Rauchschwaden und dämmeriges Licht behinderten Annes Sicht, als sie kurz nach Büroschluss das Salvator-Stüble erreichte, und sie hörte ihre Kollegen mehr als sie diese sah. Das Lokal lag der Redaktion direkt gegenüber und sie hatten es schon lange zur ‚Kantine‘ umfunktioniert. Es hatte den Charme eines noch nicht zu Tode renovierten, alten Gasthauses mit dunkel gebeizten Holzverkleidungen an den Wänden und naturbelassenen Holztischen. Die Theke bildete ein Karree in der Mitte und war hell beleuchtet. Auf den Stühlen davor knobelten zwei Männer in stoischer Gelassenheit um das nächste Bier, umringt von aufmerksamen Zuschauern.
Sie hatten es mit anderen Kneipen versucht, vor allem, weil Wieland dort nicht so ohne Weiteres auftauchen konnte, waren aber sehr schnell wieder reumütig zurückgekehrt. Entweder war die Atmosphäre zu steril, oder sie waren freundlich aber bestimmt gerügt worden, sich etwas leiser zu verhalten: „mit Rücksicht auf unsere anderen Gäste, Sie verstehen.“
Anne folgte dem Lärmpegel und sah ihre Kollegen am runden Tisch in der Ecke, der durch ein Holzgitter optisch vom übrigen Raum abgetrennt war.
„Sieh dir das an, Anne – das nennen meine lieben Kollegen ein Geburtstagsgeschenk“, kreischte Christian von seinem Ehrenplatz und sein Schnurrbart zitterte ebenso vor Vergnügen wie die unvermeidliche Fliege. In der linken Hand hielt er ein seltsames Gebilde, das wie ein Schweinezahn aussah und auf einem kleinen Holzpodest befestigt war, die rechte schwenkte einen riesigen Blumenstrauß, den Carla mit energischem Eingreifen an sich nahm und so vor dem sicheren Ruin bewahrte.
Anne besah sich das Gebilde von allen Seiten und Kurt klärte sie auf: „Bevor du fragst, Anne – dieses Kunstwerk soll den Affenzahn darstellen, mit dem Chris bei seinen Rezensionen vorzugehen pflegt.“
„Nein, die Kreation ist nicht von mir“, widersprach Phil Annes spontanem Blick in seine Richtung. „Die Idee stammt von Wolfgang und beschafft hat den Zahn Willi dank seiner ausgezeichneten Kontakte zur Landwirtschaft.“
„Hallo Angie, wie war dein Urlaub?“, rief sie ihrer Freundin zu, die ihr zuwinkte und auf den freien Stuhl neben sich deutete. Sie bemerkte einen kleinen Pickel auf Angies Kinn, als sie sich setzte. Angie trug ihre obligatorischen Jeans und hatte als einziges modisches Attribut einen grün-gestreiften Kurzpullover angezogen. Ihr halblanges, mittelbraunes Haar war, so lange Anne sie kannte, als Pagenkopf geschnitten. Anne bewunderte Angies gleichgültige Einstellung allen modischen Neuerungen gegenüber und hätte gerne selbst etwas mehr von diesem Selbstverständnis gehabt.
„Wann kommst du endlich zurück, Angie, ich habe dich schon vermisst … Wolltet ihr nicht nur eine Woche in den Bergen bleiben?“, fragte Anne.
„Vermisst – das sagt die Richtige, seit drei Tagen versuche ich schon dich zu erreichen. Hörst du eigentlich deinen Anrufbeantworter von Zeit zu Zeit einmal ab oder bist du nur noch unterwegs?“ Angies lachende Augen straften ihren vorwurfsvollen Ton Lügen. „Gibt es da etwas, das ich noch nicht weiß?“
Sie nahm kurzerhand das frische Bier, das die Bedienung Wolfgang gebracht hatte und stellte es vor Anne hin. „Bestell dir ein neues, Anne muss ja verdursten“, befahl sie ihm kurz und wandte sich wieder an sie. „Aber sag doch, wo steckst du eigentlich? Jürgen hat erst gestern Abend gefragt, wann du uns wieder mal besuchst und die Kinder haben auch schon nach dir gefragt … He du, das war Spaß!“, fügte sie hinzu, als sie in Annes Gesicht sah und ihre ernste Miene bemerkte.
