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„Es dauert noch einen kleinen Moment, der Doktor ist zu einem Notfall gerufen worden.“ Kühl und geschäftsmäßig reichte die Arzthelferin Annes Versicherungskarte über den Empfangstresen. „Nehmen Sie doch bitte noch einmal Platz.“

Anne setzte sich auf den einzigen freien Stuhl im Wartezimmer ihres Hausarztes, griff nach dem zerlesenen Exemplar einer Lesezirkel-Illustrierte und blätterte zerstreut darin herum. Das Konterfei von Prinz Charles blickte ihr entgegen und der reißerische Bericht über irgendein Leiden, das dem Armen das Leben vergällte, entzog sich ihr immer wieder und Anne legte die Zeitung zurück. Sie versuchte, ihre Gedanken zu strukturieren, während sie wartete, aber es gelang ihr nicht.

„Du hast ein schlimmes Aua.“ Ein kleines Mädchen stand vor ihr und lutschte hingebungsvoll am linken Zeigefinger, mit dem rechten zeigte es auf Annes dicken Verband, durch den das Blut sickerte. „Hast du nicht auf deine Mama gehört?“ Mitleidsvoll schauten sie große Kinderaugen an.

„Ja, ich war sehr unartig.“ Mit ihrer gesunden Hand streichelte Anne über die weiche Kinderwange, bis ein autoritäres: „Sophie, komm her!“ aus der anderen Ecke des Raums den Dialog abrupt beendete. Eine Welle von Verzweiflung schwappte über Anne hinweg – welchen Eindruck musste sie hinterlassen, war sie denn ein solches Monster, dass Mütter ihren Kindern den Umgang mit ihr verwehrten?

Es gelang ihr immer noch nicht, den Ablauf des Tages, der sie jetzt in die Praxis ihres Arztes geführt hatte, einigermaßen zu rekonstruieren. Phils Darstellung der verwirrenden Ereignisse im Büro schockte sie noch immer.

Er hatte auf einmal in ihrer Wohnung gestanden, als sie noch nach Verbandszeug suchte und ihr war vor Schreck fast das Herz stehen geblieben.

„Wir haben uns Sorgen gemacht, Angie ist zu keiner vernünftigen Arbeit mehr fähig.“

„Aber wie bist du hereingekommen?“

„Sei nicht naiv, Anne“, hatte er brüsk geantwortet, „jeder in deinem Bekanntenkreis, der nicht gerade senil ist, kennt doch deinen Nummerncode. Du hast daraus doch nie ein Geheimnis gemacht, aber das ist doch jetzt nicht das Thema. Was hast du dir eigentlich heute Morgen dabei gedacht, Wolfgang vor allen anderen zu beschuldigen, er hätte die Graffiti selbst an die Wand gesprüht? Zugegeben, ich fand die ganze Vorstellung ja auch ätzend – aber musstest du so weit gehen?“

Die Erinnerung an das Gespräch mit Phil trieb ihr auch jetzt noch die Schamröte in die Wangen. Offenbar hatte Wolfgang ihr mit einer Anzeige wegen Verleumdung gedroht – und sie hatte immer noch nicht die geringste Erinnerung an den Vorfall.

Phil hatte rigoros darauf bestanden, sie sofort zum Arzt zu fahren, nachdem er die Wunde in ihrer Handfläche begutachtet hatte.

„Das muss genäht werden, Anne, außerdem brauchst du eine Tetanus-Auffrischung.“ Sie war so fassungslos gewesen über ihren Blackout, und über das, was sie gesagt haben sollte, dass sie sich ohne Gegenwehr zum Arzt hatte fahren lassen.

Jetzt saß sie hier im Wartezimmer und ihr Herz hämmerte wie der Bass einer aufgedrehten Stereoanlage. Anne fühlte, wie ihr Mund trocken wurde und der Schweiß aus allen Poren brach. Sie befahl sich ruhig zu werden, an eine schöne Landschaft zu denken, an einen Strand, an Raureif im Winter. Es gelang ihr nicht, stattdessen schreckte sie erneut auf.

Was war denn wohl noch geschehen während ihres Gedächtnisverlusts?

Hatte etwa sie selbst auch den Vogel weggeräumt? Vielleicht war es besser gewesen, dass sie Phil nicht danach gefragt und ihm nur eine abgespeckte Version ihres Unfalls erzählt hatte.

Für ihn war ihre verletzte Hand eine Folge ihres Auto-Unfalls, weil er gar nicht bis in ihre Küche gekommen war. Sie fühlte sich unehrlich Phil gegenüber – aber sie hätte seinen fragenden Blick, seine höflichen Antworten und schließlich seine Abwendung von einer so offensichtlich paranoiden Person nicht ertragen.

Diese Angst verschloss auch ihre Lippen – als sie der Arzt anteilnehmend fragte, wo sie sich denn diese böse Wunde zugezogen habe. Phil hatte ihr schließlich die Vorlage gegeben. „Ich hatte einen Autounfall und habe mich an der Scheibe geschnitten“, log sie schamlos. Der Arzt schrieb sie arbeitsunfähig, bis die Fäden gezogen würden.

Ihre Dankbarkeit für die kurze Verschnaufpause von der Redaktion und ihren emotionalen Herausforderungen war grenzenlos und sie beschloss, Phils Angebot, sie nach Hause zu fahren, nicht anzunehmen.

Der Spaziergang würde ihr guttun. Anne kaufte Briefumschläge, steckte das Attest in einen davon, versah ihn mit einer Briefmarke und schickte die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – nur die deutsche Sprache brachte solche Wortschöpfungen hervor, dachte sie in einem Anflug von Belustigung – mit der Post zum Tagblatt.