Das Prasseln, das Anne hörte, als sie sich schließlich aus dem Dämmer des Schlafs freigekämpft hatte, entpuppte sich als Regen. Schwere Tropfen fielen auf das Laub der Bäume und ans Fenster. Der Niederschlag hatte sich einen Weg durch das gekippte Fenster gebahnt und bereits eine kleine Wasserlache auf dem Fensterbrett hinterlassen.
Anne schlug das ungewohnte Federbett zurück und tapste mit bloßen Füßen durch das Zimmer, um den Fensterflügel zu schließen. Im Licht des neuen Morgens sah das Gästezimmer der Reiningers freundlicher aus. Das schwere Mobiliar und der dunkle Teppich waren ihr am Vorabend bedrückend vorgekommen.
Aber vielleicht waren das auch nur ihre überreizten Nerven gewesen. Obwohl sich Irene rührend um sie gekümmert hatte und sie beide über den Vorfall letztendlich herzhaft lachen konnten, lag Anne noch lange wach. Daran konnte auch die heiße Milch mit Honig, die sie widerstrebend getrunken hatte, nichts ändern. Weit nach Mitternacht hatte sie Matthias in die Garage fahren hören und kurz mit sich gerungen, ob sie sich ihm zu einem Schlummertrunk anschließen sollte. Eine nicht näher zu definierende Scheu, die sie allerdings allzu gern als Stolz interpretierte, hatte sie jedoch davon abgehalten.
Nie hatte sie sich vorgestellt, dass ihr einmal der Verkehrslärm fehlen würde, der als Hintergrundgeräusch wie das Summen eines lästigen Insekts das Leben in ihrer Wohnung begleitete. In dieser Nacht allerdings in der Stille der Parklandschaft, hatte sie den ganz normalen Lärm vermisst.
Die fremdartigen Geräusche hatten ihr Fragmente des Gedichts „Nachtgeräusche“ von Conrad Ferdinand Meyer in den Sinn gebracht und der Versuch, sich an eine komplette Strophe zu erinnern, Anne gänzlich am Einschlafen gehindert. Es hatte auch nichts geholfen, die Bruchstücke wie ein Mantra zu wiederholen:
‚Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
dann der abgezählte Schlag der Stunde…‘
Nach der zehnten Wiederholung kam ihr der nutzlose Versuch genauso unsinnig vor wie das berüchtigte Schafezählen.
Das Haus war absolut lautlos an diesem Morgen und auf dem Weg in die Küche fiel ihr wieder ein, dass Irene am Abend davon gesprochen hatte, dass sie und Matthias einen Notar-Termin wahrnehmen mussten. Ob sie wohl allein frühstücken konnte, hatte sie gefragt. Was wollten die Geschwister wohl beim Notar? Ihr Testament ändern?
Anne fand die Küche blitzblank aufgeräumt, kein Brotkrümelchen hatte sich irgendwohin versteckt, lediglich zwei Tassen und Teller standen auf dem Abtropfbrett und sie zollte der Hausherrin insgeheim Respekt. Irene musste schon früh aufgestanden sein. Zugegeben, sie selbst hätte wohl die Küche auch in Ordnung gebracht, wenn sie Besuch gehabt hätte, aber Anne vermutete, dass die Sauberkeit Irenes Persönlichkeit entsprach und nicht nur Demonstration für Gäste war.
Im Esszimmer war der Frühstückstisch gedeckt mit frischen Brötchen, ausgepresstem Orangensaft und Kaffee in einer Thermoskanne. Anne trank einen Schluck von dem Saft und öffnete die Flügel der Terrassentür. Der Regen hatte aufgehört und ein fahler Sonnenstrahl zwängte sich durch die dicken Wolken. Hoheitsvoll präsentierte sich der Garten, offenbarte selbst noch im Verfall des Herbstes morbide Eleganz. Das nass glänzende Laub schien sich zu ducken unter majestätischen Ästen. Anne wusste plötzlich, dass sie nie in einer solchen Atmosphäre leben wollte. Warum hatten Matthias und Irene dem erdrückenden Haus nicht ihren eigenen Stempel aufgedrückt? Sie empfand den Kult um Überliefertes, wie er hier betrieben wurde, mit jäh aufflammender Kritiklust fast als nekrophil.
