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Es setzte erst wieder ein, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte. Gleichzeitig mit dem dumpfen Klacken der Türe dröhnte die Wohnung unter ihrem Appartement unter lauter Heavy-Metal-Musik, die immerhin gleich wieder leiser gestellt wurde. Anne schaute auf die Uhr, es war kurz nach drei, die übliche Zeit, zu der Thomas, der Mieter der Erdgeschoß-Wohnung heimkam. Er spielte in der Band eines Tanzlokals, für ihn war drei Uhr morgens ganz normale Feierabendzeit. Warum fiel ihr ausgerechnet jetzt ein, dass sie ihn sich vorknöpfen musste? Schon seit sie eingezogen war und sich in ihrer Unbedarftheit von ihm über den Tisch hatte ziehen lassen, war es ein Ärgernis für sie, dass er ihren Kellerraum mit seinem Schlagzeug belagerte. Sie benötigte diesen Raum dringend für Waschmaschine und Trockner und doch schob sie das notwendige Gespräch darüber immer wieder hinaus.

Die menschliche Psyche und ihre Reaktionen waren doch sehr seltsam, dachte Anne. Da lag sie in ihrem Bett, vor unerfülltem Verlangen angespannt wie eine Saite kurz vor dem Zerreißen und dachte an ihre Waschmaschine. Wollte sie den Abend mit Matthias verdrängen? Er war wieder gegangen, ohne mit ihr geschlafen zu haben. War ihm nicht einmal ihr Betteln um die ersehnte Vereinigung genug gewesen? Sie hörte sich trocken auflachen. Oh ja, er hatte sie wieder bis zur Unerträglichkeit gereizt, Sekt aus ihrem Nabel getrunken und Honig von ihrer Brustwarze geleckt, doch die Befriedigung hatte er ihr versagt. Anne fühlte ihre Muskeln zucken vor Anspannung, als sie an seine Spiele dachte und langsam – wie unter Zwang – fand ihre Hand den Weg zwischen ihre Beine. Doch die Erleichterung, die sie sich verschaffte, währte nur kurz. Wie weit war es mit ihr gekommen, dass sie selbst Hand an sich legen musste?

Anne stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Warum ließ sie das alles mit sich machen? Die Frage kam ungerufen und mit ihr die Scham. Unvermittelt hörte sie wieder Angies Warnung. Schlummerten in ihr wirklich perverse Anlagen, von denen sie nichts wissen wollte? Verschwommen tauchte ein Bild aus ihrer Kindheit auf.

Sie hatte die Erinnerung an jenen Schreckensnachmittag so oft verscheucht, dass sie über ihr Auftauchen gerade jetzt verwirrt war. Es war der Tag gewesen, an dem sie ihr erstes Zeugnis mit nach Hause gebracht und an dem sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war auf den Hof gelaufen mit ihrem Zeugnis in der Hand und da hatte ihre Mutter auf dem Boden gelegen und ihr Onkel stand über ihr. Er hielt den großen eisernen Schürhaken, der immer für den Kartoffelkessel gebraucht wurde, in der Hand und ihre Großmutter stand daneben und schluchzte.

Anne erinnerte sich jetzt wieder mit glasklarer Deutlichkeit an das Geräusch des Traktors, hörte den Motor absterben und sah ihren Vater mit großen Schritten über den Hof laufen. Sie hörte das Knacken, mit dem der Arm ihres Onkels brach wie dürres Holz und seinen brüllenden Schrei, sah ihre Mutter wie einen Schatten zwischen den beiden. Ihr Vater fasste ihre Mutter an den Armen und zwang sie, ihn anzuschauen. Ganz langsam, als wollte er seine Worte in ihren Kopf hämmern, sagte er: „Du willst ganz offensichtlich dein Leben nicht mit mir teilen. Ich werde jetzt gehen, bevor ich in dieser Familie zum Mörder werden muss.“

Bis heute hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen.