Anne fühlte sich, als hätte sie kein Auge zugetan, dabei hatte sie elf Stunden geschlafen. Ihre Glieder waren schwer, als hätte sie einen ganzen Tag lang Steine beschlagen. Ihr Zustand wäre am treffendsten mit „ausgewachsener Kater“ beschrieben, wunderte sie sich, doch sie erinnerte sich lediglich an das eine Glas Sekt in der Redaktion.
Das Männerhemd, das sie als Nachthemd benutzte, war klamm und das Bettlaken erinnerte an ein Küchentuch nach dem Abtrocknen von Bergen von Geschirr. Sofort eine heiße Dusche, dachte sie, verbummelte dann aber fast eine Viertelstunde mit der Suche nach einer geeigneten Plastiktüte, um den kunstgerechten Verband ihrer Hand zu schützen.
Das heiße Wasser vertrieb ihren Brummschädel beinahe, aber eben nicht ganz, und in der Hoffnung auf eine endgültige Wirkung föhnte sie ihre Haare ungewöhnlich lange. Sie überhörte daher das Klingeln des Telefons und horchte erst auf, als der Anrufbeantworter ansprang.
„Irene Reininger, schade, dass du nicht zu Hause bist, ich habe in der Redaktion angerufen und …“
Mit zwei Schritten war Anne am Telefon und nahm den Hörer ab. „Ich bin daheim, sagte sie, „ich war gerade unter der Dusche.“
„Du musst dich doch nicht rechtfertigen, eigentlich wollte ich nur hören, wie es dir geht, und da man mir beim Tagblatt sagte, du seiest krank, dachte ich an einen Besuch – aber ich möchte nicht unhöflich sein.“
„Nein, nein“, hörte sich Anne sagen, während sie prüfend ihre Wohnung musterte, „ich freue mich, wenn du kommst.“
„Ich muss noch Verschiedenes einkaufen, ist es dir in einer Stunde recht?“, fragte Irene und fügte nach Annes Zustimmung hinzu: „Mach dir nur keine Mühe, ich bringe Kuchen mit.“
Was bewog Gäste nur immer zu der Phrase mach dir keine Mühe, dachte Anne, während sie Staub wischte, den Boden saugte, frische Handtücher in die Toilette hängte, neues Klopapier in der Halterung befestigte und das Waschbecken putzte – kein leichtes Unterfangen mit nur einer Hand. War es einfach nur Gedankenlosigkeit?
Sie kannte das Phänomen schließlich zur Genüge, dass selten Besuch kam, wenn die Wohnung glänzte und fast immer, wenn Gläser oder Müslipackungen herumstanden oder Kleider über dem Sessel hingen.
Anne erinnerte sich unwillkürlich an einen weit zurückliegenden Besuch bei einem verehrten Lehrer, der auf ihre unausgesprochene Verwunderung über sein „kreatives Chaos“ kurzerhand erklärte: „Die Dinge sind für den Menschen da und nicht der Mensch für die Dinge.“ Sie war beschämt darüber, dass er ihr Erstaunen so schnell richtig interpretiert hatte, und hatte diesen Satz nie vergessen.
Soviel Persönlichkeit zu haben, musste sie gar nicht vortäuschen. Anne wusste, dass sie sich dem gesellschaftlichen Druck beugte, auch wenn sie sich darüber ärgerte. Sie überprüfte ihre Wohnung und versuchte, sie mit den Augen von Irene zu sehen, die an andere Dimensionen gewöhnt war. Nein, sie wollte nicht tauschen, nur zu gut erinnerte sie sich an das beklemmende Gefühl, das sie beim letzten Besuch empfunden hatte.
Anne war noch dabei, Teewasser aufzusetzen, als es schon klingelte. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und beschloss, dass sie in Leggins und ihrem weiten Pullover richtig angezogen war. Schließlich war sie hier zu Hause. Irene trug einen Mantel und ihr Regenschirm hinterließ eine kleine Pfütze auf dem Boden.
„So ein scheußliches Wetter.“ Sie schüttelte sich, nachdem sie Mantel und Schirm abgelegt hatte. „Aber, was ist denn mit deiner Hand geschehen?“ Mitfühlend strich sie über Annes Verband.
„Ich hatte einen kleinen Unfall, ich habe wohl ein Verkehrsschild zu genau inspiziert.“ Anne entschied sich für den gleichen lockeren Ton, sie hatte keinerlei Ambitionen, die Ängste des gestrigen Tages noch einmal zu durchleben. „Magst du vielleicht einen kleinen Sherry?“ Verlegen wand sich Anne vor Irenes intensivem Blick.