„Das ist eine lange Geschichte, aber ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, sie dir zu erzählen“, antwortete Anne. „Aber ich brauche dringend deinen Rat.“
Annes Aufmerksamkeit wurde abgelenkt von einem Schatten vor dem Fenster. Für einen Augenblick glaubte sie, draußen Matthias gesehen zu haben und sie musste sich beherrschen, nicht aufzuspringen und nach draußen zu gehen. Gläser wurden herumgereicht, Aschenbecher geleert, Trinksprüche ausgebracht und Anne stellte fest, dass von Zeit zu Zeit zu nicken und „tatsächlich“ einzuwerfen, als Gesprächsbeitrag reichte. Dialoge und Gelächter mischten sich zu einem einheitlichen Klangbild, dem Summen eines Bienenstocks nicht unähnlich. Anne war dankbar, dass keinem auffiel, dass ihre Gedanken woanders waren.
„…müssen wir uns dagegen wehren!“
Anne registrierte, dass Wolfgang, der links neben ihr saß, schon die ganze Zeit auf sie einsprach. Sie hatte nichts davon mitbekommen. Sie streifte die Erinnerungen an die vergangene Nacht ab und stellte ihre Wahrnehmung scharf.
„Wogegen sollten wir uns wehren? Entschuldige ich habe deinen letzten Satz akustisch nicht verstanden“, wandte sie sich an Wolfgang.
„Ich bitte dich, Anne, ich rede von Wielands schwachsinnigen Verfügungen, uns in eine Liste einzutragen, wenn wir das Haus verlassen.“ Wolfgang griff in seine Hosentasche und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken, offensichtlich hatte er sich in Rage geredet.
Anne verwünschte ihre Unkonzentriertheit. Wozu mochte sie wohl die ganze Zeit genickt haben, ausgerechnet bei Wolfgang. Sie hatte die Attacke in seiner Wohnung noch nicht vergessen, auch wenn sie beide so taten, als hätte sie niemals stattgefunden.
„Es gibt weitreichendere Angelegenheiten, die mit Wieland zu beackern wären, als ausgerechnet seine neue Laune. Spätestens in drei Wochen ist die Liste ohnehin Makulatur.“ Ausgerechnet Phil rettete sie aus ihrem Zwiespalt. Wie hatte er zuhören können, wo ihm doch Barbaras Anbetung galt?
Anne hatte genug von der geselligen Runde. „Ich muss raus hier – du hast etwas gut für eine brauchbare Ausrede“, flüsterte sie Angie zu, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. Sie wurde aufgehalten von Lilo, der Wirtin, die das eben polierte Glas samt Tuch auf der Theke stehenließ und ihr einen Zettel in die Hand drückte.
„Da war gerade ein Anruf für Sie …“
Anne entfaltete den Zettel im spärlichen Licht der gusseisernen Wirtshauslampe vor dem Eingang, das zwar anheimelnd war, zum Lesen jedoch wenig taugte. Gerade noch so konnte sie erkennen, dass neben dem blauroten Logo mit stilisierter Goldähre für Weißbier eine Handy-Nummer stand, die sie nicht kannte.
Aus den zahllosen Musikkassetten auf dem Beifahrersitz wählte sie Mozarts Klavierkonzert Nr. 25 aus und spulte das Band vor bis zum dritten Satz. Die heitere Musik vertrieb ihre Beklemmung und sie entschied sich, die unbekannte Handy-Nummer gleich von hier aus anzurufen. Wahrscheinlich bedeutete sie Arbeit, und die wollte sie nicht mit nach Hause nehmen.
Anne tippte die Nummer in ihr Handy und seufzte erleichtert auf, als eine unvergleichlich kultivierte Stimme verkündete, dass der Teilnehmer im Augenblick nicht erreichbar wäre. Sie wollte gerade den Motor starten, als es an ihre Fensterscheibe klopfte. Anne fuhr herum und schaute mitten in das lächelnde Gesicht von Matthias Reininger.