Ihr wurde kalt und sie schloss die Flügeltüren wieder und setzte sich an den Esstisch. Ihr Blick fiel auf die – zweifellos wertvolle – Biedermeier-Aufsatzvitrine, um die sie die Reiningers bei ihrem ersten Besuch so beneidet hatte, und sie stellte sich vor, wie ein einfacher, heller Schrank von Ikea hier wirken würde. Heute empfand sie keine Scham, die Vitrine mit ihrem furnierten Nussbaumholz, ihrem Oberteil mit zwei verglasten Rahmentüren und ihren gedrechselten Füßen als protzig zu bezeichnen.
Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und suchte in blinder Gewohnheit in ihrer Handtasche nach Süßstoff. Heute wollte sie nicht gerade damit beginnen, ihren Kaffee ungesüßt zu trinken, wie sie es sich schon lange vorgenommen hatte, aber der Süßstoff war nicht da. Wahrscheinlich stand das Döschen noch auf ihrem Schreibtisch. Die Gier nach Koffein trieb sie dennoch zu einer Tasse Kaffee. Er schmeckte unerwartet bitter, fast ein bisschen modrig und Anne gratulierte sich selbstironisch zu ihren medialen Fähigkeiten, die die visuellen Reize des Gartens sofort auf ihren Geschmack übertragen hatten und machte sich auf die Suche nach Süßstoff. Die chemische Süße fehlte doch schließlich in keinem Haushalt.
Anne ging in die Küche – hier hatte die Künstlerin Irene sich über die düstere Tristesse des Hauses hinweggesetzt und das Edikt überlieferter Etikette gebrochen. Die Kücheneinrichtung hatte ein jugendliches und topaktuelles Flair mit Milchglas und Aluminiumoptik, weißes Dekor wechselte mit blau, und die dezente Strahlerbeleuchtung tauchte alles in warmes Licht.
Anne ließ ihren Blick über die Arbeitsflächen wandern – kein unnötiger Kram wie in ihrer Küche. Zögernd öffnete sie eine Glasschiebetür, dahinter befand sich gestapeltes Geschirr, hinter einer anderen Tür fand sie Mehl, Salz und Zucker, Kochrezepte und Geschirrtücher in den Schubladen. Der Eckschrank am Fenster enthielt Töpfe und Putzmittel. Sie wollte sich schon geschlagen geben, als ihr ein hoher, schmaler Apothekerschrank auffiel, der sicher die Gewürze beherbergte. Auf leichtgängigen Rollen glitt der Schrank fast von selbst heraus und Anne war beeindruckt von der Vielfalt heimischer und exotischer Gewürzdosen, die in Reih‘ und Glied angeordnet waren. Rosmarin und Chili, Curry, Thymian und Oregano – aber kein Süßstoff. Sie hätte es sich ja denken können – derart künstliche Speisezusätze vertrugen sich nicht mit gehobener Lebensart.
Frustriert ließ sie den Schrank wieder zurückgleiten, sie musste wohl aufgeben. Aber, redete sie sich zu, sie würde wohl nicht gleich zunehmen, wenn sie einmal ihren Kaffee mit Zucker trank. Was sie ärgerte, war nur, dass sie sich durch die Umstände zwingen lassen musste.
Unschlüssig blieb Anne stehen, die Hand noch am Schrankgriff. Irgendetwas hatte sie innehalten lassen, eine kleine Unstimmigkeit in der Symmetrie der ordentlichen Gewürzdosen veranlasste sie, den Schrank wieder aufzuziehen. Und da sah sie, was störte: Im untersten Fach, an die Wand gepresst, hinter einer Mehltüte steckte ein brauner Umschlag. Obwohl sich Anne nur widerstrebend eingestand, dass es die blanke Neugier war, die sie den Umschlag herausziehen ließ, folgte sie ihrem Reflex. Der Umschlag war dick und Anne ging ans Fenster. Die Gewissheit, etwas Verbotenes zu tun, schärfte ihre Sinne. Sie nahm Geräusche wahr, die ihr vorher entgangen waren. Das Zuschlagen von Autotüren auf der Straße, Stimmengemurmel. Sie schaute hinaus und bemerkte, dass am Haus gegenüber eine Frau stand und einem abfahrenden Wagen zuwinkte. Matthias und Irene waren also noch nicht zurückgekommen. Sie setzte sich auf einen Stuhl vor das Fenster und griff in den Umschlag. Mehrere Schwarz-Weiß-Fotos fielen ihr entgegen und handbeschriebene Blätter, die wie Briefe aussahen, und ganz unten ein Zeitungsbericht, ein ausgeschnittener Zweispalter, leicht vergilbt und fast schon porös.