„Wäre schön, wenn ich nur nicht fahren müsste“, gab Irene zurück und räusperte sich. „Da ist noch etwas, was ich dich gerne fragen wollte, allerdings hat es sich – denke ich – bereits erledigt. Deine verletzte Hand wird es nicht erlauben.“ Sie legte ihre Stirn in angestrengte Falten. „Ich habe für nächste Woche ein kleines Abendessen geplant mit ein paar einflussreichen Freunden von Matthias und ich habe mir vorgestellt, dass du mir ein bisschen helfen könntest …“
„Das dürfte kein Problem sein.“ Die Antwort war Anne herausgerutscht, bevor sie nachdenken konnte. Natürlich war es ein Problem, ihre mäßigen Gastgeberqualitäten mit Irenes Professionalität zu messen, aber jetzt war es zu spät. „Die Fäden an meiner verletzten Hand werden schon in drei Tagen gezogen.“
„Das erleichtert mich“, erwiderte Irene, „es geht eigentlich auch nur darum, dass jemand ein bisschen Smalltalk mit den Gästen macht und ein paar Drinks einschenkt, während ich in der Küche bin.“ Anne fragte sich, ob Irene Gedanken lesen konnte. „Außerdem seid ihr beide ein so schönes Paar …“
Anne fühlte sich beklommen, sie war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie bereit war, bei einer solch offiziellen Einladung an Matthias‘ Seite stehen zu wollen.
„Bist du sicher, dass Matthias damit einverstanden ist?“, versuchte sie einen Einwand. „So sicher, wie man nur sein kann“, antwortete Irene und setzte graziös ihre Teetasse ab, „ich kenne meinen Bruder schließlich ein Leben lang.“
„Ich weiß nicht“, und Anne wusste in der Tat nicht, was sie hören wollte, „es geht schließlich um seine Zukunft und irgendwelche Bekanntschaften …“
„schließt Matthias nicht“, vollendete Irene Annes begonnen Satz. „Und ich würde dir dringend raten …“ Irenes Ton bekam jetzt etwas Drängendes. „… mir zu glauben. Wenn er dich anschaut, Anne“, sie lehnte sich zurück und schaute Anne aus zusammengekniffenen Augen an, „hat er das gleiche Glitzern im Blick wie als kleiner Junge, wenn ihm ein Spielzeug besonders gut gefallen hat …“
„Das genau ist der Punkt“, unterbrach sie Anne, „ich will mit Sicherheit nicht sein Spielzeug sein.“
„Bevor er es irgendjemand anderem auch nur für eine Minute überließ“, setzte Irene ungerührt ihre Erläuterung fort, „hat er es lieber zerstört.“
Anne schluckte, aber bevor sie zu einer Erwiderung anheben konnte, klingelte die Türglocke.
„Hast du keine Sprechanlage? – das ginge mir ein bisschen zu schnell“, sagte Irene mit schiefem Lächeln, als Anne mit drei Schritten an der Türe war und auf den Summer drückte und Anne musste ihr widerwillig rechtgeben. Sie war wirklich zu vertrauensselig – oder war ihre spontane Reaktion eher eine Flucht vor Irenes Bemerkung?
Sie hörte eilige Schritte – und da sah sie ihn schon. Er stand auf dem Treppenabsatz und schien das ganze Treppenhaus auszufüllen. Er trug Jeans und einen Pullover, doch auch die legere Kleidung tat seiner überwältigenden Präsenz keinen Abbruch. Anne hätte ihn – nicht viel mehr als drei Schritte von ihr getrennt – stundenlang anschauen können, doch da lag sie schon in seinen Armen.
Er drängte sie zurück in die Wohnung, schloss mit dem Ellenbogen die Flurtür und küsste sie. Zart und verhalten zunächst, doch dann immer fordernder und bestimmter. Als hätte die Sonne nur auf ihr Stichwort gewartet, schickte sie unvermittelt ihre Strahlen durch das Fenster und tauchte das Zimmer in helles Licht, in ein winterlich blasses zwar, doch umso spektakulärer, da es aus einem düsteren, wolkenverhangenen Himmel schien. Anne nahm die winzigen Staubpartikel, die im Licht schwebten, ebenso in sich auf wie Matthias‘ Augen, in denen kleine goldene Sprenkel tanzten.
Anne schien sich aufzulösen in dem Lichtstrahl, der nur Platz bot für Matthias und sie, jede andere Wahrnehmung ausschloss und die gesamte jenseitige Welt in undurchsichtige Schatten verwischte. Seine Küsse saugten jedes Gefühl für Zeit und Wirklichkeit auf und als die Konturen langsam wieder an Schärfe gewannen, kam es Anne so vor, als seien Stunden vergangen.
