Beim Starten gab der Motor ihres Autos einen eigenartigen Ton von sich und Anne riss reflexartig den Kopf nach hinten, weil sie an die Sirene eines Rettungsfahrzeugs dachte, doch sie sah keines. Sie schnallte sich an.
Noch vor wenigen Augenblicken war sie nahezu empfindungslos von der Kälte in ihrem Innern gewesen, jetzt durchflutete sie eine Hitze, als liefe ein Sauna-Ofen auf höchsten Touren.
Sie reihte sich in die wartende Auto-Schlange vor dem Parkplatz ein und ließ sich von dem Wagentreck mitziehen. Die Ampel sprang auf Gelb und wieder auf Rot. Irgendjemand hupte, doch sie lauschte auf das von einem Heulton durchsetzte Gebrumm ihres Motors. Ihr Wagen schien sich von selbst in Bewegung zu setzen. Die Windschutzscheibe war von farbigen Schlieren überzogen und der Rückspiegel im Wageninnern drehte sich und kam zu ihr herunter. Sie versuchte, ihn zu fassen, und erwischte mit dem rechten Hinterrad den Bordstein. Ihr Herzschlag setzte aus und beschleunigte sich dann in wildem Stakkato.
Das war jetzt nicht mehr die unvermittelte Panik von vorhin, sondern ganz reale Angst, die sie im Griff hielt. Doch immerhin hatte die Schrecksekunde bewirkt, dass sie jetzt wieder glasklar denken konnte. Sie wusste jetzt, dass sie auf schnellstem Wege nach Hause kommen musste. Kurzzeitig kam ihr der Gedanke anzuhalten und auszusteigen, allerdings ließ dies der rollende Verkehr nicht zu.
Sie bemerkte mit schierem Entsetzen, dass ihr die Straße, auf der sie fuhr, völlig fremd vorkam und offenbar stadtauswärts führte. Die beiden Fahrspuren hatten sich in eine verjüngt und der weiße Pfeil auf blauem Grund befahl ihr, geradeaus zu fahren.
Anne hielt Ausschau nach einem Feldweg, als ihr auffiel, dass sie sich ziemlich weit links auf der Fahrspur befand. Sie zog den Wagen nach rechts und veranlasste die Fahrer hinter ihr zu überholen. Ein Blick auf den Tacho war eine fast übermenschliche Konzentrations-Leistung, und sie registrierte, dass sie 70 fuhr. Kein Grund zur Beunruhigung, dachte sie, sollten doch alle überholen. Dennoch brach ihr der Schweiß aus allen Poren. Abrupt sah sie sich hinter der Ladefläche eines Lastwagens und bremste ab. Das erfolgreiche Bremsmanöver vertrieb ihre Angst und sie war auf einmal fast euphorisch.
Ihre Reflexe waren unbesiegbar. Der Lastwagen bog ab und Anne beschleunigte. Der trübe Novembertag wurde auf einmal hell. Mit der Präzision eines Lasers hatte die Sonne die dunklen Wolken durchschnitten und schien ihr wie ein Bühnenscheinwerfer mitten ins Gesicht. Auf der Bühne, sang ihr Inneres, die ganze Welt ist eine Bühne … Hatte sie das nicht neulich erst geschrieben – und von wem stammte die Sentenz?
Der Zebrastreifen auf der Straße vor ihr schien in weiter Ferne – das Schwarz-Weiß der Streifen wirkte dreidimensional im Licht- und Schattenspiel der Sonne, als auf der linken Seite ein dunkler Streifen auftauchte. Der Streifen trug einen Hut, und Anne bremste und schrie.
Sie schrie so laut, dass es in ihren Ohren gellte und konnte erst stoppen, als sie durch einen Stoß am linken Kotflügel zum Halten kam.
Anne schloss die Augen und wollte sie nie mehr öffnen, doch die Szene verschwand auch bei geschlossenen Augen nicht. Sie hatte einen Menschen überfahren.