Mit zitternden Fingern nahm Anne die Fotos zur Hand. Mehrere junge Leute saßen in einer Kneipe, zwei auf Barhockern, die anderen in einer losen Gruppe davor. Ein junger Mann und ein Mädchen hielten sich umschlungen und prosteten mit vollen Gläsern dem Fotografen zu. Die Aufnahme war mindestens zwanzig Jahre alt, Kleidung und Frisuren zeigten den Look der späten 80er Jahre. Sie schaute sich das Foto genauer an und erkannte in dem Mädchen, das von einem auffallend gutaussehenden, dunklen Mann umarmt wurde, Irene. Sie trug einen Jeansrock und lachte, die Haare geföhnt wie Lady Diana, jung und glücklich.
Anne griff zu dem anderen Foto: Die Szenerie hatte sich nur unwesentlich verändert. Auch auf diesem Foto hielt ein junger Mann Irene im Arm, der Fotograf hatte mit seinem Vorgänger gewechselt. Er drückte Irene einen dicken Kuss auf die Wange und hatte Zeige- und Mittelfinger zum V erhoben und signalisierte victory, Sieg. Anne musste zweimal hinschauen, bis ihr dämmerte, wen sie vor sich sah: Der Junge, der Irene so besitzergreifend an sich drückte, war Kurt. Ein junger Kurt mit Haartolle, bekleidet mit stylischem Jeansanzug, aber zweifellos der Kurt, den sie kannte.
Sie ließ das Foto fallen, als hätte sie sich verbrannt und warf einen Blick auf die Briefe, unschuldige, mit Ludwig unterzeichnete Liebesbriefe, der dunkle Typ, vermutete sie. Offenbar hatte er bei dem Wettstreit um Irene den Sieg davongetragen und nicht Kurt. Sein Victory-Zeichen war wohl eher Wunschdenken gewesen.
Jetzt konnte Anne ihre Neugier nicht mehr bremsen. Sie las auch noch den Zeitungsbericht. Er war datiert mit dem 3. Dezember 1993 und noch in der alten Schrift ‚Times New Roman‘ gedruckt, die beim Tagblatt schon lange nicht mehr verwendet wurde.
Mysteriöser Tod einer 16-jährigen
München (lba). Nach einer Drogenrazzia in den frühen Morgenstunden entdeckte die Polizei in einer Schwabinger Wohnung auf einer Couch im Wohnzimmer den leblosen Körper einer jungen Frau. Die Beamten verständigten sofort die Rettungsleitstelle. Trotz aller Bemühungen der kurz darauf eintreffenden Notärztin, die noch Wiederbelebungsversuche durchführte, war das Leben der 16-jährigen nicht mehr zu retten.
Die Polizei folgte mit ihrer Razzia einem anonymen Hinweis und entdeckte in der Wohnung, in der offenbar eine wilde Party stattgefunden hatte, Rauschgiftutensilien, die sichergestellt wurden.
Von den Partygästen fehlte allerdings jede Spur. Nach den Ergebnissen der Obduktion starb die junge Frau jedoch nicht an einer Überdosis. Bei der Sektion wurden überhaupt keine Spuren ermittelt, die auf die Einnahme von Betäubungsmitteln hinweisen. Der Tod sei vielmehr durch innere Verletzungen verursacht worden, so ein Polizeisprecher. Die Ermittlungen richten sich jetzt auf die Vorfälle bei der „Drogen-party“.
Anne faltete den Zeitungsausschnitt zusammen und legte ihn mit den Fotos und den Briefen zurück in den Umschlag. In ihrem Kopf drehten sich unzählige Fragen, auf die sie eine Antwort finden musste. Warum hatte Irene die Meldung über all die Jahre aufbewahrt?
