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Am Kirchenportal gab es einen kleinen Stau, als die Konzertbesucher ins Freie drängten, und Anne steckte fest. Einen bangen Augenblick lang dachte sie, sie würde erdrückt und sog gierig die frische Nachtluft in ihre Lungen, als sie endlich ins Freie gelangte. Die Erleichterung währte jedoch nur kurz und sie spürte in ihrem Nacken klopfende Kopfschmerzen aufsteigen. Wie feines Wurzelwerk rankte sich der Schmerz in ihre Nerven, okkupierte ihren Kopf. Sogar die Zähne begannen zu schmerzen.

Im Licht der Innenbeleuchtung ihres Autos kramte Anne vergeblich in ihrer Handtasche nach einer Aspirin. Sie hätte die Tablette auch ohne einen Schluck Wasser eingenommen, wenn sie eine gefunden hätte. Die erneute Stockung auf dem Parkplatz vor der Kirche und das Hupgeräusch hinter ihr brachte ihre Nerven nahezu zum Zerreißen. Gierig verlangte es sie nach einem Glas Rotwein – oder besser noch einem Campari – und sie malte sich aus, wie die Wärme des Alkohols sich in ihrem Bauch ausbreiten und sie beruhigen würde.

Sie sah Licht in ihrem von Thomas besetzten Keller, als sie mit zitternden Händen die Tür aufsperrte. In einer Aufwallung von Jähzorn beschloss sie, dass sie Thomas eigenhändig erwürgen würde, wenn er um diese späte Stunde noch sein Schlagzeug traktierte. Angestrengt lauschte sie im Treppenhaus – im Keller war es ruhig. Stattdessen hörte sie mit pochenden Schläfen aufgebrachte Stimmen in der Nachbarwohnung. Das scharfe Gezeter ihrer Nachbarin wechselte mit einer bestimmenden Männerstimme, beide übertönten noch den viel zu laut gestellten Fernseher.

Endlich geschafft, dachte Anne, als sie sich aufatmend gegen ihre geschlossene Flurtür lehnte. So musste sich ein Schiffbrüchiger nach der Rettung vorkommen. Noch in ihrer Jacke ging sie in die Küche, schenkte sich Campari in ein Glas und trank das bittere Getränk in zwei großen Schlucken. Sie verfolgte den Weg der wärmenden Flüssigkeit in ihren Magen und wartete auf dessen entspannende Wirkung. Dann zog sie ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dabei fiel ihr Blick auf die rote Digitalanzeige der Uhr auf ihrem Schreibtisch – noch nicht einmal zehn, stellte sie verwundert fest. Nach dem Grad ihrer Müdigkeit hätte es auch schon viele Stunden später sein können.

Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte und Anne hoffte auf einen kurzen Gruß von Matthias, nein, sie wartete auf eine eindeutige Aussage, etwas, das ihre latente Anspannung beenden und sie aus ihrem unklaren Stimmungstief lösen würde. Sie ging zurück in die Küche, goss sich noch einen Fingerbreit Campari ins Glas. Der Knoten in ihrem Bauch wollte sich heute nicht lockern und bedurfte offenbar einer stärkeren Dosis. Mit dem Glas in der Hand drückte sie die Wiedergabetaste und gleich wieder auf Stopp. Erst noch wollte sie das abendliche Ritual des Zubettgehens erledigen.

Anne öffnete die Schlafzimmertür und fröstelte. Im Lichtschein, der vom Wohnzimmer in den Raum fiel, sah sie, dass das Fenster sperrangelweit offenstand. Hatte sie schon wieder vergessen, es am Morgen zu schließen? Dieser Leichtsinn musste ein Ende haben, befahl sie sich. Sie öffnete Einbrechern Tür und Tor. Schließlich hatte sie schon oft festgestellt, dass die Mauersimse des renovierten Jugendstilhauses zu einer Erkundungstour geradezu einluden. Anne drückte auf den Lichtschalter und blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Bemüht vermied sie es, die zerwühlten Bettlaken genauer anzuschauen und dennoch zog der kleine Blutfleck ihren Blick auf sich. Mit zwei großen Schritten war sie am Fenster, schloss es und zog die Vorhänge zu. Die Bettwäsche zu wechseln würde nur zehn Minuten dauern. So lange musste der Anrufbeantworter jetzt auch noch warten.

Sie wandte sich zum Schrank und stutzte. Die Spiegeltür war in Augenhöhe zerbrochen. Wie ein Spinnennetz verliefen mehrere Sprünge von einem Loch in der Mitte ausgehend nach außen, der längste davon diagonal bis in die obere linke Ecke, als hätte ein Stein sie zertrümmert.

