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Kein Toner mehr, bitte rufen Sie den Wartungsdienst, leuchtete das Display des Fotokopierers und Phil hätte am liebsten dagegengetreten. Das kam davon, dass der Kopierer im Gang stand. Jeder bediente sich und keiner fühlte sich verantwortlich. Da halfen auch die Codenummern nichts, die sich Wieland für jeden einzelnen Mitarbeiter ausgedacht hatte, um das Kopieren einzudämmen. Als Carla noch dafür verantwortlich war, hatte es nie solche Zwischenfälle gegeben. Phil öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, um ihr genau dies zu sagen, und sah Anne vor ihrem Schreibtisch stehen. Sie trug eine Lederjacke und die Tasche hing von ihrer Schulter wie ein nasser Sack. Anne war blass unter der Sonnenbräune und tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Mit den Fingern rieb sie ihre Schläfen.

„Hast du vielleicht eine Kopfschmerztablette?“, fragte sie Carla.

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, sagte diese sarkastisch und wies auf einen Anschlag, der an der zur Pinwand zweckentfremdeten Tür hing. „Keine Chance, dich zu drücken, ob mit oder ohne Kopfschmerzen, heute ist Christians Geburtstagsfeier.“ Sie zog eine Schublade aus dem Schreibtisch und fand zwischen Tassen, Tellern und einer Ersatz-Strumpfhose zwei Tablettenschachteln. „Brause-Aspirin oder Paracetamol?“, fragte sie. Anne nahm ein Aspirin.

„Vielen Dank, Carla – ich denke an heute Abend – guten Morgen Phil“, murmelte sie, als sie an ihm vorbeiging. Verdammt, Christians Geburtstag hatte auch er vollständig vergessen. Auf einen Anstandsdrink musste er wohl vorbeischauen.

Phil schloss die Tür und schaute Anne nach, wie sie mit energischen Schritten den Flur entlangging, lauschte auf das Klacken ihrer Absätze auf dem gebohnerten Fußboden und fragte sich, wie so eine zierliche Frau den Eindruck von Größe vermitteln konnte. Es musste an ihrer Persönlichkeit liegen. Sie schulterte ihre riesige Tasche, die ihren halben Hausstand enthalten musste, und strich sich über ihr knabenhaft kurzes Haar, das ihren ausgeprägten Hinterkopf betonte.

Sie begegnete Kurt Falser, der Anne anstrahlte, doch sie schien es nicht zu bemerken. Nicht zum ersten Mal dachte Phil, dass er noch selten eine Frau getroffen hatte, die sich ihrer Wirkung auf Männer weniger bewusst war, als Anne.

Fand er sie deshalb so unwiderstehlich – oder waren es die Widersprüche, die sie in ihrer Person vereinigte? Anne konnte schlagfertig sein, mutig in ihren Auseinandersetzungen mit Wieland, zäh in ihrem Engagement um die Wahrheit – und zugleich voller Angst.

Nachdenklich ging Phil zurück an seinen Schreibtisch. Seine Gedanken drifteten ab zu jenem Betriebsausflug im Sommer, als er, Anne, Christian und Carla irgendwo in der Nähe des Königssees gewandert waren. Christian hatte eine Flasche Enzian gekauft und sie in immer kürzeren Abständen zur Stärkung angeboten, bis sie an diesem hellen Sommernachmittag die gesamte Fassung der ‚Frau Wirtin in ihrem Wirtshaus an der Lahn‘ sangen und jenes Stadium der Albernheit erreicht hatten, in dem auch die schlimmsten Kalauer witzig waren.

Er sah Anne vor sich, die Beine ihrer Jeans hochgekrempelt, forsch die Richtung bestimmend, bis sie unvermittelt stehenblieb.

Der Pfad, auf dem sie gingen, hatte sich verengt und plötzlich auf einer Lichtung geendet. Ohne die ihn säumenden Bäume war plötzlich ein steiler Abgrund erkennbar, nicht besonders tief und eigentlich hätte es nur eines einzigen Schrittes bedurft und der Weg wäre wieder breiter geworden. Doch Anne ging ganz langsam in die Knie, hielt die Hände vor die Augen und schüttelte den Kopf. Sie habe Höhenangst, gestand sie. Phil lachte sie aus und sie lachte mit, bis ihr die Tränen kamen. Schließlich spürte er, wie echt ihre Angst war und führte sie. Sie klammerte sich an ihn, bis sie einen ungefährlicheren Punkt erreicht hatten. Ausgerechnet an ihn, dachte er damals. Heute fragte er sich, ob dies der Moment gewesen war, in dem er sich in sie verliebt hatte.

Die Stimme Wielands holte ihn zurück in die Gegenwart. Er stand, ein Manuskript in der Hand, im Türrahmen. Hinter ihm auf dem Flur sah Phil Anne, die sich mit einer Cola-Dose die Stirn kühlte.