Wie auf der Detailvergrößerung eines Fotos nahm sie seine vollen Lippen und die Bartstoppeln auf seinem Kinn wahr – eigentümlich verzerrt durch das Fensterglas.
In gleichem Maße, wie ihre visuelle Wahrnehmung scharf konturierte Eindrücke vermittelte, fühlte sich Anne in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und zu keiner Reaktion imstande. Sie sah wie Reiningers Lächeln gefror und sich seine Augen verengten, bevor ihre kurzzeitige Lähmung und das Blut mit fast animalischer Kraft in ihren Bauch und ihre Beine schoss. Sie hätte mit der der unerwartet wiedererlangten Energie Matthias die Autotüre auf die Nase geschlagen, hätte er sie nicht selbst geöffnet.
Der Kuss, mit dem er sie in seine Arme riss, ließ die gesamte Umgebung einschließlich der immer noch offenstehenden Autotür in einen dämmerigen Nebel sinken, in dem nur seine sich verdunkelnden Augen einen sichtbaren Mittelpunkt bildeten. Sie empfand die Umarmung als kleine Ewigkeit, bis sich die Umrisse ihrer Umgebung wieder aus dem grauen Nebel schälten, und sie beide fast gleichzeitig zu sprechen begannen.
„Ich konnte nicht so einfach wegfahren, als ich dich, umringt von Männern, in diesem Lokal sah.“ Seine Stimme war belegt. „Und vielleicht hättest du ja auch nicht zurückgerufen, es schien mir sicherer zu warten.“
„Dann war das deine Nummer, die auf dem Zettel stand.“ Annes Stimme wollte kaum gehorchen, bevor sie in ein überdrehtes Lachen umschlug. Die weibliche Hälfte des ältlichen Paares, das dem Lokal zustrebte, drehte sich zu ihnen um, und Anne musste an sich halten, um ihr nicht die Zunge herauszustrecken.
Ohne den Arm von ihrer Taille zu nehmen, zog Reininger den Autoschlüssel ab, schloss zu und dirigierte sie, ihren linken Ellbogen umfassend, energisch über den Parkplatz zu seinem BMW.
„Ich bin in einem emotionalen Zwiespalt“, bemerkte er, „Familienverpflichtung contra Neigung.“ Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Warum also nicht beides verbinden? Meine Schwester hat heute Abend eines ihrer ausgefeilten Abendessen vorgesehen, sie ist eine ausgezeichnete Köchin übrigens, und ich würde es ungern versäumen – aber ich wollte dich sehen.“
Anne erschrak, sie fühlte ihr Herz bis zum Halse klopfen. ‚Ich bin noch nicht soweit, das geht mir alles ein bisschen schnell, ich fühle mich zerknittert und wollte duschen‘, waren die Antworten, die ihr auf diese spontane Einladung einfielen. Sie blieben ungesagt, stattdessen setzte sie sich geradewegs in Reiningers BMW und fand sich bald auf dem Weg zu seiner Villa.
Der Abend war diesig, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge bohrten ihre Lichtgarben in den Dunst, dicke Wolken vor dem Dämmerhimmel versprachen Regen. Pendler mit Hut und Aktentasche an den Bushaltestellen schlugen den Mantelkragen hoch und junge Frauen mit Einkaufstüten knöpften ihre Mäntel zu und schauten ungeduldig auf ihre Armbanduhren, begierig, den unwirtlichen Abend gegen ein behagliches Wohnzimmer einzutauschen.
Auch Anne fröstelte, trotz der aufgedrehten Heizung. Sie fühlte sich beklommen, während sie den Mann an ihrer Seite beobachtete. Er schien auf unbestimmte Weise gehetzt. Sein aggressiver Fahrstil verriet es und die feinen Schweißtröpfchen auf seiner Oberlippe. Außer einigen, teilweise recht derben Aussagen über andere Verkehrsteilnehmer, hatte er noch nichts zur Unterhaltung beigetragen. Bereute er es bereits, sie eingeladen zu haben?