Anne legte das Kopfkissen und den abgezogenen Bezug wieder zurück und ging um ihr Bett, um den Schaden aus der Nähe zu begutachten. Dabei stolperte sie über einen Gegenstand auf dem Boden. Vor ihr lag ein toter Vogel von der Größe einer Taube. Der Vogel lag in unnatürlichem Winkel auf der Seite, seine gelben Klauen waren verkrümmt, das eine halbgeöffnete Auge, das an ein Katzenauge erinnerte, schien sie geradewegs anzustarren.

Später sollte sich Anne wundern, welche unbedeutenden Einzelheiten in dieser Schrecksekunde hängengeblieben waren. So sah sie, dass der Vogel ein wunderschönes Federkleid hatte. Seine Flügel waren dunkelgrau und im Nacken trug er einen weißen Fleck. Das Bauchgefieder war hell- und dunkelbraun quergestreift und sein Schnabel groß und gekrümmt. Ein Raubvogel dachte sie, bevor sie aufschluchzend aufs Bett sank. Der Schrei, den sie gleichzeitig mit dem Klingeln des Telefons hörte, war ihr eigener.

Nach dem vierten Klingelton hatte sich Annes Erstarrung so weit gelöst, dass sie überhaupt reagieren konnte. Hastig sprang sie auf. Bitte nicht aufhören, flehte sie innerlich. Die Hoffnung auf eine menschliche Stimme – ganz gleich welche – erschien ihr plötzlich als unerwarteter Beistand, und sie griff zum Telefonhörer wie zu einer Rettungsleine.

„Michel“, stieß sie atemlos hervor und hörte verblüfft, dass sich Irene Reininger meldete. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät – aber da du ja auch eben erst heimgekommen sein kannst, habe ich noch zu telefonieren gewagt“, sagte Irene und setzte hinzu: „Ich hätte gerne noch ein Glas Wein mit dir getrunken nach dem Konzert, habe dich dann aber in dem Gedränge vor der Kirche doch aus den Augen verloren. Ich würde gerne deine Meinung hören zu der Aufführung heute Abend.“

„Dein Anruf kommt gerade richtig.“ Anne hörte selbst, wie schrill sie klang. „Ich bin froh, dass du gerade jetzt anrufst.“

„Du hörst dich aufgeregt an“, gab Irene zurück, „ist etwas geschehen?“

Anne empfand bei dieser ruhigen Fragestellung ihre hysterische Reaktion überzogen und es fiel ihr nicht leicht, einen vernünftigen Bericht zu geben.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Irenes amüsiertes Kopfschütteln über ihre konfuse Schilderung, deshalb fügte sie mit gequältem Lachen hinzu: „Ich glaube, ich bin ein bisschen mit den Nerven fertig – dieser Vogel, weißt du, er liegt noch immer da und starrt mich an.“

„Aber Anne“, sprach Irene beruhigend auf sie ein „niemand erwartet, dass du die Heldin spielst und mitten in der Nacht diese Vogelleiche entsorgst. Ich würde ja gerne Matthias zu dir schicken, aber er ist noch nicht nach Hause gekommen. Ich fürchte, das kann spät werden – die Parteifreunde kennen doch immer kein Ende bei ihren Fraktionssitzungen.“

„Aber das habe ich doch gar nicht erwartet“, protestierte Anne, „es geht ja auch schon wieder – mit dir zu reden, hat mir schon sehr geholfen. Es war nur der erste Schrecken, das offene Fenster und der zerbrochene Spiegel. Ich dachte an Einbrecher.“

„Die Erklärung ist viel banaler“, lachte Irene am anderen Ende der Leitung. „Der Vogel war vermutlich irritiert von deinem Spiegel und hat es teuer bezahlt.“

„Ich wollte, ich wäre so souverän wie du“, gab Anne zurück und fühlte sich beschämt. Sie führte sich auf wie eine Närrin.

„Schluss mit den Mutmaßungen!“, hörte sie Irene sagen, „ich habe eine viel vernünftigere Idee. Du packst ein paar Sachen, schläfst in unserem Gästezimmer und morgen begraben wir zusammen den Vogel. Schließlich möchte ich mit meinen ornithologischen Kenntnissen prahlen …“

„Aber …“, begann Anne, doch Irene unterbrach sie: „Keine Widerrede, ich schicke dir ein Taxi, du solltest nach dem Schrecken nicht mehr selbst fahren. Beeil dich, es ist bestimmt in zehn Minuten da.“

„Danke, ich nehme dein Angebot gerne an“, hörte sich Anne sagen und stellte erstaunt fest, dass es stimmte. Sie war es müde zu diskutieren und der Gedanke, umsorgt zu werden, hatte etwas Verlockendes. Außerdem sehnte sie sich schon wieder auf ziemlich unschickliche Art nach Matthias.

Sie packte ihre Zahnbürste, ein Nachthemd und ein paar Toilettenartikel zusammen mit frischen Jeans und Pullover in eine Tasche, als es bereits klingelte. Anne überzeugte sich davon, alle Fenster geschlossen zu haben und ging zum wartenden Taxi.