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Anne hatte den Morgen bei einem Besuch des neu eingesetzten Ministers für Verbraucherschutz, den Bayern als Antwort auf die BSE-Krise als neues Medikament zur Ruhigstellung kritischen Zeitgeistes verkaufte, im Stadtrat verbracht. Jetzt versuchte sie bereits seit einer Stunde aus Allgemeinplätzen einen einigermaßen vernünftigen Bericht zu konstruieren – und es wollte und wollte ihr nicht gelingen. Bei dem Versuch, ihre Gedanken zu sammeln, schob sie zum wer weiß wievielten Male die zahlreichen Einladungen zu Weihnachtsfeiern von der einen Seite ihres Schreibtischs auf die andere, als sie laute Stimmen auf dem Gang hörte.

Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgerissen und sie dachte, dass sich der Mann, der nun mit vor Zorn kreideweißem Gesicht vor ihr stand, auf sie stürzen würde.

„Alle lassen sich verleugnen in diesem Laden hier, aber sie werden sich jetzt anhören, was ich zu sagen habe“, brüllte er. Dabei hüpfte sein Adamsapfel in dem engen Hemdkragen auf und ab vor Erregung. Er hatte dunkles Haar, das ihm wirr in die Stirn hing und trug eine Brille. Über dem weißen Hemd trug er eine graue Jacke und die ausgebeulten Jeans betonten einen schmalen, asketischen Körper. Eigentlich ein Intellektueller, dachte Anne, eher der Typ, der mit präzisen Formulierungen seine Gegner mattsetzt, als ein Choleriker.

„Ihr seid schuld am Tod meines Bruders, das ganze verdammte Tagblatt mit seiner unehrlichen Berichterstattung. Ihr habt ihn in den Tod getrieben.“

„Setzen Sie sich doch bitte erst einmal“, versuchte Anne ihn zu beruhigen, dann können Sie mir erklären …“ Doch der Mann warf mit grimmigem Blick ein kleines, ledergebundenes Buch, das wie ein Terminkalender aussah, auf ihren Schreibtisch. „Das können Sie jetzt ausschlachten“, schrie er, „aber Zeitungsleute sind ja nur an Sensationen interessiert, die nichts mit ihrer eigenen Schweinerei zu tun haben.“ Er wandte sich um und wurde von Phil aufgehalten, der ihn am Hinausstürmen hinderte und ins Zimmer zurückschob.

„Was auch immer Sie zu sagen haben“, zischte Phil, „mäßigen Sie Ihren Ton!“ Der ausgeglichene, gelassene Phil packte den Fremden doch tatsächlich am Revers seines Anzugs. „Oder finden Sie es heldenhaft, eine schutzlose Frau zu belästigen?“

Anne traute weder ihren Augen noch ihren Ohren. Phil verteidigte sie und verlor dabei die Fassung. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, als er den Besucher kurzerhand zur Tür drängte und sie hinter ihm zuschlug. Und sie hatte geglaubt, ihn könnte niemals etwas aus der Ruhe bringen.

„Was war denn das für ein Auftritt?“ Anne musste sich setzen, sie spürte, wie ihr das Blut in den Ohren zu rauschen begann.

„Kanntest du den nicht? Das war Ludwig Morenos Bruder, der vor Kurzem in seinem Auto verbrannt ist“, erklärte Phil und setzte besorgt hinzu: „Geht es dir gut, du bist ja ganz blass geworden?“

Anne straffte ihre Schultern und wandte sich ostentativ ihrem Computer zu. „Vielen Dank für deine Hilfe“, beschied sie ihn, „aber ich bin total im Verzug mit meinem Artikel, ich kann mir keine verspätete Abgabe mehr leisten in dieser Woche.“

„Oh, ich wollte dir nicht zu nahetreten“, versetzte Phil kühl.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht abweisend klingen.“ In Anne flackerte Schuldgefühl auf, einen wohlmeinenden Kollegen zu brüskieren, war nun wirklich das Letzte, was sie aushalten konnte. Sie sprang auf, um ihm nachzugehen, aber er hatte die Tür zu seinem Zimmer schon hinter sich geschlossen. Anne ging zur Toilette – wie oft benutzte sie eigentlich diesen überhaupt nicht anheimelnden Raum in letzter Zeit, um ihre Fassung wiederzuerlangen?

Als sie zurückkam in ihr Büro stellte sie fest, dass das kleine Notizbuch von ihrem Schreibtisch verschwunden war.