Irene Reininger öffnete weit die Türe ihres Schlafzimmers. Die neblige Luft des Herbstmorgens kroch über ihre bloßen Füße unter die weiten Beine ihres dünnen Herrenschlafanzugs. Sie fühlte die prickelnde Frische der kühlen Brise, die die letzten Reste von Schläfrigkeit vertrieb. Nach dem aufwühlenden Abend gestern hatte sie überraschend tief geschlafen.
Sie schüttelte ihr Kissen auf, schlug die Bettdecke zurück und griff nach dem Morgenrock. Auf dem kleinen Balkon vor ihrem Schlafzimmerfenster huschte ein Eichhörnchen durch das Geländer und mit kühnem Schwung auf den Ast der großen Weide. Sie würde im Frühjahr den Gärtner beauftragen müssen, die Weide zu stutzen. Ihre Äste waren inzwischen wirklich zu ausladend, um noch ästhetisch zu sein. Sie schloss das Fenster wieder, von dem Nebel wurden die Betten nur klamm, anstatt auszulüften. Irene trat auf den Gang und hörte ihren Bruder unter der Dusche pfeifen – auch Matthias schien den Abend also genossen zu haben. Sie hatte gar nicht gehört, wann er ins Bett gegangen war, offenbar war sie gleich eingeschlafen. Es war lange her, dass sie Gäste gehabt hatten – langsam wurden sie zu Einsiedlern, ihr Bruder und sie. Das würde sich ändern müssen, wenn er wirklich in die Politik gehen wollte. Sie würde vor der Nominierung seine Parteifreunde einladen. Im Geiste stellte sie schon ein Menü zusammen.
Die offensichtliche Bewunderung Anne Michels hatte ihr gutgetan. Schien ein nettes Mädchen, wenn auch ein bisschen naiv. Vielleicht würde sie sie tatsächlich besuchen und das Rezept vorbeibringen.
Das Esszimmer roch nach Rauch – das war wohl der Preis für die Gastfreundschaft. Impulsiv riss sie die Fenster auf – diesen Geruch konnte sie nicht ertragen, Nebel hin oder her. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und öffnete auch in der Küche die Fenster. Der Wind hatte Laub auf das Fensterbrett geweht. Irene sammelte die modrigen Blätter ein. Sie stellte mit einem schnellen Handgriff ihren vertrauten Sender ein. Die gedämpfte Musik wetteiferte mit dem leisen Gluckern des Wassers in der Kaffeemaschine. Irene deckte den Frühstückstisch im Esszimmer. Das bewährte Muster eines ganz normalen Morgens vertrieb ihre unliebsamen Gedanken an alles, was sich gestern so unvermittelt Bahn gebrochen hatte. Tränen vor einer völlig Fremden. Nun gut, sie würde diesen unbeherrschten Eindruck wieder zurechtrücken. Sie war doch schon wieder auf dem besten Weg, ihre Disziplin wiederzufinden.
In der kalten Luft begann Irene zu frösteln und sie zog den Gürtel ihres Bademantels enger. Sie ging zurück in die Küche, füllte den Kaffee in eine Wärmekanne und nahm die Butter aus dem Kühlschrank. Das Prasseln des Wassers im Badezimmer hatte aufgehört. Irene ging nach oben, um zu duschen. Sie begegnete ihrem Bruder, der – ein Handtuch umgeknotet – auf dem Weg in sein Ankleidezimmer einen kurzen Morgengruß murmelte. „Geht es dir wieder gut?“, wandte er sich, die Türklinke schon in der Hand, noch einmal um. Seine Kinderstube hat Matthias noch selten vergessen, dachte sie dankbar.
„Ich habe dir gestern Abend ein blaues Hemd und die passende Krawatte herausgelegt – ich hoffe, das ist in Ordnung – wir frühstücken in einer Viertelstunde“, teilte sie ihm statt eines umfassenden Berichts über ihr Wohlergehen mit. Sie hatte noch nie geklagt und würde jetzt nicht damit anfangen.
Sie duschte wie jeden Morgen erst sehr heiß und dann eisigkalt, ließ bei der zweiten Heißdusche das Wasser aber länger als gewöhnlich laufen, um mit kalt abzuschließen. Ihre Haut prickelte und sie genoss das wohlige Gefühl. Sie föhnte ihr Haar und steckte es in einem lockeren Dutt zusammen. Dann putzte sie ausgiebig die Zähne und beendete ihre Morgentoilette mit einem Klacks Feuchtigkeitscreme für ihr Gesicht. Es waren die kleinen Dinge, die das Leben erfreulich machten, nicht die großen Szenen, stellte sie entschieden fest. Sie wählte einen weichen Kaschmirpullover und Jeans aus ihrem Kleiderschrank und dachte voller Vorfreude an die erste Tasse Kaffee des Morgens.