„Ich wäre wohl nicht erfreut über einen unerwarteten Gast zum Abendessen, wenn ich deine Schwester wäre“, versuchte Anne die angestrengte Stimmung aufzubrechen, halb erwartend, dass Reininger sie mit einer beruhigenden Äußerung aufrichten würde. Seine knappe Erklärung: „Irene ist eine Meisterin der Improvisation“ tat es nicht. Noch war Zeit, die ungute Situation zu beenden, an der nächsten Bushaltestelle auszusteigen und in die Stadt zurückzufahren. Stattdessen blieb sie sitzen und startete einen weiteren verzagten Versuch, die Atmosphäre aufzulockern: „Ich bin fürs Büro angezogen und nicht für eine Dinnereinladung …“
„Das ist gut, das ist sogar sehr gut“, erwiderte er und Anne verstand überhaupt nichts mehr.
Ein fast heiteres Lächeln überzog sein Gesicht und er wirkte unversehens entspannt. Aufgeräumt merkte er an: „Müssen wir nicht das Interview noch einmal durchgehen, vielbeschäftigte Menschen, die wir beide sind? Und wo kann man das besser als bei einem gelösten Abendessen?“
Also doch, dachte Anne, er hat die ganze Zeit nach einer plausiblen Erklärung für seine Schwester gesucht. Sie passte also nur in ihrer Funktion als Journalistin in die erlauchte Familie. Sie lachte auf – doch er schien den unechten Klang ihres Lachens nicht zu bemerken.
Eine Welle von Panik durchflutete sie, als sie in die Straße, an der seine Villa lag, einbogen. Auch in der Dunkelheit verbreitete diese Gegend die Aura überlieferten Reichtums. Erlesene Gartenlampen tauchten Bäume, Aufgänge und Sträucher in gedämpftes Licht, das die hier und da sich schon einschleichenden Zeichen des Verfalls gnädig korrigierte. „Manderley“, der illustre Landsitz aus Daphne du Mauriers legendärem Roman ‚Rebecca‘, fiel Anne ein, als sie durch das geöffnete Tor in den beleuchteten Garten fuhren.
„Gehen wir!“ Aufmunternd drückte Matthias ihre Hand und ging entschlossen voraus. Das Geklapper von Geschirr war durch ein offenes Fenster, hinter dem sich vermutlich die Küche befand, zu hören. Irgendwo im Hausinnern erklang ein Klavierkonzert.
Reininger nestelte an seinem Schlüsselbund, doch die Haustüre wurde bereits von innen geöffnet, und seine Schwester begrüßte ihn mit anmutigem Lächeln. Wenn sie überrascht war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Ich dachte mir, ich hätte Stimmen gehört“, sagte sie – ganz souveräne Hausherrin. „Wie schön, dass wir einen Gast haben.“
„Ich hielt es für eine gute Idee, Frau Michel zum Abendessen einzuladen“, antwortete er. „Ich hoffe nicht, dass ich meine Vorschusslorbeeren zu deinen Kochkünsten zurücknehmen muss …“
„Habe ich dich jemals enttäuscht?“, gab sie mit einem Lachen in der Stimme zurück, während sie Anne die Hand reichte. Ihr fester Händedruck signalisierte, dass sie gewohnt war zuzupacken, doch sonst erinnerte an ihrer Erscheinung nichts mehr an die unkonventionelle Frau in Jeans und Leinenkittel, die sie vor wenigen Tagen kennengelernt hatte. Heute trug Irene Reininger ein dunkelblaues Strickkleid, geschmückt von einer einreihigen Perlenkette, ein Outfit, das ein Vermögen gekostet haben musste in seinem schlichten Understatement. Das hellblonde Haar fiel ihr in weichen Wellen auf die Schultern. In der linken Hand trug sie ein Geschirrtuch.
„Bietest du unserem Gast einen kleinen Aperitif an?“, fragte Irene ihren Bruder. „Mich müssen Sie leider noch kurz entschuldigen.“
„Was möchten Sie gerne trinken - einen Sherry oder vielleicht einen Martini?“ Der hungrige Blick, den Reininger Anne bei diesen Worten zuwarf, strafte den sachlichen Ton, der sicher bis in die Küche zu vernehmen war, Lügen und ließ ihre Nervenzellen vibrieren vor plötzlich aufflammender Begierde.