Auf einmal hatte sie kein Bedürfnis mehr auf Frühstück und ebenso wenig legte sie Wert darauf, Irene oder gar Matthias unter die Augen zu treten. In die Scham über ihr unbefugtes Durchwühlen fremden Eigentums mischte sich Unruhe, und sie hatte es auf einmal sehr eilig, wegzukommen. Hastig packte sie ihre wenigen Habseligkeiten, vertat jedoch wertvolle Zeit mit der Suche nach ihrem Autoschlüssel, bis ihr einfiel, dass sie letzte Nacht mit einem Taxi gekommen war. Anne rief sich ein Taxi und verabredete mit dem Fahrer einen Treffpunkt an der nächsten Bushaltestelle. Sie wollte auf keinen Fall hier warten. Rasch schrieb sie einen Zettel mit ein paar Dankesworten und legte ihn auf den Frühstückstisch. Anne trank ihre Kaffeetasse leer, griff nach Jeansjacke und Tasche und ließ mit einem Seufzer der Erleichterung die Tür ins Schloss fallen.
Der Taxifahrer lamentierte auf dem Weg in die Redaktion über die vielen Flüchtling, doch Anne gab nur einsilbige Antworten. Sie ließ sich vor ihrer Wohnung absetzen und stellte – ohne sich einen Blick in ihr Schlafzimmer zu gestatten – im Flur ihr Gepäck ab, griff nach dem Autoschlüssel und fuhr zum Tagblatt.
Es gab tausend Gründe, warum Irene diesen Artikel aufbewahrt haben konnte und alle mussten nichts bedeuten, beschwichtigte sie die bohrenden Fragen, die sie bedrängten. Sie entwickelte ja schon fast paranoide Züge. Es würden sich noch viele Gelegenheiten zu einer zwanglosen Unterhaltung ergeben, sie würde fragen, ihre Zweifel endgültig begraben und den Blick auf die Zukunft richten.
Die Redaktion schien verwaist an diesem Morgen, aber es war die Leere nach einem unerwarteten Aufbruch. Türen standen offen, obwohl Computer liefen, Jacken hingen an der Garderobe und in Wolfgangs Büro lief leise ein Radio. Selbst Carlas Büro war unbesetzt und das Telefon klingelte penetrant. Anne schaute auf die Uhr und stellte wider Erwarten fest, dass sie nicht zu spät war. Welches Verhängnis war denn heute wieder der Grund für die verlassenen Büros?, fragte sich Anne unwillkürlich, bis sie aus Wielands Büro Stimmen und das laute Lachen Barbaras hörte.
Sie hatte nicht das geringste Verlangen, den Anlass für Barbaras Fröhlichkeit herauszufinden, ging in ihr Büro, schaltete den Computer ein und blätterte den Papierstapel, der auf ihrem Schreibtisch neu hinzugekommen war, durch.
Die ungestörte Ruhe währte nicht lange. Carla streckte ihren Kopf durch die Tür und winkte ihr zu. „Komm schnell, wir sind bei Wieland und warten schon auf dich …!“
Alle waren da – trotz der frühen Stunde – sogar Willi, der seinen Status als Pauschalist und damit ‚freier Unternehmer‘ sonst damit überstrapazierte, dass er üblicherweise immer erst gegen Mittag in der Redaktion auftauchte. Aber nichts erinnerte an eine Redaktionskonferenz.
Auf dem Konferenztisch stand Sekt in einem Sektkühler und ihre Kollegen hielten gefüllte Gläser in der Hand. Wieland lehnte gegen seinen Schreibtisch und sein Kopf glänzte rosig unter dem schütteren Haar. Aber – für sie völlig unfassbar – er lächelte sie an und nickte Barbara zu, die mit einem Tablett, auf dem noch zwei leere Sektgläser und eine halbvolle Flasche standen, auf Anne zukam.
„Welchen Geburtstag oder – schlimmer noch – wessen Beförderung habe ich vergessen?“, fragte sie und schaute verwirrt in die Runde.
„Kaum möglich, dass du Geburtstage vergisst, nicht wahr“, sagte Phil mit schiefem Lächeln und Kurt, der am Fenster stand und als einziger Kaffee trank, fügte hinzu: „Allerdings ist heute kein Anlass für astrologische Exkursionen.“ Christian kratzte sich verlegen an der Nase und richtete seinen Blick auf Wolfgang, der Anne misstrauisch musterte.
