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„Ich nehme die serbische Bohnensuppe.“ Die Plastikumhüllung der Speisekarte machte ein schmatzendes Geräusch, als Angie sie zuschlug.

Anne mochte das Petit Café. Es bot einen unverstellten Ausblick auf den Schweinfurter Marktplatz und erinnerte mit seinen Tischen und Stühlen vor der Tür an den Süden.

Die Kellnerin wartete mit dem Notizblock in der Hand auf Annes Bestellung und lächelte dabei einem jungen Mann mit Rasta-Locken zu, der sich an den Nebentisch setzte. Anne beeilte sich, Eier im Glas zu bestellen, bevor sie verschwand.

„Ist die neu hier?“, fragte sie, während sie Zigaretten und Feuerzeug aus ihrer Handtasche grub. „Ja, und ihre Freundlichkeit beschränkt sie offensichtlich nur auf Männer“, antwortete Angie trocken.

„Aber jetzt zu dir – was brennt dir denn auf der Seele?“

Anne wusste plötzlich nicht mehr, wo sie anfangen sollte. Sie hatte auf eine Mittagspause mit Angie gedrängt und war erleichtert gewesen, dass ihre Freundin Besuch von ihrer Schwiegermutter und damit Zeit für ihre Probleme hatte. Doch jetzt war sie eigentümlich scheu und bedauerte fast das Treffen mit Angie.

„Das ist nicht so einfach“, zögerte sie.

„Hast du dich verliebt – und er ist nicht frei?“

„Nein – er ist nicht verheiratet, aber ich weiß nicht, ob die ganze Geschichte nicht eine Nummer zu groß für mich ist. Vielleicht kennst du ja die Hintergründe um die Familie Reininger besser als ich, du arbeitest ja schon länger beim Tagblatt“, begann Anne und schilderte Angie ihre Begegnung mit Matthias so korrekt, wie es ihre Aufgeregtheit zuließ. Angie lauschte mit gerunzelter Stirn, ohne sie zu unterbrechen.

Die Kellnerin brachte ihr Essen und Anne war dankbar für die Pause, die ihr erlaubte, ihre Gedanken zu sammeln.

„Matthias ist wie ein Taifun, weißt du. Seine Präsenz nimmt mir fast den Atem.“

„Das hört sich nach Erstickungstod an, wenn du mich fragst.“ Angies Blick war prüfend. „Bist du sicher, dass du nicht etwas überreagierst? Mein Gott, gehe mit dem Mann ins Bett, wenn es denn sein muss, aber sei ein bisschen vorsichtiger mit deinen Gefühlen.“

Anne spürte, wie sie errötete. „Es hat nicht viel mit freiem Willen zu tun, Angie, da ist etwas, das stärker ist. Zum ersten Mal ist Begehren kein Spaß mehr, sondern existenziell, lebenswichtig …“ Sie brach ab, als Angie den Kopf schüttelte. „Ich habe keine Wahl, verstehst du.“

„Mit diesem Satz wurden schon die schlimmsten Verbrechen entschuldigt“, konterte Angie, „du hast immer eine Wahl.“

Anne schüttelte den Kopf „das ist doch Sophisterei, du weißt doch genau, was ich meine, warum gibst du dich so störrisch?“

„Weil ich deine Freundin bin, falls du dich erinnerst, und echte Freunde reden dir nicht nach dem Mund.“

„Dann sag‘ mir doch bitte, was dich an ihm stört … Findest du ihn eine Nummer zu groß für mich, ist es das?“

„Blödsinn!“ Angie wischte mit einem Taschentuch einen kleinen Flecken von ihrer Hose – oder wollte sie ihr nur nicht in die Augen schauen? Anne fühlte im gleichen Augenblick Reue. „Selbstverständlich ist er nicht zu groß für dich, Anne. Warum machst du dich kleiner als du bist? Ich finde nur, er tut dir nicht gut. Ich erlebe dich verstört, anstatt glücklich, und das ist keine Basis.“

„Ob er mir guttut, ist nicht das Thema.“ Nachdenklich zupfte Anne an ihrer Serviette. „Ich habe eher das Gefühl von Unausweichlichkeit, verstehst du?“ Tröstend strich Angie über die Hand ihrer Freundin und Anne fuhr fort: „Du bist der Wahrheit ziemlich nahe gekommen vorhin. Unsere Verbindung beruht auf dem Prinzip Groß und Klein. Allerdings mache ich mich nicht klein, Matthias ist der erste Mann meines Lebens, bei dem ich klein sein darf. Das ist ein überwältigendes Gefühl. Noch nie habe ich so sehr gespürt, dass ich eine Frau bin wie bei ihm … Wenn er mich anfasst, fühle ich nur noch meinen Unterleib. Da gibt es keinen anderen Gedanken mehr.“

Angie legte den Löffel über ihre Bohnensuppe, mit einem Klirren fiel er zu Boden. Anne räusperte sich. „Hast du das auch schon mal erlebt, dass Sex so leidenschaftlich war, dass er schmerzte?“ Angies Gesichtsausdruck verdüsterte sich und Anne beeilte sich hinzuzufügen: „Ich denke, Matthias geht es genauso wie mir. Er hat auch die Kontrolle verloren, auch wenn es mir schwerfällt zu glauben, dass ausgerechnet ich solch starke Emotionen in ihm auslösen kann.“

„Was heißt ‚die Kontrolle verloren’? Ist er in Tränen ausgebrochen oder ist er ein sadistisches Arschloch? Verstehst du unter starken Emotionen Quälerei?“ Angie konnte ihren Ärger kaum noch verstecken.