„Da – Eisenmann – vielleicht schaffen Sie es ja, aus diesem sentimentalen Wust etwas zu machen. Mir ist es nicht gelungen.“ Mit einem höhnischen Grinsen über die Schulter in Annes Richtung warf er das Manuskript auf Phils Schreibtisch.

„Habe ich nicht ein Recht zu sehen, was an diesem Bericht so falsch sein soll?“ Anne musste ihre Arbeit erkannt haben und ging ihm ein paar Schritte nach, doch Wieland machte keinerlei Anstalten, ihr zu antworten.

„Was war es denn heute?“ Anne griff nach dem Manuskript auf Phils Schreibtisch, aber er nahm es ihr gleich wieder aus der Hand.

„Tu dir das doch nicht an, Anne!“ Phil hatte gesehen, was auf dem Papier stand. Nicht einzelne Passagen hatte Wieland beanstandet, sondern mit schwarzem Filzstift diagonal über ihren Bericht „Quatsch“ geschrieben.

„Wieland ist ein Schwein“, stieß sie hervor und fragte im gleichen Atemzug: „Hast du mal eine vernünftige Zigarette für mich oder nur eine selbstgedrehte?“ Automatisch griff Phil in seine Hosentasche und bot Anne eine Mentholzigarette an. Er holte tief Atem: „Wieland als Schwein zu bezeichnen, würde ihn zu sehr aufwerten – das weißt du doch selbst. Warum räumst du ihm so viel Macht über dich ein?“

„Weil er sie hat!“ Anne fuhr herum. „Selbst, wenn ich ihn für den Blödmann hielte, der er vielleicht ist, er ist der Chef und sitzt am längeren Hebel.“

Sie bemerkte Phils Stirnrunzeln und dämpfte ihren harschen Ton. „Entschuldige, ich lasse mich gehen. Ich weiß, du willst mich trösten, und ich danke dir, aber du hast Wielands Mobbing noch nicht aushalten müssen und kannst es bei allem guten Willen nicht verstehen.“

Phil schüttelte den Kopf und sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete.

„Ich glaube eher, du bist diejenige, die hier einiges nicht versteht …“

Anne ließ ihn nicht ausreden. Unwirsch drückte sie ihre halbgerauchte Zigarette aus. „Ich würde ihm ja gerne zugutehalten, dass er Frauen einfach nicht mag – aber er hat nun einmal nur mich auf dem Kieker, Angie und Carla behandelt er doch zumindest respektvoll. So langsam zweifele ich an allem, was ich schreibe.“

„Aber genau das meine ich“, entgegnete Phil. „Damit arbeitest du ihm doch in die Hände …“

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun, ohne meinen Job loszuwerden?“

„Ihm nicht zeigen, wie sehr er dich verletzen kann, er hat doch viel mehr Komplexe vor dir als umgekehrt – aber ich gebe zu, dass Souveränität in deinem Fall nicht einfach ist.“

„Phil, kannst du mal einen Blick auf meinen Computer werfen …?“ Die Neugier stand Wolfgang ins Gesicht geschrieben, als er von seinem Schreibtisch aufstand, zweifellos um ihre Unterhaltung zu bereichern. Phil bremste ihn mit einem knappen „später, Wolfgang“ aus. Beleidigt zog er wieder von dannen.

„Wenn du es schaffen könntest, Wieland mit etwas mehr Gleichmut den Wind aus den Segeln zu nehmen …“, wandte sich Phil wieder an Anne und sah, dass sie seinen Bericht über den Leichenfund in den Händen hielt und aufmerksam las. Stirnrunzelnd zeigte sie auf seine handschriftliche Notiz. „Was meinst du mit Ludwig Moreno? Kann er dir weiterhelfen?“

„Der wird keinem mehr weiterhelfen …“, antwortete Phil und sah, wie Anne blass wurde.

Sie schluckte. „Ist er etwa der Tote? Aber, wenn du es nicht schreibst, hast du doch noch Zweifel …“ Annes Augen flehten.

„Nein, wohl kaum“, gab Phil zurück, „ich habe das alles noch nicht offiziell und muss noch vorsichtig sein. Bitte sprich auch du nicht darüber.“ Er unterbrach sich, als er sah, dass Anne auf den Besucherstuhl gesunken war, das Manuskript flatterte auf den Boden.

„Warum bestürzt dich sein Tod so?“, fragte er befremdet, doch Anne gab nur ein unbestimmtes Murmeln von sich, das sich wie „gerade erst kennengelernt“ anhörte und ging.

Phil spürte, wie die Eifersucht in heißen, roten Wellen über ihn wegschwappte. Was hatte sie mit Moreno zu schaffen? Der Kerl konnte fast ihr Vater sein. Aber das ging ihn nichts an, dachte er bitter, er war doch ohnehin nur Luft für sie.