„Macht es doch nicht so spannend!“ Angie kam mit einer Flasche Orangensaft um den Konferenztisch herum und goss Annes Glas zur Hälfte mit Saft, bevor Barbara ihr Sekt einschenkte.
„Wir haben in der Tat einen Anlass anzustoßen“, begann Wieland feierlich und Anne registrierte erleichtert, dass die anderen ihm gespannt zuhörten und folglich auch noch nicht viel informierter sein konnten als sie.
„Vielleicht hat Sie alle die Schmiererei an unserer Hauswand nicht im gleichen Maß beunruhigt wie mich“, fuhr Wieland fort und räusperte sich, „aber es kann schließlich nicht angehen, dass unser guter Ruf auf eine solch üble Weise untergraben wird.“
Und vielleicht berechtigte Zweifel an deiner Rechtschaffenheit laut werden, dachte Anne und sah, dass sich Schweißperlen auf Wielands Stirn bildeten.
„Ich hatte erst vorgestern ein Gespräch mit dem ermittelnden Polizeibeamten.“ Wieland wischte sich die Stirn ab. „Und dabei leider erfahren müssen, dass die Ermittlungen nicht sehr erfolgversprechend verlaufen und wahrscheinlich in Kürze eingestellt werden. Sie können sich daher meine Freude vorstellen, als ich gestern Abend erfuhr, dass sich der Fall durch einen glücklichen Zufall aufgeklärt hat. Wir wissen jetzt, wer hinter der Schmiererei steckt.“ Wieland erhob sein Glas „Wolfgang Bauer und sein detektivischer Scharfsinn sind dem Täter auf die Spur gekommen. Herr Bauer wird Ihnen alles erläutern. Lassen Sie uns erst einmal auf ihn anstoßen.“
Er nickte in die Runde und prostete Wolfgang zu. Alle folgten seinem Beispiel, obwohl Kurt etwas gequält schaute und Christian verlegen an seinem Schnurrbart zupfte. Phils Grinsen hatte etwas Diabolisches und Anne biss sich auf die Zunge, um die boshafte Bemerkung hinunterzuschlucken, die sich mit aller Macht Bahn brechen wollte.
„Ihr könnt euch doch noch an Henrik erinnern, den Sohn des Vorstandsvorsitzenden von ZF, der im vergangenen Jahr bei uns Praktikant war“, begann Wolfgang mit gewichtiger Stimme und ebensolchem Habitus und Anne dachte, dass es doch wieder einmal bezeichnend war, dass Wolfgang den Vorstandsvorsitzenden mit ins Spiel bringen musste. „Der kleine, schmächtige Junge, der sein Politikstudium geschmissen hat“, fuhr er fort und Anne erinnerte sich jetzt. Der Junge hatte von Papa die Auflage erhalten, etwas zu arbeiten, um seine monatliche Zuwendung nicht zu verlieren. Er war mit ziemlich hochfliegenden Plänen im Gepäck und selbstredend mit dem Anspruch auf die Stelle eines Chefredakteurs zu ihnen gekommen. Wieland hatte ihn wie ein rohes Ei behandelt, und seine besten Beiträge beschränkten sich auf Anmerkungen in der Redaktionskonferenz. Schreiben und der Termindruck waren weniger sein Metier gewesen. Nach kürzester Zeit war ihnen allen klar geworden, dass er kein Volontariat bekommen würde.