„Nein, das meine ich nicht …“ Anne verwünschte sich inzwischen, überhaupt davon angefangen zu haben. Sie wusste doch, dass das, was zwischen Matthias und ihr vorgefallen war, niemand verstehen würde.

Wie sollte sie Angie erklären, dass sie durch die letzte Nacht auf eine unwiderrufliche Weise an Matthias gekettet war, stärker und fester als es jeder Treueschwur konnte.

Angie musterte sie abwartend und schob ihr ohne ein Wort den Aschenbecher unter ihre Zigarette, deren Asche auf das Tischtuch zu fallen drohte.

„Was ich meine ist“, Anne zog an ihrer Zigarette, „dass ich überrascht über mich selber war, wie ich auf ihn reagiert habe. Er hätte in diesem Augenblick alles, buchstäblich alles, von mir verlangen könne. Und manchmal wünschen wir Frauen uns doch nicht nur Zärtlichkeit, oder?“

„Stopp, Anne! Was für eine verquaste Anschauung!“ Abwehrend hob Angie ihre Hände. „Siehst du denn nicht, worauf du dich einlässt. Ich will hier nicht als Kummerkasten-Psychologin auftreten, aber diese Beziehung ist doch hochgradig krank. Grundgütiger, ich will dich doch nicht verletzen“, setzte sie hinzu, als sie Annes schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. „Es ist nur einfach so, dass ich dich schon aus unseren gemeinsamen Kindergartentagen kenne. Wir haben so oft darüber gesprochen, dass ich inzwischen genau weiß, was die abrupte Flucht deines Vaters aus eurer Großfamilie bei dir angerichtet hat. Natürlich hatte er recht, wenn deine Mutter ihren gewalttätigen Bruder und deine dominante Großmutter nicht verlassen konnte oder wollte. Nur du, Anne, du konntest nicht ausreißen, dir blieben nur die Sehnsucht und der Schmerz. Jeder Psychiater würde dir sagen, dass du jetzt diese Erfahrungen buchstabengetreu wiederholst.“

„Bitte, nicht so laut“, wandte Anne ein.

„Entschuldige – aber bei diesem Thema kann ich mich kaum mäßigen.“ Angie strich sich das Haar aus der Stirn. „Vielleicht solltest du dich jetzt endlich mit dem Gedanken an eine Therapie anfreunden. Ich habe dir schon hundertmal davon vorgeschwärmt, wie sehr die wenigen Besuche bei meiner Therapeutin meine Lebensqualität verbessert haben. Allein hätte ich niemals aus meiner Wochenbett-Depression herausgefunden.“

Anne winkte der Bedienung – aus purem Selbstschutz, wie sie sich eingestand, und um Angie nicht antworten zu müssen. Sie bestellte noch ein Mineralwasser.

„Bevor ich Jörg kennengelernt habe, gab es für mich auch ein paar andere Männer, weißt du.“ Angie beugte sich über den Tisch und senkte ihre Stimme. „Es gab wilden und langweiligen Sex und auch solchen, bei dem ich nachher nicht mehr wusste, warum ich überhaupt eingewilligt hatte und auch ich habe kennengelernt, wie man sich nach einem Mann verzehren kann.“

Angie räusperte sich. „Ich weiß nicht, ob ich dir jemals von dem Musiker erzählt habe, dem ich immer vor seinem Proberaum aufgelauert habe. Er hat sich keinen Deut für mich interessiert – und ich hätte ihm die Füße geküsst. Im Übrigen würde ich noch heute auf meinen ersten Orgasmus mit ihm warten, wenn er nicht ohne ein Abschiedswort eines Tages verschwunden wäre …“ Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und wischte sich über die Nase. „Solche Geschichten kennt wahrscheinlich jede Frau. Aber mit deinem Hintergrund ist so etwas regelrecht gefährlich. Schau nicht wie ein verschrecktes Kind, Anne.“ Angie griff über den Tisch, nahm Anne die zu Ende gerauchte Zigarette aus der Hand, drückte sie im Aschenbecher aus und streichelte ihre Wange. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr und winkte der Kellnerin.

„Versprich mir, ernsthaft darüber nachzudenken, was ich dir gesagt habe.“ Sie gab Anne die Hand.

„Versprochen“, sagte Anne – froh, noch einmal davongekommen zu sein. Sie holte ihre Jacke von der Garderobe und zahlte für sich und Angie.

Angie kramte ihren Autoschlüssel aus der Jackentasche und verabschiedete sich. „Kopf hoch, Anne – und vergiss um Himmelswillen deine Pille nicht“, sagte sie noch im Weggehen.