Auch Irenes Umrisse tauchten langsam wieder auf aus dem verwaschenen Zwielicht. Als eigentümlich statisches Bild war sie langsam wieder zu erkennen, so als hätte eine unsichtbare Hand einen Film plötzlich angehalten, ein hilfloses Lächeln auf ihren Lippen konserviert.
Matthias, der mit dem Rücken zum Zimmer gestanden hatte, drehte sich um, sah erst jetzt seine Schwester und in Bruchteilen von Sekunden wendete sich auf fast bizarre Weise die Szene: Während seine Bewegung gefror, kam Leben in Irene.
„Klapp den Mund wieder zu, lieber Bruder, du siehst nicht gerade geistreich aus.“ Sie zeigte mit dem Finger auf Matthias und richtete sich schließlich glucksend an Anne.
„Wir haben uns nicht verabredet bei dir – aber die Überraschung ist gelungen.“
„Wie kommst du hierher?“, fragte Matthias.
Irene wischte sich ungerührt die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Zunächst mit dem Wagen, und dann zu Fuß, ohne nachzufragen übrigens, dank deiner detaillierten Beschreibung. Dieses Haus ist wirklich sehr gelungen renoviert.“
Irenes Blick suchte den von Anne, während sie aufstand, Handschuhe und Handtasche nahm und sich zum Gehen wandte.
„Ich lasse euch jetzt besser allein.“ Ihr Heiterkeitsausbruch war ebenso schnell abgeebbt, wie er aufgebrandet war. Ohne ein Wort nahm Matthias den Mantel seiner Schwester von der Garderobe und half ihr hinein.
„Danke, dein Charme ist bezwingend.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, als sie zur Flurtür ging, war schwer zu deuten. Sie hatte die Klinke schon in der Hand, doch dann kam sie noch einmal zurück. „Vielen Dank für den netten Vormittag.“ Leicht strich sie Anne dabei über die Wange. „Diesen Kaninchen-vor-der-Schlange-Blick solltest du dir allerdings abgewöhnen, wenn du mit meinem Bruder auskommen willst.“ Kurz nickte sie auch ihm noch einmal zu und ging.
Anne stand wie angewurzelt und erst das Schlagen der Haustüre löste sie aus ihrer Erstarrung und machte ihr plötzlich auch körperlich bewusst, dass sie mit Matthias allein war. Sie fiel beinahe in seine Arme und unter seinen Küssen schien das Zimmer zu schrumpfen und sie einzuengen, bis sie keine Luft mehr bekam.
Angst durchzuckte sie wie ein Stromstoß und ließ in ihren Gliedern eine ähnliche Lähmung zurück wie nach einem solchen. Sie fühlte ihre Fußsohlen heiß werden und schaffte es mit fast übermenschlicher Anstrengung, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Das Wohnzimmer hatte seine vertraute Dimension. Vor Erleichterung, einer neuerlichen Halluzination entgangen zu sein, hätte sie fast aufgeschluchzt.
„Ist dir nicht gut?“ Sein Blick bohrte sich mit solch prüfender Intensität in den ihren, dass Anne sich für einen kurzen Augenblick in ihr mündliches Examen zurückversetzt fühlte. „Du bist ja verletzt!“ Erst jetzt bemerkte er den Verband an ihrer Hand und Anne registrierte mit überwältigendem Triumphgefühl, dass auch Matthias‘ Wahrnehmung eingeschränkt war von seinen Sinnesempfindungen. Das Bewusstsein ihrer Macht über ihn ließ sie beinahe übermütig werden.
„Nur ein kleines Missgeschick“, gab sie beiläufig zurück „nichts, was uns heute belasten sollte.“
„Der Verband sieht aber nach einem Fachmann aus, du musst also zumindest beim Arzt gewesen sein. Bist du deshalb heute nicht in der Redaktion? Die Dame an der Vermittlung wollte mir nichts Näheres sagen.“ Mit einem Stirnrunzeln ergriff er Annes verbundene Hand.
Statt einer Antwort strich sie mit kokettem Lächeln die Falten von seiner Stirn, entzog sich ihm aber flink, als er sie an sich ziehen wollte.
„Ich habe eine Spätlese im Kühlschrank für besondere Anlässe“, rief sie aus der Küche und stellte, ohne seine Antwort abzuwarten, die Flasche mit zwei Gläsern auf den Tisch. „Es ist doch ein reizvoller Gedanke, einen ganz normalen Arbeitstag mit einem lasterhaften Vormittag zu verbummeln“, sagte Anne lachend, als sie Matthias ein Glas eingoss.