„Eigentlich wollte ich einen klaren Kopf behalten, ich habe da noch einige Fragen an Sie“, ging sie auf sein Spiel ein, während sie die Einrichtung des Esszimmers auf sich wirken ließ. Ein erlesener Mahagonischrank mit gedrechseltem Aufsatz dominierte die der Tür gegenüberliegende Wand. Die gleichen gedrehten Elemente wiederholten sich an den hohen Lehnen der Stühle und an den Tischbeinen. Helle, chinesische Teppiche lagen auf glänzendem Parkett und schwere, gelbe Samtvorhänge rahmten riesige Sprossenfenster ein. Ein Fensterflügel war geöffnet und ließ die Umrisse eines geschmiedeten Gitters erkennen. Der richtige Rahmen für Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘, dachte Anne und viel eher für eine Literaturverfilmung geeignet als für den Lebensraum zweier relativ junger Menschen.
Sie entschied sich für einen Martini als Aperitif und setzte mit diesem Wunsch ein komplexes Geschehen in Gang, dessen reibungsloser Ablauf ihr Respekt abnötigte.
Sie staunte über Matthias‘ Fertigkeiten als Barmixer und die fachkundige Assistenz seiner Schwester, die im genau richtigen Augenblick, Eis und Oliven aus der Küche zauberte. Offenbar hatte ihr allein das Öffnen der Schranktüre als Stichwort gedient. „Sie wären gut beraten, den Martini zu mögen“, stellte Irene lachend fest, während sie ihr zuprostete. „Martinis sind der ganze Stolz meines Bruders.“
„Gerührt, nicht geschüttelt. Ich halte es nicht mit James Bond, seine Neigungen werden doch wohl überbewertet“, warf er ein und fischte sich die Olive aus dem Glas, während er ihr einen hintergründigen, schnellen Blick zuwarf.
„Seine Vorliebe für geschüttelte Martinis, meinen Sie? Oder war da noch etwas, das mir entgangen ist?“ Anne fand inzwischen Gefallen an den unterschwelligen Botschaften und der erotisierenden Stimmung, die sie erzeugten.
„Wir sollten allerdings jetzt wirklich essen“, ließ sich Irene vernehmen, während sie die Kerzen auf dem wuchtigen Messingleuchter anzündete, den sie in einem herbstlichen Gebinde aus Sanddorn- und Schlehenzweigen arrangiert hatte. Das Orange und das Dunkelblau ihrer Beeren bildete einen wirkungsvollen Kontrast zu dem satten Gelb der Damasttischdecke.
Wann Irene das dritte Gedeck aufgelegt hatte, war Anne entgangen. Offenbar war sie völlig gefangen von den beiden charismatischen Menschen und dem Ambiente, in dem sie so souverän agierten. Der Alkohol und die sanfte Hintergrundmusik lullten sie ein. Die Müdigkeit tat das ihre. Sie durfte ihre Selbstkontrolle nicht ganz verlieren, ermahnte sie sich.
Irene brachte eine dampfende Suppenterrine und stellte sie auf den Tisch. „Tomatensuppe provenzalisch“, verkündete sie dabei und der Duft südlicher Gewürze durchzog den Raum wie eine Sommerbrise und lockerte dessen steife Ernsthaftigkeit ein wenig auf.
Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie Menschen auf Gerüche reagieren, sinnierte Anne. Düfte dringen in unsere Empfindungen, nehmen von ihnen Besitz, respektlos und unbekümmert wie spielende Kinder. Mühelos schüttelte Anne ihre dumpfe Lethargie ab und nahm sich einen reichlich bemessenen Teller Tomatensuppe.
„Köstlich“, bemerkte sie spontan, „das Rezept dieser Suppe gehört in die Wochenendbeilage unserer Zeitung. Wir veröffentlichen jede Woche außergewöhnliche Rezepte, wissen Sie“, fügte sie hinzu.
„Ich bitte Sie!“, entgegnete die Gastgeberin, „es ist doch nur eine Suppe“, errötete jedoch über das Lob, während ein schneller Blick ihren Bruder streifte.