Aussteigen, befahl sie sich, doch ihre Beine gehorchten nicht. Ihr Kopf war auf das Lenkrad gesunken und sie konnte ihn nur mit Mühe wieder heben. Sie fühlte eine warme Feuchtigkeit auf dem Kinn und betastete ihr Gesicht. Zwischen ihren Fingern war klebrige Nässe – Blut.
Mit einem Ruck wurde die Tür geöffnet, fast wäre Anne hinausgefallen, und eine männliche Stimme fragte: „Kann ich Ihnen helfen, Gott, Sie bluten ja.“ Anne wandte sich dem Sprecher zu und roch Knoblauchatem.
Der Mann war klein und hatte eine Glatze. Seinen voluminösen Bauch konnte auch die warme Winterjacke, die er trug, nur unzulänglich verbergen. Seine Jeans waren fleckig. Der Ekel vor dem stinkenden Atem des Fremden verursachte ihr einen Schwall von Übelkeit, schien aber gleichzeitig ihre Lebensgeister zu wecken, sie wehrte seine helfenden Hände ab und stieg aus.
Ihr Helfer wich zurück und Anne wagte einen Blick zur Stoßstange, wo der Schwerverletzte liegen musste – aber der Mann mit dem Hut war verschwunden.
Sie rannte über den Zebrastreifen zum Straßenrand, hörte Bremsen quietschen und Hupen. Sie lief auf das kleine Wäldchen zu, das sich entlang der Straße erstreckte. Der Verletzte stand sicher unter Schock und hat sich fortgeschleppt, dachte sie, doch sie konnte niemanden sehen. Die Übelkeit, die sie seit dem Morgen quälte und die ganze Zeit unter der Oberfläche gelauert hatte, brach sich jetzt drastisch Bahn. Anne lehnte sich an einen Baumstamm und übergab sich.
Neben ihrem Wagen hatte sich eine Menschentraube gebildet, Anne sah die noch immer offenstehende Tür und erkannte jetzt, dass das Heck in schrägem Winkel zur Fahrbahn stand und das linke Vorderrad auf der Verkehrsinsel hing. Mit mehr als mulmigem Gefühl ging sie zu der Gruppe hinüber und bemerkte, dass das Verkehrsschild auf der Insel geknickt war. Traurig zeigte der Rechts-Vorbei-Fahren-Pfeil auf den Boden.
„Da haben Sie einen schönen Schlamassel gebaut, Mädchen.“ Der Glatzkopf hatte sich zum Wortführer gemacht und begutachtete die Dellen an Kotflügel und Fahrertür. „Ich glaube, da rufen wir jetzt die Polizei.“ Geschäftig zog er ein Handy aus der Hosentasche und wählte.
„Jetzt warten Sie doch!“, wandte ein großer, hagerer Mann mit einer Baseball-Mütze auf dem Kopf ein, „das ist doch ein Bagatellschaden, kommt die Polizei denn da heute überhaupt noch?“
„Das ist keine Bagatelle“, erklärte kategorisch der Wortführer und presste das Handy ans Ohr.
Ein anderer Helfer hatte längst den Autoschlüssel von Annes Auto abgezogen, den Kofferraum geöffnet und das Warndreieck aufgestellt.
Jetzt leitete er mit rudernden Armen und selbstgefälliger Miene den Verkehr an der Stockung vorbei.
Anne setzte sich auf den Fahrersitz – sich in ein Mauseloch zu verkriechen, wäre ihr lieber gewesen – und ließ die Dinge geschehen. Dem drängenden Appell ihres Unterbewusstseins, nach dem Verletzten zu suchen, konnte sie allein aus Schwäche nicht folgen.
Der Signalton, der inzwischen aus der Ferne näherkam, war sehr real und hatte nichts mit dem Ton zu tun, den sie vorhin gehört hatte.
Sie schaute auf die Digitalanzeige ihrer Autouhr: 10.30 Uhr. War die Uhr stehengeblieben? Es konnte doch nicht möglich sein, dass nicht mehr als eine Viertelstunde vergangen war, seit sie die Redaktion verlassen hatte.
