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Der Morgen zeigte sich herbstlich. Der gelegentliche Sonnenglanz des vergangenen Tages war nun vollständig aufgesogen von einem milchigen Nebel, der Wind riss an den Ästen der alten Kastanien, nur noch wenige fahlgelbe Blätter trotzten seinem wütenden Zerren. Anne hatte zum ersten Mal Licht im Badezimmer angeschaltet. Bewegungslos stand sie im Bademantel vor dem Spiegel, den Kaffeepott in Reichweite und versuchte vergeblich, die hinter ihr liegende Nacht irgendwo einzuordnen. Erst diese eigenartige Menage à trois und dann Matthias pur.

Es hatte Sex gegeben in ihrem Leben, das unbeholfene Petting ihrer Schulzeit, wilden und zärtlichen Sex, enttäuschenden und nichtssagenden Sex, doch kein Erlebnis hatte sie auf das vorbereitet, was gestern über sie hereingebrochen war. Gedankenverloren berührte sie ihre geschwollenen Lippen und cremte die von seinen Bartstoppeln gerötete Haut. Die Creme brannte.

Matthias Reininger war spät gegangen, sie war ihm nicht zur Türe gefolgt. Völlig erschöpft war sie nicht dazu fähig gewesen. Sie fühlte sich, als hätte sie ihren Körper bis dahin nicht einmal annähernd gekannt. Wie eine Hure hatte sie sich benommen und es war ihr egal gewesen. Er hatte sie zu Dingen gebracht, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Dass sie auf allen vieren kriechend um seine Liebe gebettelt hatte, war ihr im Rausch der nie gekannten Lust als völlig normal erschienen. Auch, dass er sie taxiert und begutachtet hatte wie ein Rennpferd, das er zu kaufen beabsichtigte, und gleichzeitig wie das kostbarste Ausstellungsstück eines Museums.

Das Glitzern seiner Augen, das Zittern seiner Hände und dennoch niemals der Verlust seiner Kontrolle, auch, als er sie endlich berührte. Musste dies nicht Liebe sein? Oder benutzte sie diesen Begriff nur als Billigung für den Verlust ihrer Hemmungen in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte. Schlummerte in jeder Frau der Wunsch, einfach nur Besitz sein zu wollen? Endeten die schwer erkämpften Errungenschaften der Emanzipation grundsätzlich im Schlafzimmer – oder war ihr Sexualempfinden krank?

Mit Gewalt riss sich Anne aus ihren Grübeleien und nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee. Er kratzte in ihrem Hals – den eigentümlichen Schwebezustand, in dem sie sich noch immer befand, konnte er nicht vertreiben.

Sie stieg in ihre Jeans und griff nach einem Sweatshirt. Bevor sie es anzog, entdeckte sie einen langen, blutigen Kratzer auf ihrem Oberarm. Sie wusste nicht, wann und wie er entstanden war. Mit dem Finger strich sie darüber und fühlte keinen Schmerz.

Irgendwie musste sie in die Redaktion gekommen sein, stellte sie fest, nachdem sie nun schon eine Stunde vor dem Bildschirm ihres Computers saß und gedankenverloren auf den Sternenhimmel ihres Bildschirmschoners starrte. Sie konnte nicht damit aufhören, ihr Erlebnis mit Matthias Reininger Revue passieren zu lassen und ihre Gefühle schwankten zwischen Scham und Euphorie. Eine Erkenntnis kristallisierte jedoch wie mit brennender Leuchtschrift an die Wand geschrieben aus dem Chaos ihrer Grübeleien: Sie musste diesen Mann wiedersehen, und wenn es das Letzte wäre, was sie in diesem Leben tat.

Sie stand auf, goss ihre Blumen und gab Matthias‘ Rose, die mitten auf ihrem Schreibtisch stand, frisches Wasser. Schließlich schrieb sie Carla eine Nachricht: Bin in einer Stunde wieder da, nahm ihre Lederjacke und ging hinaus. Vielleicht war es ja nur Bewegung, die ihr fehlte, um sich endlich konzentrieren zu können.

Der Straßenlärm drang wie durch eine Schicht aus Watte zu ihr durch. Ein kleiner Spatz wartete mit ihr an der Ampel. Im Gegensatz zu ihr, wusste er allerdings genau, was er wollte und pickte eifrig Krümel aus dem Regenabfluss. Der Kavaliersstart eines Flegels am Steuer vertrieb ihn. Das Dröhnen der Lautsprecher-Boxen und der Gestank der Auspuffgase seines offensichtlich frisierten Golfs, auf dessen Heckscheibe riesige Lettern für Kenwood warben, blieben als Duftmarken eines geblähten Egos zurück.

Sie ging über den Rossmarkt in die Kesslergasse, roch den Knoblauchduft eines Döner-Standes und spürte, wie ihr Magen mit einem leisen Knurren darauf ansprang. Anne fühlte sich umhergetrieben wie die bunten Blätter, die vereinzelt durch die klare Herbstluft schwebten. Ohne Ziel ging sie dahin und rempelte fast eine Hausfrau an, die eine schwere Einkaufstasche schleppte. Aus den Augenwinkeln registrierte sie deren entrüstetes Kopfschütteln. In einer Schaufensterscheibe bemerkte sie eine junge Frau mit kurzem dunklem Haar und dunkelroter Lederjacke und erkannte in ihr erst auf den zweiten Blick ihr eigenes Spiegelbild.

Ist mir in der vergangenen Nacht meine Persönlichkeit abhanden gekommen?, fragte sie sich, als sie alles ganz bewusst, Schritt für Schritt rekapitulierte.

Über Marktplatz und Zehntstraße ging sie zurück zum Zeughaus und sah Phil auf dem Parkplatz davor. Mit energischen Schritten, die Kameratasche lässig geschultert, eilte er zu seinem Wagen. Brüsk blieb er stehen, als er Anne bemerkte, runzelte die Stirn und ging weiter. Sein fast bestürzter Blick verstärkte in Anne das Gefühl der Blöße und des Fremdseins, das sie schon den ganzen Morgen nicht abschütteln konnte. Ihr Herz klopfte so heftig gegen die Rippen, als wäre sie eine weite Strecke gelaufen.

In der Toilette ließ sie sich lange kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, bis sie sich so weit gefasst hatte, um an ihren Schreibtisch zurückzukehren. Irgendwie gelang es ihr, diesen Tag mit Telefonanrufen und Routinearbeiten zu Ende zu bringen. Sie hoffte auf morgen, auf den Termindruck, der ihr immer wieder half, wirre Gedanken zu verdichten und zu schreiben.