„Ich habe doch nicht zu viel versprochen“, ließ sich der vernehmen und die Selbstverständlichkeit, mit der er das seiner Schwester ausgesprochene Kompliment auf sich selbst bezog, entging Anne nicht.
Reininger aß schnell, fast gierig und war mit seiner Suppe fertig, bevor Anne noch recht begonnen hatte. Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Seine Miene drückte Stolz aus, während er sich an Anne wandte.
„Sie sollten nicht vorschnell urteilen“, sagte er, „Irenes Zander in Riesling begeistert selbst mich immer wieder aufs Neue – du hast doch Zander gekocht heute?“ Sein fragender Blick streifte Irene, die dem seinen fast ängstlich begegnete.
Warum verwöhnst du diesen Pascha eigentlich so, flog es Anne durch den Kopf, während Irene bereits aufgestanden war und die leeren Teller und die Suppenschüssel einsammelte.
„Und für Sie sind solche Genüsse selbstverständlich?“, fragte sie provozierend. Doch er quittierte ihre Aussage lediglich mit einem breiten Lächeln. Anne hätte sich fast an ihrem Wein verschluckt, als sie seinen Fuß unter dem Tisch bemerkte, der sich in einer zärtlichen Geste bis zu ihrem Oberschenkel vorschob, während sein Blick völlig unbeteiligt auf Irene ruhte, die ihm mit überlegenem Können den Fisch vorlegte.
„Die Sorge um ihr Wohlergehen als selbstverständlich ansehen, da sind offenbar alle Männer gleich, auch Brüder“, bemerkte Irene mit unterdrückter Bitterkeit.
Anne spürte Hitze über ihren Hals kriechen. Einerseits ließen sie die Spiele, die mit wachsender Intensität unter dem Tisch stattfanden, keineswegs kalt und andererseits fragte sie sich, wie viel Irene davon, ungeachtet ihrer vollkommenen Höflichkeit, wohl mitbekam. Sie hatte immerhin ihre letzte Bemerkung auch in der Küche mitgehört.
Ja, und wir Frauen bestärken sie in dieser Haltung – Anne zweifelte noch, ob sie ihre Gedanken aussprechen sollte, als Irene abrupt das Thema wechselte.
„Erzählen Sie doch etwas von sich“, forderte sie Anne auf. „Wie behauptet sich eine junge Frau wie Sie in der harten Welt der Presse? Ich habe erst kürzlich eine Erhebung gelesen, wonach Journalisten der am stärksten von einem Herzinfarkt bedrohte Berufsstand sind …“
„Und Bibliothekare das gesündeste Leben führen“, setzte Anne hinzu, „ich kenne den Artikel.“
„Frau Michel lebt eben gerne gefährlich“, warf Matthias Reininger mit dem trägen Lächeln einer satten Katze ein. Seine Hand spielte mit dem leeren Weinglas, während Irene ihn mit einem strafenden Blick bedachte. Galt diese nonverbale Warnung allein der Aufrechterhaltung gastlicher Höflichkeit oder bedeutete sie etwas anderes? Anne vermochte es nicht zu sagen. Sie rettete sich in Sachlichkeit und ignorierte das Mienenspiel der beiden.
„Für mich war Journalistin immer ein Traumberuf“, antwortete sie, allerdings weniger aus der heute in unserem Beruf so häufig anzutreffenden Motivation der Geltungssucht heraus, als vielmehr aus der reinen Lust am Geschichtenschreiben. Mein Ressortleiter wirft mir deshalb fast täglich vor, mir fehle der Biss.“
Entschlossen richtete sich Anne auf ihrem Stuhl auf und rückte ihn etwas zurück, um endlich aus der Reichweite des fordernden Fußes unter dem Tisch zu kommen. „Da wären Sie aber die große Ausnahme.“ Matthias Reininger erwachte schlagartig aus seiner trägen Passivität. „Nennen Sie mir einen Journalisten, der nicht Meinung machen will, anstatt politisches oder gesellschaftliches Geschehen nur kritisch zu begleiten.“
Sein Ton war barsch, fast ärgerlich und so sehr ihm Anne prinzipiell recht geben musste, so wenig war sie bereit, die pauschale Beschuldigung hinzunehmen.
