Sie erreichte ihre Wohnung irgendwie, gewohnheitsmäßig gab sie den Nummerncode ein und drückte dagegen. Die Tür blieb verschlossen. Anne fühlte Panik und fing erneut an die Zahlenkombination zu tippen, doch dann brach sie ab und suchte nach dem Hausschlüssel. Sie brauchte nicht noch eine Niederlage. Was war nur mit ihr geschehen? Litt sie an einer heimtückischen Krankheit? Sie musste unbedingt die Anfangs-Symptome der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit nachschlagen.
Anne unterdrückte das Schluchzen, das in ihr aufstieg und taumelte mehr, als sie ging, die Treppe hoch und in ihre Wohnung. Sie zog ihre Jacke aus – ihr Pullover war völlig durchgeschwitzt, obwohl sie vor Kälte zitterte.
Ihr Gesicht im Flurspiegel war grau – aber immerhin wich es nicht mehr vor und zurück. Der tote Vogel in ihrem Schlafzimmer fiel ihr wieder ein, und sie verstand jetzt nicht mehr, warum sie gestern so ängstlich darauf reagiert hatte. Im Licht der jüngsten Ereignisse kam ihr ihre Erregung total hysterisch vor. Das arme Tier hatte sich doch bloß verirrt, sie würde es im Garten vergraben.
Sie ging ins Wohnzimmer und ließ ihre Tasche auf einen Sessel fallen. Das Campariglas stand noch auf dem Tisch und Anne sah, dass vom Farn auf dem Sideboard haufenweise gelbe Blätter auf den Boden gefallen waren, und die Topfpflanzen auf dem Fenster die Köpfe hängen ließen. Die sich ihr aufdrängende Allegorie erstaunte sie nicht und mit einem bitteren Lachen dachte sie: Mitgefangen, mitgehangen – warum soll es meinen Pflanzen besser gehen? Sie schaute eine Weile aus dem Fenster, auch in der Natur nur Siechtum und Tod, die ideale Atmosphäre für ein Vogelbegräbnis.
Sie ließ den Vorhang wieder zurückfallen, gab sich innerlich einen Ruck und öffnete zaghaft die Schlafzimmertür.
Der Vogel war weg.
Mit einem Aufschrei stürzte Anne in die Küche. Der Schrank und die Stühle wankten, surreal verzerrt kamen die Möbel auf sie zu und wichen wieder zurück. Ihr war plötzlich erneut speiübel, sie würgte und griff sich an den Hals, die Küche begann sich zu drehen und Anne wollte sich am Tisch festhalten. Dabei stürzte die Campariflasche zu Boden und sie betrachtete die auslaufende, rote Flüssigkeit. Die Lache verwandelte sich in frisches Blut, das aus der abgeschnittenen Brust einer Frau quoll – wie hypnotisiert starrte Anne auf das Bild und konnte den Blick nicht davon wenden.
Mit beiden Händen griff sie in die Lache und fühlte einen scharfen Schmerz. Jetzt tropfte das Blut von ihren Händen. Doch es war, als wäre mit dem Schmerz ein Schalter umgelegt worden. Anne war von einer Sekunde zur nächsten wieder in der Realität. Sie nahm den scharfen Geruch von Campari wahr, griff sich die Rolle Küchentücher und stillte damit das Blut an ihren Händen.
Dann ging sie in das Badezimmer und kramte nach Verbandszeug. Währenddessen klingelte das Telefon. Sie ließ es klingeln, bis es aufhörte. Sie hatte jetzt nicht die Kraft, mit irgendjemandem zu sprechen.