„Er hat mich damals als Mentor gesehen“, setzte Wolfgang seine Erläuterungen fort und Anne bemerkte die Anzeichen von Ungeduld bei ihren Kollegen, Kurt runzelte die Stirn und Christian ließ seine Augen von Wolfgang zu Wieland hin- und herfliegen in Erwartung eines Ausbruchs ihres Chefs, aber der benahm sich heute unerwartet geduldig, „und hat mir nicht einmal die Freundschaft gekündigt, als sein erhoffter Vertrag bei uns den Bach hinunterging.“
Anne hatte da so ihre Zweifel, es war doch wohl eher Wolfgang gewesen, der sich von der Verbindung wer weiß was versprochen hatte. „Komm endlich zur Sache“, knurrte Phil, aber Wieland hob beschwichtigend die Hand, „lassen Sie ihn ausreden …!“
„Ich weiß nicht mehr genau, wann mir der Verdacht kam.“ Wolfgang reichte sein leeres Glas Barbara, die umhertänzelte und Sekt nachschenkte. „Ich habe doch im vergangenen Jahr diesen Karikaturenkurs besucht und euch alle gezeichnet …“ Anne spürte wieder den Ärger von damals aufwallen, als sie an das wenig schmeichelhafte Gesicht dachte, das Wolfgang von ihr gezeichnet hatte. „Ja – und da erinnerte ich mich an das auffallende Interesse, das Henrik damals an den Tag legte und auch an sein Zeichentalent. Ich schlug ihm noch vor, dieses Talent auszubauen, wenn er in der Journaille Karriere machen wollte.“ Wolfgang machte eine wirkungsvolle Pause, um einen Schluck von seinem Sekt zu trinken. „Und mir fiel plötzlich wieder seine Antwort ein und auch sein Gesichtsausdruck dazu: „Schau dir mal die Graffiti in meinem Hobbykeller an. Obwohl es nie dazu kam, habe ich jetzt zwei und zwei zusammengezählt.“ Wolfgang schaute Beifall heischend in die Runde und fuhr fort: „Alles Weitere war dann gar nicht mehr so schwierig. Ich traf ihn eines Abends in seiner Stammkneipe an, nachdem ich mehrere Abende dort herumgelungert bin und stellte ihn zur Rede. Na gut, ich habe ein bisschen geblufft und ihm angedroht, dass Herr Wieland einen Verdacht geschöpft und mit der Polizei geredet habe. Er knickte ziemlich schnell ein und faselte von einem ‚Denkzettel‘, den er uns verpassen wollte, weil wir ihm seine Zukunft kaputtgemacht hätten. Es täte ihm aber inzwischen mehr als leid, weil er – wider Erwarten – jetzt einen Studienplatz in USA gefunden habe und polizeiliche Ermittlungen so ziemlich das Letzte wären, was er jetzt brauchen könnte.“
„Da wird er aber Pech haben“, ließ sich Kurt von seinem Fensterplatz vernehmen, „das hätte er sich früher überlegen müssen.“
Alle Blicke richteten sich auf Wieland, der schüttelte jedoch den Kopf und sagte zu Wolfgang: „Erzählen Sie weiter!“
„Ja, Herr Wieland und ich haben uns deshalb ziemlich den Kopf zerbrochen.“ Wolfgang würde wohl noch seinen Enkeln vom heutigen Tag erzählen, schoss es Anne durch den Kopf. „Und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Veröffentlichung – so verführerisch sie auch wäre – dem Tagblatt vielleicht einen kleinen Triumph, vor allem aber Scherereien mit seinem Vater einbrächte.“
„Der neben seiner bedeutenden Stellung in der Stadt auch ein verdammt guter Anzeigenkunde ist“, schloss Phil trocken.
Wielands Nicken war totales Einverständnis und Anne krümmte sich innerlich. Die Kriecherei ihres Chefs ging noch viel weiter, als sie es sich jemals hätte ausmalen können. Natürlich, ein Generaldirektor, der ihm verpflichtet war, besser konnte es doch nicht kommen.
„Weiß denn dieser Dr. Schneider Bescheid?“, fragte Christian in seiner akzentuierten Aussprache und ließ ein verlegenes Hüsteln folgen.
„Natürlich nicht“, antwortete Wolfgang bestimmt „und Henrik hat mich händeringend gebeten, ihm auch nichts zu sagen.“
„Also, es tut mir leid, ich würde mich auf so etwas nicht einlassen.“ Angies klare Aussage deckte sich völlig mit Annes Auffassung.
„Ja“, schloss sich auch Phil an, kann mir irgendjemand sagen, warum wir unsere Geradlinigkeit für einen Anzeigenkunden aufgeben sollten? Und in diese Richtung bewegt sich doch unser Gespräch, wenn ich die Anzeichen hier richtig deute …“
„Deshalb“, gab Wolfgang triumphierend Antwort auf Phils Frage, zog mit der Geschicklichkeit eines Falschspielers einen Packen Geldscheine aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch.
