Die Johanniskirche war ein bevorzugter Ort für Konzerte. Die zweitälteste Kirche Schweinfurts stellte in ihrer gotischen Strenge nicht nur einen idealen Rahmen für solche Aufführungen dar, sie hatte auch mit Abstand die beste Akustik und ihre Orgel erklang unter den verschiedensten Künstlern. Anne nutzte, so oft es ging die Übungsstunden des Organisten zu einer Rast in der Kirche und genoss das virtuose Orgelspiel ebenso wie die erhabene Architektur.
Sie liebte gotische Dome, die steinerne Strenge ihrer Säulen nur unterbrochen von den Farbkaskaden kunstvoller Glasfenster. Die Gotik bestätigte immer wieder ihre persönliche Lieblingsphilosophie, dass das Geniale auf irgendeine Weise immer einfach, das Einfache jedoch noch lange nicht genial sein muss. Kurt hatte sie nicht lange überzeugen müssen – eine Besprechung von Mozarts Spatzenmesse und seinem fünften Violinkonzert bedeutete für sie noch immer ein Filetstück im Berufsalltag. Vielleicht war sie naiv, doch sie konnte sich nicht mit Christians Gehabe identifizieren, seinem Dünkel, täglich in die Niederungen provinzieller Kultur hinabsteigen zu müssen, wie er sich zuweilen ausdrückte.
Eine Aufführung des Liederkranzes galt als Glanzpunkt im Kulturleben der Stadt und es war etwas von der Vorfreude zu spüren in der vollbesetzten Kirche. Obwohl es kalt war und sich die Menschen in ihre Mäntel vergruben, sah Anne erwartungsfrohe Gesichter, grüßendes Nicken nach da und dort und hörte die Spannung hinter dem Raunen des gedämpften Gemurmels.
Anne hätte sich gewünscht, etwas weniger müde zu sein. Sie blätterte in ihrem Programmausdruck, auf dessen Vorderseite ein Grußwort des Oberbürgermeisters an den neuen Dirigenten und dessen Foto aufgedruckt waren.
Das Gemurmel um sie herum verstummte langsam und ein junger Mann mit Pferdeschwanz und Lederjacke drängte noch verspätet an ihr vorbei auf seinen Platz. Die Chormitglieder nahmen ihre Plätze ein. Anne erhob sich mit dem Publikum, um die Solisten und den Dirigenten – einen noch jungen Mann mit einer Stirnglatze und asketischen Zügen – mit einem Applaus zu begrüßen. Die farbigen Roben der beiden Solistinnen erweckten Aufmerksamkeit als inszenierter Blickfang vor einem diskreten Hintergrund aus schwarz-weiß. Anne hatte sich schon oft gefragt, ob die Sängerinnen nicht besser daran täten, sich auch etwas zurückhaltender zu kleiden, eine pinkfarbene Walküre im Dekolleté, die den luftigen Part des Cherubin in Figaros Hochzeit sang, hatte für ihren Geschmack etwas Tragikomisches.
Die beiden heute – die Altistin in einem dunkelgrünen Samtkleid, die Sopranistin in grauer Seide – boten indes einen anmutigen Anblick.
Der Dirigent – Carl J. Modersen entnahm Anne dem Programm und fragte sich wofür das J. stand, für Jasper etwa? – hob nach einer artigen Verbeugung zum Publikum den Taktstock und sie tauchte ein in die beschwingte Musik Mozarts, die wie akustischer Champagner in ihre Sinne perlte.
Die Missa brevis in C-dur, auch als „Spatzenmesse“ bekannt, verdankt ihren Namen einer Violinfigur, die an den Ruf des Sperlings erinnerte. Mozart schrieb sie im Jahre 1775 im Auftrag von Erzbischof Hieronymus Colloredo, der bei seinen Messen die Kürze liebte. So durfte ein Festgottesdienst nebst feierlicher Kirchenmusik nicht länger als eine Dreiviertelstunde dauern. Mozart fügte sich diesen Vorgaben, gleichwohl war die Messe von einer einzigartigen Brillanz.
Anne hatte Mühe, bei dem gedämpften Licht die Erläuterungen des Programms lesen zu können und klappte es zusammen. Mozart war erst neunzehn Jahre alt gewesen, als er die „Missa brevis in C-dur“ geschaffen hatte, rechnete sie aus und versuchte den Zauber des Kyrie zu erfassen, in Töne übersetzte Lebensfreude, wie dies eben nur ein Genie vermochte.
Mozarts Musik wirke wie ein Jungbrunnen hatte der Dirigent Karl Böhm einmal im hohen Alter bekannt und Anne gab ihm ihre volle Zustimmung, auch auf sie wirkte sie immer belebend. Doch heute ging Absonderliches mit ihr vor. Offenbar war sie erschöpfter, als sie angenommen hatte.
Sie sah sich aufgefordert von Mozarts beschwingter Einladung, konnte ihr aber nicht folgen, wusste von der Heiterkeit, die sie empfinden sollte, konnte sie aber nicht fühlen. Sie schien durch ein Fenster in ein hellerleuchtetes Zimmer zu schauen und draußen zu stehen.
„Cruzifixus etiam pro nobis”, sang der Chor und Anne blieb hängen an dieser Passage, obwohl sie durchaus wahrnahm, dass Mozart sich dieses „Gekreuzigt wurde er für uns“ außergewöhnlich schnell entledigte und mit Begeisterung zu der Auferstehungspassage wechselte.
Die jubelnden Geigen trieben ihr Tränen in die Augen, fast hätte sie laut aufgeschluchzt. Der Kragen wurde ihr zu eng, und sie öffnete den obersten Knopf. Mit großer Anstrengung widerstand sie dem Impuls, aufzustehen und ins Freie zu laufen.
Tief atmen!, befahl sie sich und schloss die Augen.
Dies war nun schon die zweite Panikattacke innerhalb von zwei Tagen, die sie aus heiterem Himmel überfiel. Vielleicht sollte sie doch einmal zum Arzt gehen. Anne konzentrierte sich auf ihren Atem und fühlte sich langsam ruhiger werden.
Tosender Beifall rüttelte sie auf und sie sah, dass die Zuhörer aufgestanden waren. Dankbar erhob auch sie sich und klatschte mit. Ein junges Mädchen brachte Blumensträuße für die Solistinnen und den Dirigenten und die Chormitglieder strebten dem Seitenausgang zu. Anne erstarrte – die blonde Frau im schwarzen Abendkleid, die als vorletzte ging, nickte ihr freundlich zu. Es war Irene Reininger.
Das fünfte Violinkonzert rauschte an ihr vorüber, so sehr kreisten ihre Gedanken. Hatte Kurt gewusst, dass Irene beim Liederkranz mitsang – und warum wollte er ihr nicht begegnen? Oder war es genau umgekehrt und er erwartete sie nach ihrem Auftritt? Anne war sich über gar nichts mehr sicher, seit sie die beiden zusammen gesehen hatte. Warum hatte er nicht einfach erwähnt, dass er sie kannte, spätestens als er Annes Bericht in den Händen gehalten hatte, wäre doch der Zeitpunkt dafür gewesen.