Sie setzte sich ihm gegenüber auf die Couch, aber er ging nicht auf ihren leichten Ton ein. Er saß im Sessel, die Beine weit von sich gestreckt, den Blick aus dem Fenster gerichtet, ein Bild friedlicher Entspanntheit. Doch als er ihr den Blick zuwandte, las Anne Nachdenklichkeit in seinen Augen und – kaum wahrnehmbar – noch etwas anderes. Sie war sich nicht sicher, ob es Wut oder Schmerz war.
Gedankenverloren nippte er an seinem Wein, musterte die klare Flüssigkeit, als wollte er ein Gutachten über die Farbe des Weins abgeben und als er zu sprechen begann, erschrak Anne fast.
„Ich hatte einen Tyrannen zum Vater.“ Anne nickte und sagte etwas Mitfühlendes, aber er schien sie gar nicht zu hören. „Was ich auch tat, es war ihm nicht gut genug. Für ihn galt nur seine Naturwissenschaft und die bahnbrechende Formel, die seinen Ruhm, seine Fabrik und schließlich auch unseren Reichtum begründete. Mein Vater war ein brillanter Chemiker und ein lausiger Vater. Natürlich war es ein großer Coup, einen Kunststoff zu entwickeln und sich die Formel patentieren zu lassen. Wenn du eine Strumpfhose kaufst“, mit schiefem Lächeln schaute er Anne an, „fließen meiner Schwester und mir noch immer Tantiemen zu. Meine Mutter betete ihn an, und auch wenn sie sich immerhin bemühte, eine gute Mutter zu sein – zuerst kam ihr Ehemann und dessen Bedürfnisse. Sie war ein medialer, künstlerischer Typ und hat uns beiden unglücklicherweise ihre Talente vererbt, wenngleich Irene mehr von meinem Vater hat. Sie war immer die Willensstärkere … Ja, auch wenn du die Stirne runzelst, Anne – ich sage bewusst unglücklicherweise. Ich wäre ihm nur ein ernstzunehmender Sohn gewesen, wenn ich sein geistiges Erbe angetreten hätte. Ich muss allerdings einräumen, dass es meine Schwester noch schlimmer getroffen hat. Sie war diejenige, die lieber Chemie studiert hätte. Die Kunst und die Malerei gefielen ihr zwar, aber die Naturwissenschaften waren ihr Leben … Für meinen Vater kam es nicht infrage, seine Tochter in dieser Richtung zu fördern. Sie war eben nur ein Mädchen und er dachte nicht daran, ihr sein Lebenswerk anzuvertrauen … Ich erspare dir alle die Demütigungen, die wir beide erlebten und die bei mir dazu führten, genau das zu studieren, was mein Vater immer als spitzfindige Haarspalterei bezeichnete, nämlich Jura. Jeder Trottel kann ein paar Gesetze auswendig lernen, war einer seiner Lieblingssätze. Es war wohl auch verspäteter Trotz, der mich in die Politik trieb. Und als ich all das Gerangel und die Untergrundkämpfe hinter mich gebracht hatte – und glaube mir, die Politik, auch die Kommunalpolitik, ist tatsächlich so schmutzig, wie man ihr nachsagt –, und endlich die Nummer eins meiner Partei war, stand ich beim Parteitag auf der Bühne – und fühlte gar nichts. Am liebsten hätte ich laut gelacht über all die Dummheit, die mich schließlich in diese Position gehievt hatte.“
Matthias unterbrach seine lange Rede für einen Schluck aus seinem Glas.
„Die Nominierung zum Oberbürgermeister ist nur noch eine Formsache, denke ich, wenn man auch nie ganz sicher sein kann. Und du wirst sicher zugeben, dass die Nominierung bei der staatstragenden Partei in Bayern einem Blankoscheck gleichkommt.“
Matthias lachte trocken auf. Vielleicht hätte ich meinen Vater damit beeindruckt – der Oberbürgermeister einer 55.000-Einwohner-Stadt ist schließlich nicht irgendwer.“
Er schaute Anne erwartungsvoll an, doch sie war nachdenklich geworden. Da saß er nun, der Mann, der sie faszinierte und in seinen Bann zog wie keiner vor ihm und wartete auf ihren Beifall wie ein kleiner Junge. Auch wenn er die politische Szene herabwürdigte, er war ihr längst verfallen.
