirn, die Brille hielt er in der Hand. Anne erschrak – sich umdrehen und flüchten war ihr erster Impuls. Wie von einem unsichtbaren Seil gezogen, ging sie dennoch auf ihn zu.
„Ein wirklich glücklicher Umstand, Sie hier zu treffen, ich wollte Sie ohnehin anrufen. Vielen Dank für die wunderschöne Rose …“ Anne stammelte wie eine Idiotin, ihren Schlüsselbund wie einen Rettungsanker umklammernd. Er bewegte sich noch immer nicht.
„Ich habe auf dich gewartet, ich weiß nicht, wie lange schon“ sagte Reininger, als sie ihn erreichte. Seine Augen waren fast schwarz, winzige Schweißtröpfchen glänzten auf seiner Oberlippe, er roch nach Aftershave, nach Leder und Schweiß.
Anne überfiel ein Rauschen in ihren Ohren, sie umklammerte ihre Oberarme, um das Zittern ihrer Hände zu beherrschen. Er fasste sie am rechten Ellbogen, fest, aber distanziert. So könnte er auch einer alten Frau über die Straße helfen, dachte Anne und fühlte sich genauso gebrechlich, während ihre Gedanken Achterbahn fuhren … Bewirkte die körperliche Lähmung ihre überproportionale Gehirnaktivität oder war es umgekehrt? Eine Fülle nichtssagender Worte drängte sich ihr auf, banales Geschwätz, um die Verlegenheit zu kaschieren, genauso schnell wieder verschwunden, wie sie auftauchten. „Die Blumen müsste ich mal wieder gießen“, bemerkte sie nach einem flüchtigen Blick auf den Blumenkübel an der Türe. Ein Vogel flatterte aufgeregt auf und flog davon. Er kommentierte auch diese Bemerkung nicht.
Natürlich vertippte sie sich beim Eingeben ihres Nummerncodes an der Schließanlage. Dass sie ihre ganz persönlichen mystischen Zahlen – 3, 5, 7 und 9 – akribisch ausgewählt nach ihrer kabbalistischen Bedeutung, verwechselte, sagte alles über ihre Verfassung aus.
Im Hausgang roch es nach Braten und Zwiebeln und dem Zitronenduft von Putzmittel. Noch nie hatte sie diese Gerüche mit so geschärften Sinnen wahrgenommen. Eine Gedichtzeile ihres geliebten Vagantendichters Francois Villon „und wer auf diesen Spuren weitergeht, begreift nur den Geruch von Dung“, schob sich in die Wirrnis ihres Bewusstseins. Völlig unpassend, dachte sie, und schob den Gedanken weg.
Durch ihre ungeputzten Fenster warf die Straßenlampe ein Lichtbündel auf den Wohnzimmertisch, als Anne die Wohnungstür aufschloss. Sie griff zum Lichtschalter und das Licht enthüllte das vom Frühstück stehen gebliebene Stillleben aus ungespülter Kaffeetasse, Marmelade und Müslischale. Hastig griff Anne nach dem Karton mit Müsliflocken. Matthias drehte sie zu sich herum und schaute ihr ins Gesicht. Ohne Hast schien er jedes Detail in sich aufzusaugen. Anne fühlte ihr rechtes Augenlid zucken und wurde sich bewusst, dass sie die Müslischachtel noch immer in der Hand hielt. Sie wollte sich befreien von ihm und seinen bezwingenden Augen und blieb dennoch stehen, starr wie Lots Weib. Ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihrem Gesicht zu wenden, nahm ihr Reininger den Karton wieder aus der Hand und stellte ihn zurück.
„Komm her“, sagte er. Seine ersten Worte nach Stunden, Tagen – oder waren es Jahre? – klangen heiser.
Er hielt sie weit von sich, als er mit peinigender Langsamkeit ihre Bluse aufknöpfte. „Beweg dich nicht!“, befahl er, als sie ihm helfen wollte. Ohne ihren Blick eine Sekunde loszulassen, öffnete er den Reißverschluss ihrer Hose und kniete vor ihr nieder, um ihre Schuhe aufzubinden. Mit festem Griff richtete er sie wieder auf, als sie ihm helfen wollte. Er zog sie aus wie eine Schaufensterpuppe, hielt ihre Arme fest und erlaubte ihr keine Bewegung. Inzwischen nackt, stand sie mitten in ihrem Wohnzimmer und wagte noch immer nicht, sich zu rühren. Die Kälte im Raum – oder war es etwas anderes? – ließ sie frösteln und sie betrachtete ihre eigene Gänsehaut wie eine Makrofotografie. Lange schaute er sie an und Anne hatte das Gefühl, als begutachte er sie wie eine eben erworbene Plastik.
Zielstrebig öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, wobei er ihr mit einer Geste bedeutete stehenzubleiben, bevor er wieder zurückkam.
Er trug sie – selbst noch immer angezogen – zum Bett und setzte sich an den Rand. Sie griff zur Bettdecke, um ihre Blöße zu bedecken, aber er schüttelte nur den Kopf und strich die Decke wieder glatt. Wie ein Windhauch glitten seine kühlen Finger über ihre heiße Haut und verursachten einen Brand in ihrem Unterleib. Ihre erigierten Brustwarzen schmerzten. Sie schämte sich plötzlich der unkontrollierbaren Reaktionen und wandte den Kopf zur Seite. Mit einem Finger nur drehte er ihr Gesicht wieder ihm zu. „Schau mich an!“, befahl er hart. „Ich will dir in die Augen sehen in jeder Sekunde.“
Was ließ sie hier mit sich geschehen?, fragte sich Anne verstört. Er zwang sie, sich ihm auszuliefern und sie schien es auch noch zu genießen. Mit wildem Aufbäumen löste sich Anne aus ihrer Duldungsstarre und warf ihm beide Arme um den Hals, während sie an seinen Hemdknöpfen zu nesteln begann.
„Bitte“, flüsterte sie, „lass mich nicht mehr warten!“
Sanft nahm er ihre Hände von seinem Hals und drückte sie wieder auf die Kissen zurück. „Oh nein, so weit sind wir noch lange nicht“, antwortete er und Anne las einen Ausdruck von Befriedigung in seinen Zügen. Sein Mund fand ihre Brustwarze und seine Hand tastete sich zwischen ihre Beine. Anne zitterte vor Lust, jede Körperzelle schrie nach Erfüllung. Sie wand sich unter seinem erfahrenen Griff, als er sie unvermittelt losließ und aufstand.
Er rückte seine Krawatte zurecht und ging ohne ein Wort zur Tür.
„Nein – bitte nicht so!“ Nackt, wie sie war, sprang Anne vom Bett, um ihn aufzuhalten.
„Ich werde dich anrufen.“ Nur kurz wandte er sich noch einmal um, bevor er ging.