„Wenn Sie das so empfinden, dann frage ich mich allerdings, warum gerade Politiker jeder Couleur dieser ‚gemachten Meinung‘ so hinterherhecheln, dass es manchmal geradezu peinlich wirkt“, bot sie ihm Paroli. „Wenn Sie mich fragen, verdienen beide Gruppen einander, sie sind sich viel ähnlicher als sie glauben.“
„Halt!“, beschwichtigte Irene. „Einen Streit wollte ich nun nicht gerade heraufbeschwören. Ich schlage vor, wir trinken jetzt einen Kaffee. Setzen wir uns dazu ins Wohnzimmer?“, fragte sie ihren Bruder und fügte hinzu: „Contenance – lieber Matthias – du musst lernen, dein Temperament zu zügeln. Das ist vielleicht ein schmerzhafter Prozess, aber unabdingbar für deine Ambitionen. Ein Oberbürgermeister muss sich in der Hand haben.“ Matthias‘ Gesichtsausdruck verdüsterte sich bei ihren Worten und erinnerte an ein trotziges Kind.
„Wissen Sie, Contenance war der Lieblingsbegriff unseres Vaters – Matthias hatte damit schon immer seine Schwierigkeiten“, richtete Irene sich an Anne. Dabei umspielte ein schwer zu deutendes Lächeln ihre Lippen. Wäre der Gedanke nicht absurd gewesen, hätte Anne dieses Lächeln zufrieden genannt.
Das Wohnzimmer hatte nicht die perfekte, aber beinahe düstere Atmosphäre des Esszimmers, auch wenn es ebenso kostbar ausgestattet war. Anne schloss aufgrund der großen Flügeltüren, die auf jene Terrasse führten, die sie bei ihrem ersten Besuch kennengelernt hatte, dass es sich um das Zimmer handeln musste, dessen Inneres sie damals nur ahnen konnte. Aber nicht nur die ausgedehnte Fensterfläche ließ es geräumiger erscheinen, es war auch viel sparsamer eingerichtet. Außer einer hellen Sitzgruppe, einem offenen Kamin und einem Einbauschrank enthielt es keine Möbel.
Anne verstand den Sinn der spartanischen Ausstattung, als sie sich setzte und ihr Blick auf die den Fenstern gegenüberliegende Wand fiel. Das riesige Kunstwerk, das die gesamte Fläche beherrschte, nahm ihr fast den Atem. Eine Collage aus Malereien aller Epochen – Anne erkannte stilisierte Renaissance-Motive ebenso wie impressionistische – bildete den Rahmen für den großen abstrakten Mittelpunkt, an dessen Rand die Farben zu explodieren schienen und sich immer heller werdend in einem klaren weißen Punkt in der Mitte bündelten. Der Effekt war dramatisch. Anne fühlte sich wie von einer unsichtbaren Macht in diesen weißen Punkt hineingezogen.
Sie wendete den Blick von der magischen Wand erst ab, als Irene ihr eine Tasse Kaffee anbot. Sie musste das Bild regelrecht angestarrt haben.
„Möchten Sie den Kaffee mit Milch und Zucker?“, fragte die Hausherrin und erst jetzt wurde Anne bewusst, dass keiner der beiden gesprochen hatte, obwohl es ihr so vorkam, als hätte sie eine kleine Ewigkeit das Bild betrachtet.
„Nein, danke – für mich bitte keinen Kaffee mehr so spät“, entgegnete sie zerstreut und fügte hinzu: „Das Gemälde – es ist überwältigend. Auch wenn ich mich jetzt wahrscheinlich als Banausin offenbare, muss ich nach dem Künstler fragen …“
Mechanisch kramte sie in ihrer Handtasche nach einer Zigarette, bevor sie sich auf ihre Manieren besann und fragte, ob sie rauchen dürfe. Da erst wurde sie gewahr, dass ihre Frage eine seltsame Wandlung im Verhalten der Geschwister bewirkt hatte. Irene saß, den Kopf über ihre Kaffeetasse gebeugt, regungslos da und Matthias schaute fürsorglich auf seine Schwester, bevor er sich räusperte und aufstand, um Anne einen Aschenbecher zu holen.