Matthias stand bereits, einen Kaffee in der Hand, im Esszimmer. Er trug die Kleidung, die sie ausgesucht hatte. Um den Hals hatte er sich einen Schal geschlungen.
„Willst du etwa schon gehen, frühstücken wir nicht zusammen?“, fragte sie.
„Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor.“ Er lächelte über ihren konsternierten Gesichtsausdruck. „Aber ich will mir keine Angina holen in diesem Eiskeller.“
„Idiot!“ Schmunzelnd rückte sie ihm den Stuhl zurecht und überkreuzte spielerisch die beiden Enden des Schals um seinen Hals. Dann schloss sie die Fenster und drehte die Heizung höher.
„Vielleicht interessiert es dich …“ Irene zündete eine Tischkerze an und reichte den ihrem Bruder Marmelade und Butter. „… Ich habe meine Vorbehalte gegen deine politische Karriere endgültig aufgegeben. Heute Morgen habe ich schon Einladungen geplant.“
„Dein Sinneswandel freut mich, zumal deine Bedenken wirklich unbegründet sind.“ Matthias griff zur Saftkaraffe und füllte sein Glas mit Orangensaft. „Das Volk vergisst schnell und Anne Michel wird ein gefühlvolles Portrait schreiben, da bin ich mir ganz sicher. War eine gute Idee übrigens, ihr deine Bilder zeigen zu wollen.“
„Hast du die Zeitung noch nicht geholt?“ Irene stand auf. Die Frage enthob sie einer Vertiefung des Themas. Sie hatte nicht die geringste Neigung, den gestrigen Abend in irgendeiner Form noch einmal aufleben zu lassen.
Sie nahm ihre Strickjacke von der Garderobe und schlüpfte in die Schuhe. Der Garten lag im Morgenlicht wie ein verwunschener Park.
Die Sonne beleuchtete nur einen Ausschnitt der feuchtglänzenden Bäume und Sträucher vor einer dunklen Wolkenwand, in ihrem Licht glitzerten die Spinnwebenfäden des Altweibersommers wie Raureif. Kein noch so gelungenes Bild, dachte Irene, erreicht je die sensationelle Wirkung der Natur. Beschwingt ging sie zum Briefkasten. Die Straße war ungewöhnlich belebt. Irene warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – kein Wunder – Matthias und sie hatten viel zu lange geschlafen.
Im Stillen bewunderte sie einmal mehr die Disziplin der alten Frau Schlesinger, die mit ihrem Hund unterwegs war. Die Frau war an die neunzig und ließ sich trotz ihrer Arthrose den täglichen Spaziergang nicht entgehen. Mit beispielloser Überheblichkeit hob der Mops gerade ein Bein am Laternenpfahl, die Falten seines gelangweilten Mopsgesichtes entsprachen ganz denen seiner Herrin und Irene stimmte der These zu, dass Hund und Herr sich im Laufe eines Lebens tatsächlich immer mehr ähnelten.
Der Briefkasten war voll von Werbeprospekten, die Zeitung steckte obenauf, schon feucht vom Nebel. Mit einem Seufzer nahm sie den Packen Papier, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sie ging zurück zum Haus und sah mit Bedauern, dass der Garten in sein herbstliches Grau zurückgekrochen und das flüchtige Sonnenzwischenspiel verschwunden war, unbeständig wie alles Schöne.
Matthias schaute gedankenverloren aus dem Fenster, wandte sich jedoch um, als sie ins Zimmer kam. Wortlos reichte sie ihm die Zeitung und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Sie war versucht, ihm von ihren Beobachtungen zu erzählen, hielt sich aber zurück. Es war verpönt, ihn beim Zeitungslesen zu stören. Sie räumte besser den Tisch ab.
Irene holte ein Tablett aus der Küche und belud es mit der Saftkaraffe, Butter, Marmelade und dem Brötchenkorb. Sie stapelte die benutzten Teller und bemerkte noch einen Rest Kaffee in Matthias’ Tasse. „Möchtest du den Kaffee später trinken“, fragte sie.
Matthias schaute von seiner Lektüre auf, legte die Zeitung zur Seite, und nahm die Tasse. Seine Schwester sah die aufgeschlagene Zeitungsseite, stellte das Tablett ab und las den Artikel, der wohl auch Matthias gefesselt hatte.