Neben ihr bremste ein Kleinbus der Polizei und Anne erkannte in dem Mann, der ausstieg, den Beamten wieder, der den Schaden des Graffitisprühers aufgenommen hatte. Heute wurde er von einer jungen Frau begleitet, die ihr langes, blondes Haar unter der Mütze zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Anne sah, wie der Polizist ein Diktiergerät aus der Tasche zog und hineinsprach. Dann steckte er es wieder weg und klopfte an ihre Scheibe. „Ihre Papiere bitte.“
Er warf einen Blick auf das Foto des Führerscheins und schaute ihr direkt ins Gesicht. Er runzelte die Stirn, als er sie wiedererkannte.
„So sieht man sich wieder“, bemerkte er mit süffisantem Grinsen, bevor er die Schäden an ihrem Wagen in Augenschein nahm und sie mit dem verbogenen Verkehrsschild verglich. „Schreiben Sie selbst den Pressebericht – oder soll ich Ihren Kollegen anrufen?“, bemerkte er mit schlecht verhohlener Schadenfreude. Willi war augenscheinlich wahrnehmungsgestört, was die gute Zusammenarbeit mit der Polizei anging, dachte Anne.
„Fahren Sie an den Straßenrand, dass der Verkehr hier wieder fließen kann“, wies er sie an, während er gebieterisch den Arm hob, um die vorüberfahrenden Autos anzuhalten. Anne setzte sich mit zitternden Knien hinter das Steuer und lenkte den Wagen an die rechte Seite. Immerhin war ihr Auto noch fahrtüchtig und der eingedellte Kotflügel schleifte nicht am Rad. Sie dachte kurz an die hohen Reparaturkosten. Ihre Gedanken stockten – sie hatte sich einfach überrollen lassen. Wo war der Verletzte? Aufgebracht sprang sie aus dem Auto. Die blonde Polizistin fuhr jetzt mit dem Kleinbus direkt hinter sie. Mit einem Klemmbrett unter dem Arm und Kugelschreiber in der Hand öffnete sie die Schiebetür, setzte sich ins Auto und winkte Anne zu sich.
„Wachtmeisterin Schubert“, stellte sich die Polizeibeamtin vor, indem sie Anne die Hand gab. „Schildern Sie doch bitte den Unfallhergang.“ Das Klemmbrett hatte sie auf ihre Knie gelegt, aber Anne unterbrach sie unruhig: „Ich habe einen Mann angefahren, er hat sicher einen Schock und sich verletzt weitergeschleppt – ich muss unbedingt nach ihm suchen.“
„Augenblick, Sie sind also einem Fußgänger ausgewichen und deshalb auf die Verkehrsinsel geraten?“, wiederholte Wachtmeisterin Schubert Annes Aussage.
„Nein – ich bin ihm nicht ausgewichen, er ist mir ins Auto gelaufen und verschwunden.“
„Und wo – bitteschön – soll er jetzt sein?“ Irritiert runzelte die Polizistin die Stirn.
„Ich weiß es nicht, ich habe nur einen dunkel gekleideten Mann mit Hut von der linken Straßenseite herkommen sehen, und dann einen Schlag gehört – die Sonne hat mich geblendet …“
„Ach, die Sonne ist mal wieder schuld“, mischte sich jetzt der Einsatzleiter ein, der sich während Annes letzter Worte neben seine Kollegin gesetzt hatte. „Was glauben Sie, wie oft wir das schon gehört haben, es gibt doch Sonnenblenden.“
„Es ging alles so schnell – aber ich habe deutlich einen Mann gesehen -bitte …“, Anne drängte jetzt: „Sie müssen mir glauben – vielleicht können wir ihm noch helfen …“
„Haben Sie eigentlich schon einen Alkoholtest gemacht?“, wandte sich der Polizist an seine errötende Kollegin. „Also nein“, interpretierte er ihr Schweigen, beugte sich über die Sitzbank und förderte ein Röhrchen zutage, das er Anne unter die Nase hielt.
„Also, junge Frau, jetzt blasen Sie da mal kräftig hinein“, sagte er, während ein fast genüssliches Lächeln seine Lippen umspielte, „dann unterhalten wir uns weiter.“
Anne wurde es abwechselnd heiß und kalt, als sie an den morgendlichen Sekt dachte, und wollte in einem aufwallenden Impuls einfach nur fliehen.
