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„Eine solche Taille muss man einfach betonen, das dunkelrote Kleid passt besser zu ihr.“ Frau Kauffmann, die Inhaberin von „la robe“, der teuersten Boutique der Stadt, wandte sich ausschließlich an Matthias mit ihrer Begutachtung. Anne stand in weißen Socken und einem Traum aus schwarzem Chiffon vor dem bodenlangen Spiegel und fühlte sich wie Alice im Wunderland.

„Das schwarze unterstreicht ihre dunklen Augen, haben sie es auch noch in einer kleineren Größe?“ Matthias trat hinter sie und raffte den Stoff an der Taille zusammen, sein Blick zeigte nichts als fachmännisches Interesse, als Anne ihm im Spiegel begegnete.

„Selbstverständlich nicht, wir führen nur Einzelteile.“ In der Stimme von Frau Kauffmann schwang pure Entrüstung. „Aber ich habe eine zweiteilige Kreation in Schwarz.“ Sie eilte davon und kam mit einer Bluse und einem langen, geschlitzten Rock zurück.

„Hier, ich habe Ihnen ein Paar elegante Schuhe mitgebracht.“ Sie reichte Anne silberne Stilettos. „Der ganze Effekt geht verloren, wenn Sie in Strümpfen probieren.“

„Werde ich denn auch gefragt?“, antwortete Anne mit einem kurzen Lachen, das ein wenig verkrampft klang. Seltsamerweise holte sie die kurze Frage aus dem Wachtraum, in dem sie sich befand, seit Matthias sie abgeholt hatte.

Seine Einladung, ihn zum Bäckerball zu begleiten, schien ihr bis jetzt so wenig real wie die Anprobe.

„Das bin nicht ich“, entfuhr es ihr, als sie sich im gedämpften Licht vor dem Spiegel betrachtete. Die zweiteilige Robe aus schwarzem Samt und Chiffon verwandelte sie in eine Gestalt aus einem anderen Jahrhundert. Der Kragen der Bluse war wie ein Kelch plissiert und betonte ihren langen Hals. Das Oberteil mit langen durchsichtigen Ärmeln, mit kleinen Knöpfen an der Seite geschlossen, war auf ein Nichts von Mieder gearbeitet, das mehr offenbarte als verbarg. Der lange Samtrock war auf einer Seite hoch geschlitzt und zeigte ihr linkes Bein, überraschend lang und schlank in den hohen Stilettos. Sie würde ihr kurzes Haar irgendwie aufpeppen müssen, dachte sie, als sie Matthias Blick registrierte.

Er stand wie erstarrt, als sei das Bild auf einem Fernsehschirm durch Knopfdruck eingefroren, lediglich ein Zittern seiner Nasenflügel wies darauf hin, dass noch Leben in ihm war. Anne schluckte die nichtssagende Bemerkung, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, hinunter und spürte, wie der eigentümliche Zauber des Augenblicks auf sie übergriff.

In seinem Blick lag unverhohlene Gier, ein Besitzenwollen, das Anne an einen Spieltisch versetzte. Männer, die im Begriff waren, mit einem guten Blatt die Bank an sich zu reißen, schauten so.

Mit archaischem Instinkt begriff sie, dass sie diese Bank war und fühlte sich in Besitz genommen. Sie fühlte ihre Gelenke zu heißem Wachs werden. Die Shoppingtour mit Matthias hörte spätestens jetzt auf, das Spiel zu sein, als das sie es betrachtet hatte. Sie hatte ihre Aussage, für einen solchen Promi-Ball nicht ausgestattet zu sein, als Test angesehen. Bisher hatte es immer als Tortur geendet, mit einem Mann einkaufen zu gehen. Matthias war anders, dies stand wohl jetzt fest. Aber wollte sie sich wirklich einkleiden – und damit kaufen – lassen?

Ihren schwachen Widerstand fegte Matthias Reininger beiseite. Er reichte bereits der Besitzerin seine Kreditkarte und Anne fühlte sich nun doch sehr beklommen, als sie eine junge Verkäuferin, eine mit Seidenpapier ausgeschlagene Schachtel in den Händen, warten sah, dass sie die Robe auszog.

„Somethin’ stupid.“ Gerne ließ sich Anne betören von Frank Sinatras lockender Stimme aus dem Autoradio. Ihr war es inzwischen gleichgültig, wie dumm sie sich vielleicht benahm. Es gab stärkere Kräfte als Stolz. Sie hatte den Weg aus der Boutique und zum Auto kaum wahrgenommen, gefesselt von einer Magie, die jede überflüssige Geste, jedes Wort zerstören konnte. Matthias’ Hand lag auf ihrem Knie, als gehörte sie dorthin, und die Hitze, die sie aussendete, drang bis in Annes Wangen und in ihren Ohren hinauf. Die Welt außerhalb des kleinen Mikrokosmos‘ des Wageninnern erschien ihr wie ein Schemen. Sie wusste auch nicht, wie spät es inzwischen war, sah jedoch, als sie vor einer Ampel hielten, dass es bereits dämmerte. Die grüne Glanzpapierschachtel mit dem goldgeprägten Schriftzug „la robe“ lag auf dem Rücksitz wie ein vergessener Gegenstand.

Es war Matthias, der sie mitnahm, und ihm gab sie auch ihren Wohnungsschlüssel. „Hast du nicht einen Nummerncode?“ Es war der erste Satz zwischen ihnen, seit sie die Boutique verlassen hatten und Matthias‘ Stimme vibrierte. „Ein Glück, dass wenigstens einer von uns beiden noch an so banale Dinge wie einen Türcode denkt.“ Mit einem leicht hysterischen Auflachen drückte Anne die Schlosskombination.

Selbst ihre Wohnung erschien ihr eigentümlich fremd. Sie schaute sich um, als sähe sie die Einrichtung zum ersten Mal. Die achtlos auf dem Boden liegende Schachtel war das letzte, was sie wahrnahm, bevor in Matthias‘ Umarmung ihr Denken aussetzte.