„Du hast mir in unserem Interview viel von deinen Reform-Plänen und den Gestaltungsmöglichkeiten erzählt“, begann sie, „aber hast du an die große Gefahr gedacht, die die Politik für einen Menschen darstellt?“ Jetzt räusperte sie sich und trank einen Schluck Wein. Sollte sie ihm ihre ehrliche Meinung sagen? Sie schwankte nur kurz. Immerhin ging es bei diesem Gespräch auch für sie um zu viel, um ihren Standpunkt nicht zu vertreten. „Ich kenne keinen, den der alltägliche Kampf um Mehrheiten, um Sympathie und Anerkennung nicht deformiert hätte.“
„Weißt du, Anne, mit Selbstzweifeln kommt man in diesem Gewerbe nicht weit. Man muss wahrscheinlich mit ständiger Ablehnung leben. Jeder, der Erfolg hat, produziert Neid und wird wütende Gegner hinterlassen. Man darf sich nicht davon umblasen lassen. Man muss auch damit leben können, wenn einer meint, du gingest über Leichen.“
„Es sind nicht die Gegner, die einen Politiker deformieren“ wandte Anne ein, „schon eher die permanente Sympathie, die ihm entgegengebracht wird – ganz gleich, ob geheuchelt oder echt. Irgendwann glaubt er selbst daran, dass er der tolle Hecht ist, wie es ihm die vielen Speichellecker vorgaukeln.“ Sie setzte kurz ab. „Ich erlebe es doch täglich. Am Anfang sind die Fraktionsvorsitzenden, Parteivorsitzenden und Stadträte ja noch bescheiden. Ganz langsam, wie durch die Hintertür, erwarten sie dann eine tägliche Erwähnung in der Presse und irgendwann kommt für die meisten unweigerlich der Zeitpunkt, an dem sie nahezu alles, was ihnen heilig sein sollte für einen lobhudelnden Pressebericht verkaufen würden.“
Matthias‘ Stirn umwölkte sich und Anne befürchtete schon, zu weit gegangen zu sein, aber er stand auf, setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Diese Befürchtung trifft für mich nicht zu“, sagte er leise, aber so überzeugt, dass Anne ihn verwundert ansah und als sie zu einer Antwort ansetzte, legte er ihr mit einem nur angedeuteten Kopfschütteln den Finger auf die Lippen, fasste sie mit beiden Händen an den Oberarmen und drehte sie zu sich herum, bis er sie voll ansah. Unter seinem unergründlich fixierenden Blick begann sie sich unbehaglich zu fühlen. Sie wand sich unter seinem festen Griff, doch er schien ihre Beklemmung nicht zu bemerken. „Ich werde weder meine Überzeugung, noch meine Frau verkaufen, jetzt, wo ich endlich beides gefunden habe.“ Er lächelte wie ein Satyr und Anne unterdrückte ihr Schaudern. „Du kennst doch auch Platons Philosophie, wonach in der Urzeit die Welt von engelsgleichen, ganzheitlichen Wesen bewohnt war, den Hermaphroditen …“
Matthias‘ lockeres Lächeln strafte seine eindringlichen Blicke Lügen.
„Die wurden dann von Zeus bestraft und in zwei Hälften gespalten. Daraus entstanden nach der Überlieferung die Menschen als Männlein und Weiblein und sollten sich zufällig die beiden sich ergänzenden Hälften einmal über den Weg laufen, dann würden sich diese erkennen und wieder ganz und gesund werden.“
Er ließ sie abrupt los, stand auf und ging einige Schritte zum Fenster und als er zurückkam, zog er Anne an den Händen hoch und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt.
„Was mich betrifft, habe ich meine Hälfte schon damals im Garten bei unserem Fototermin erkannt – und da jede Hälfte nur ein einziges Pendant haben kann, muss es dir genauso gegangen sein, Anne, meine einzige Liebe. Wir werden noch vor der Wahl heiraten.“
Anne fühlte ihre Knie nachgeben und gleichzeitig einen lauten Jauchzer in sich aufsteigen. Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn mitten auf den Mund.
„Ist das ein Ja?“, fragte er und Anne antwortete: „Wenn nur zwei Hälften ein Ganzes bilden können, ist doch kein Raum mehr für Fragen, wenn ich dich richtig verstanden habe.“
„Du sagst es!“ Er fasste Anne so fest am Handgelenk, dass sie erschrak. „Zwei Teile gedeihen nur als ein Ganzes, auf Gedeih und Verderb, für immer.“
Wie zwei Marionetten an unsichtbaren Fäden fanden sie den Weg in Annes Schlafzimmer und die Welt blieb kurzzeitig stehen, um sich dann in Annes Wahrnehmung in schwindelerregender Rotation immer schneller zu drehen, bis sie Trugbild und Realität nicht mehr auseinanderhalten konnte und wollte. Alles, was ihr bislang wichtig erschienen war, hatte seine Bedeutung verloren.