Ein Blick in die Mimik des Polizisten, die fast genau darauf zu lauern schien, belehrte sie eines Besseren, und sie fügte sich und blies in das Röhrchen. Es verfärbte sich nur unwesentlich und ohne weiteren Kommentar ließ es der Beamte nach einem kurzen Blick darauf wieder im Fond des Wagens verschwinden.
„Also, Sie haben einen Fußgänger angefahren, der jetzt nicht mehr da ist. Habe ich das richtig verstanden?“ Anne musste einräumen, dass sein Tonfall nach der Prozedur sachlicher geworden war.
„Ja, nein – ich habe einen Mann mit Hut gesehen und den Aufprall gehört – und als ich nach ihm sehen wollte, war er verschwunden.“ Anne merkte, wie lahm sich ihre Erklärung anhörte und brach entmutigt ab. „Sie glauben mir nicht!“, sagte sie.
„Das ist keine Frage des Glaubens“, gab die Wachtmeisterin zurück, „Verletzte pflegen sich in aller Regel nicht in Luft aufzulösen.“ Ihr Kollege setzte hinzu: „Außerdem hat außer Ihnen keiner der nachfolgenden Fahrer einen Mann bemerkt. Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?“, fragte er unvermittelt, während er Anne hemmungslos musterte.
„Nein“, antwortete sie verzweifelt, während sie mit den Tränen kämpfte.
„Vielleicht sollten Sie damit anfangen – Halluzinationen sind keine gute Voraussetzung zum Autofahren. Ich denke, wir behalten Ihren Führerschein ein, bis Sie ein Attest vorlegen oder sich unserem Test unterzogen haben.“ Grinsend lehnte er sich zurück.
Anne spürte, wie die Wut wie eine Stichflamme in ihr hochschoss. Sie würde sich diese Schikane nicht länger gefallen lassen. „Sie haben kein Recht dazu. Ich werde mich über Ihre Behandlung beschweren“, begann sie aufgebracht, aber der Polizist brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„War nur ein guter Rat.“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus. „Beschweren Sie sich ruhig, aber verlassen Sie sich nicht auf Ihren Status als Pressevertreterin, von Herrn Wieland werden Ihre Allüren sicher nicht gedeckt …“
Plötzlich war Anne alles klar – seine Abneigung gegen sie und dieses Manöver hier gingen auf Wieland zurück. Ihre Wut fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Müde gab sie ihre Personalien und den Unfallhergang zu Protokoll. Die beiden würden sie nicht ernst nehmen.
Sie würde später wiederkommen müssen und nach dem Verletzten suchen, wenn sie die Polizei schon nicht unterstützen wollte. Den leisen Zweifel, der der Version des Polizisten recht geben wollte, überging sie, zu weitreichend war die Konsequenz daraus: Sie war wahnsinnig geworden.
„Sie erhalten ein Bußgeld wegen Sachbeschädigung“, hörte sie den Polizisten sagen und nahm mit zitternden Händen Führerschein und Kraftfahrzeugschein wieder an sich. „Dagegen können Sie natürlich Einspruch einlegen.“ Sein Gesicht war undurchdringlich.
„Ja, danke“, antwortete sie, „das heißt, nein – ich werde keinen Widerspruch einlegen. Darf ich jetzt gehen?“
Der Polizist war inzwischen ausgestiegen und zog für sie die Schiebetür auf. „Es war übrigens ernst gemeint“, sagte er, während er seine Uniformjacke glattzog. „Sie sollten sich wirklich etwas Beruhigendes verordnen lassen, Ihre Nerven würden es Ihnen danken.“
Mit gesenktem Kopf schlich Anne davon. Der Streifenwagen hielt noch einmal kurz an, als sie ihr Auto erreicht hatte. „Fahren Sie Ihren Wagen weg, hier können Sie nicht stehenbleiben“, befahl der Gesetzeshüter noch abschließend. „Wir warten.“
Anne blieb nichts anderes übrig, als loszufahren.