Anne schaute auf Wieland, dessen Augen begehrlich glitzerten. Mein Gott, würde er sich etwa bestechen lassen?
„Herr Wieland“, fuhr Wolfgang an diesen gewandt fort „es war doch Ihre Bedingung, dass Henrik Schneider die Verputzerrechnung begleicht, um mit einem blauen Auge davonzukommen.“ Er gab Wieland die Geldscheine.
„Ich fand den Umschlag heute Morgen in meinem Briefkasten. Und hier …“ Er griff erneut in seine Jackentasche. „… ist das Begleitschreiben dazu. Es ist an Sie adressiert. Ich habe den Brief noch nicht geöffnet.“
„Zählt das zu deinen ausdrücklich zu erwähnenden Tugenden?“, konnte sich Anne nicht verkneifen und setzte auf den verständnislosen Blick Wolfgangs hinzu: „Briefe, die für einen anderen bestimmt sind, nicht zu öffnen …“
Wolfgang sah sie mit einem Ausdruck an, der Wasser zu Eis hätte gefrieren lassen können.
„Keine Bissigkeit, wenn ich bitten darf“, konterte Wieland in ihre Richtung. „Herr Bauer hat sich in dieser Angelegenheit mehr als vorbildlich verhalten.“
„Und was wird aus unserer Strafanzeige?“, meldete sich Willi, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, plötzlich mit vollem Mund zu Wort. Er hatte vor sich auf dem Tisch eine Tüte liegen und aß seine unvermeidliche Leberkässemmel. Der Konferenztisch war an seinem Platz bereits voller Krümel.
„Angst um Ihre guten Beziehungen zur Polizei?“, stänkerte Kurt. „Ich frage mich schon lange, wann Sie sich bei denen ein Büro einrichten.“
„Das wird sich finden“, antwortete Wieland, während seine Augen über das Briefpapier flogen. Er faltete den Bogen zusammen, nahm seine Brille ab und wandte sich wieder an die Runde.
„Wir gehen folgendermaßen vor …“, begann er.
„Die Polizei ist mir gegenüber immer mehr als kulant“, murrte Willi zwischen zwei Bissen, „die könnten nicht kooperativer sein, obwohl sie wissen, dass ich den Polizeifunk abhöre.“ Er wischte sich Krümel vom Kinn. „Das Tagblatt fährt gut damit. Ich bin meistens vor der Polizei und dem Rettungswagen an einer Unfallstelle.“ Er schaute beschwörend zu Wieland. „Wir können nicht einfach unser Wissen für uns behalten, finde ich.“
„Schluss der Debatte“, beschied ihn Wieland. „Ich habe Sie nicht hierher gebeten, um Ihre Ansichten zu hören, sondern um Ihnen etwas mitzuteilen.“ Er richtete sich in seinem Stuhl auf und räusperte sich. „Natürlich werde ich ein Wörtchen mit dem Polizeipräsidenten reden, und ich denke, die werden mehr als glücklich sein, wenn wir die Anzeige zurückziehen. Aber, was ich eigentlich sagen will, ist, dass niemand von Ihnen, ich betone wirklich niemand, irgendwo eine Andeutung fallen lässt. Wir können ausgesprochen froh sein, dass hinter dieser Affäre nichts anderes steckt als der unqualifizierte Streich eines Flegels. Ich will keine Gerüchte. Haben das alle verstanden?“
Er lächelte breit und winkte Barbara zu sich. „Machen Sie unsere Gläser noch einmal voll, Mädchen, und dann lassen wir Wolfgang Bauer hochleben. Wir schulden ihm einiges, denke ich.“
Anne nippte an ihrem Sekt, stellte das Glas jedoch zurück auf den Tisch. Sie spürte bereits den Alkohol, ihr war etwas schwindelig. Sie hatte immerhin nicht gefrühstückt und das Haus der Reiningers Hals über Kopf verlassen. Außerdem hatte sie genug von diesem Theater hier. Sie ging zurück in ihr Zimmer und setzte sich vor ihren Computer.