„Das Bild hat meine Schwester gemalt“, eröffnete Matthias Reininger schroff. Dabei reichte er Anne – ohne sie anzusehen – einen Aschenbecher. Er machte ein paar Schritte auf Irene zu, blieb vor ihr stehen und strich ihr mit einer unbeholfenen Geste übers Haar.
„Aber es ist sensationell“, stieß Anne hervor. „Warum hat noch niemand von Ihnen gehört?“, fragte sie Irene. „Ich bin mir sicher, jeder Galerist, der auf sich hält, würde sich um eine Ausstellung reißen.“ Sie sprang auf, um das Bild noch einmal aus der Nähe anzusehen und als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass Matthias besorgt seine Schwester musterte und auf einen Blick von ihr kaum merklich mit dem Kopf schüttelte.
Anne hielt jäh inne und setzte sich wieder. Offensichtlich war sie im Augenblick Luft für die beiden. Sie begriff den Grund für diese Szene nicht und spürte Ärger. Warum hatten die Reiningers sie überhaupt ins Wohnzimmer gebeten, wenn eine Bemerkung über das Gemälde eine solche Reaktion bei ihnen hervorrief? Sie fühlte sich auf unbestimmte Weise manipuliert, in ein Geschehen eingebunden, dessen Sinn sie nicht verstand.
Mit einem tiefen Seufzer stand Irene auf, ging zum Einbauschrank und legte in den darin verborgenen CD-Player eine neue CD ein. Anne erkannte die ersten Takte von Franz Schuberts Notturno. Sie blieb mit hängenden Armen kurz vor ihrem Bild stehen und als sie sich umwandte, sah Anne Tränen in ihren Augen schimmern.
„Das Bild war für eine Ausstellung gedacht“, begann sie mit leiser Stimme zu Anne gewendet. „Wissen Sie, ich habe Kunst studiert, vor langer Zeit, beinahe in einem anderen Leben …“ Ihre Stimme brach, sie verbarg das Gesicht in den Händen und setzte sich Schutz suchend neben ihren Bruder. Dabei zuckten ihre Schultern vor unterdrücktem Schluchzen.
Matthias war blass geworden, bemerkte Anne, als er sich zu einer Erklärung anschickte. „Wir sollten das Thema heute nicht vertiefen“, sagte er. „Vielleicht ist es besser, wenn ich Sie jetzt heimbringe.“ Er schaute auf seine Uhr. „Es ist doch schon recht spät geworden.“
„Aber nein“, meldete sich bei seinen Worten Irene und wischte sich die Augen, „ich danke Ihnen für Ihr ehrliches Kompliment, Frau Michel. Auch wenn es jetzt nicht so aussieht, ich habe mich über Ihr unvermitteltes Interesse mehr gefreut, als Sie ahnen.“ Sie richtete sich auf. „Ich würde Ihnen auch sehr gerne meine anderen Bilder zeigen.“
Matthias drückte stirnrunzelnd ihren Arm, doch Irene schüttelte seine Hand ab. „Wenn Sie sie immer noch sehen wollen.“ Fast bittend war ihre Stimme dabei geworden. „Damit würden Sie mir wirklich eine Freude machen“, entgegnete Anne warm. All ihr Ärger war verflogen. „Ich habe am Freitag einen freien Tag …“ Abwartend hielt sie inne, doch Irene ging freudig darauf ein.
„Kommen Sie doch auf einen Kaffee am Nachmittag. Wir haben alle Zeit der Welt, mein Bruder kommt erst spätabends zurück“, bot sie an.
„Sehr gern.“ Anne stand auf, um sich zu verabschieden.
„Ich danke Ihnen beiden herzlich für das ausgezeichnete Abendessen“, sagte sie, während sie sich zu gehen anschickte, „ich bin immer noch an dem Rezept interessiert für die Wochenendbeilage.“ Offensichtlich die richtige Bemerkung für einen einigermaßen würdevollen Abschied, dachte sie selbstironisch, als Irene ihr herzliches Lächeln erwiderte und Matthias aufsprang, um ihren Mantel und seine Autoschlüssel zu holen.