Irgendetwas missfiel ihr an Wolfgangs Darstellung. Da stimmte doch etwas nicht, da war doch einiges ganz und gar nicht in Ordnung. So glatt löste sich schließlich eine solche Sache nicht auf. Der Hergang des Vorfalls schien so für Wolfgang konstruiert, inszeniert gar, um ihn ins rechte Licht zu rücken. Sie stutzte – war dies so unmöglich? Konnte er es selbst organisiert haben, aus welchen Gründen auch immer? Es passte so gar nicht zu ihm, auf eine öffentliche Belobigung zu verzichten. Außerdem hatte er ihre Zweifel gesehen, meinte Anne im Nachhinein, ihre Gefühle standen ihr immer ins Gesicht geschrieben. Sein Blick war voller Hass gewesen.
Sie musste mit jemandem reden, ihre Skepsis mitteilen. Sie stand auf und musste sich kurz darauf wieder hinsetzen. Der Boden drehte sich, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Aufgeregt ging sie zurück. Vielleicht hatte ja Carla die nötige Distanz für ein ernsthaftes Gespräch. Die Runde war noch vollzählig. Sie machte Carla ein Zeichen, doch diese reagierte nicht. Anne wunderte sich, dass die Stimmung trotz Sekt nicht gelöster war. Selbst Wolfgang war ungewohnt schweigsam. Allein Barbara schien sich wohlzufühlen, sie lachte und bedachte Phil mit dem üblichen koketten Augenaufschlag. Doch der reagierte überraschend ungerührt und richtete seine Aufmerksamkeit auf Anne. Er nahm ihr halbvolles Sektglas und reichte es ihr: „Kneifen gilt nicht, Anne, ein Glas Sekt lässt man nicht verkommen.“
Anne nahm es und trank es aus. Der Sekt schmeckte nicht. In ihr schlechtes Gewissen über den frühen Alkoholgenuss mischte sich Ärger über sich selbst. Sie hätte das Glas lächelnd ablehnen können, dann wäre ihre kleine Rache an Barbara ebenso gelungen gewesen. Mit ihrer kindischen Reaktion hatte sie sich nur auf das gleiche Niveau begeben.
Außerdem war es ein Pyrrhussieg. Die leichte Übelkeit, die Anne seit dem ersten Schluck Sekt quälte, hatte sich noch verstärkt, und sie wünschte sich, wieder an ihrem Schreibtisch zu sitzen. Aber es war plötzlich, als gehorchten ihre Beine ihrem Willen nicht mehr. Sie waren schwer, ihr Kopf dagegen wurde seltsam leicht und leer. Anne hörte das Gemurmel im Raum von weit herkommen und die kleinen Erhebungen der Raufasertapete traten gestochen scharf hervor. Der Kandinsky-Druck schien in die Wand, an der er hing, zu versinken und dann kam er ihr wieder wie aufgedruckt vor.
Der Vorgang hatte fast etwas Hypnotisches in seinem sich ständig wiederholenden Wechsel.
Anne fror, dennoch wischte sie sich Schweiß von der Stirn. Das Gelb des Orangensafts und das Grün von Barbaras T-Shirt leuchteten intensiver und greller als vorhin. Aus einem fernen Winkel ihres Bewusstseins meldete sich eine warnende Stimme, die ihr einflüsterte, sie solle Angst haben, doch Anne verspürte eine drängende Lust, laut zu lachen. Verwundert beobachtete sie die Wand, während ihre Gedanken immer mehr abdrifteten.
Plötzlich hörte sie ein Surren, als flöge ein riesiges Insekt an ihr vorbei.
Ein synthetisch klingender Ton hämmerte in ihrem Kopf und sie stellte fest, dass das Geräusch vom Wasserhahn am Waschbecken in der Toilette kam. Wie war sie denn dorthin gekommen? Ihr Gesicht im Spiegel kam ihr nun genauso entgegen und verschwand wieder wie der Kandinsky-Druck an der Wand und ihre Augen schienen in dieses Gesicht eingemeißelt wie zwei Kohlen.
Anne hielt sich am Waschbecken fest und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Unvermutet war sie wieder in der Wirklichkeit und Panik packte sie. Sie ging in ihr Büro zurück und schrieb auf ein Blatt Papier: Mir ist schlecht geworden, bin heimgegangen, bitte entschuldige mich, Anne.
Sie legte es auf Carlas Schreibtisch und flüchtete zum zweiten Mal an diesem Tag.