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„Entschuldige, Carla – ich habe dir nicht zugehört.“ Mit angespanntem Gesicht hob Phil die Augen von seinem Manuskript und schenkte Carla seine volle Aufmerksamkeit. „Dieser Bericht hier macht mich ganz fusselig, irgendetwas stimmt bei der Lackiererfirma nicht …“

„Ich habe gerade versucht dir zu erklären, dass du Anne von ihrer dummen Idee, heute schon wieder in die Redaktion zu kommen, abbringen solltest. Sie hat heute Morgen bei mir angerufen und sich alles andere als gesund angehört …“

„Ach, und wie kommst du darauf, ich könnte sie davon abhalten?“

„Weil du der Einzige bist, der Einfluss auf sie hat“, entgegnete Carla kleinlaut.

„Schlägt dir etwa das Gewissen? Du hast doch vorgestern erst getönt, dass du ein bisschen Entgegenkommen erwartest.“

„Na ja.“ Carla rieb sich verlegen die Nase. „Sie macht es einem ja auch wirklich schwer. Und du weißt ja selbst, dass Wieland nur auf den geringsten Ausrutscher wartet und so wie sie geklungen hat …“

Phil legte jetzt endgültig sein Manuskript zur Seite und griff zum Telefonhörer. Aufmerksam lauschte er dem Freizeichen und dem Klingelton am anderen Ende.

„Ich habe es läuten lassen.“ Bestimmt legte er den Hörer wieder zurück. „Entweder ist sie schon unterwegs, oder sie ist noch einmal eingeschlafen. Wir werden so oder so nichts daran ändern, wie sie sich entscheidet. Und jetzt schlage ich vor, du lässt mich weiterarbeiten.“

„Immerhin haben wir es versucht.“ Carla zuckte mit den Schultern, nahm Phils erledigte Manuskripte von seinem Schreibtisch und ging.

Erneut versuchte sich Phil an seinem Bericht. Das Ding war ein echter Knüller. Akribisch hatte er recherchiert nach der Demonstration vor dem Rathaus und war – weiß Gott – fündig geworden.

Es war gar nicht so leicht gewesen, so recht gewusst, was Sache war, hatte trotz der ganzen Betriebsbuschtrommeln letztlich keiner. Von Missmanagement war die Rede gewesen, aber alle hatten nur die üblichen Phrasen vom Stapel gelassen – bis auf einen. Und der war eine Goldgrube gewesen.

Phil beglückwünschte sich insgeheim zu seiner Idee, den bescheidenen Buchhalter, der die ganze Zeit den Mund nicht aufgemacht hatte, nach Feierabend zu einem Bier eingeladen zu haben. Und da war es aus ihm herausgebrochen. Sein ganzes Leben hatte er bei Moreno verbracht, immer der Steigbügelhalter für andere. Viel zu einflusslos, um groß Karriere zu machen, war er ständig übersehen worden. Aber was er erzählte, war reinstes Dynamit – nicht nur für die Firma, oh nein, vor allem für die Stadtverwaltung. Und – Phil kratzte sich nachdenklich am Kopf – auch für Wieland. Und hier war er genau an dem Punkt, an dem er Bauchschmerzen bekam. Er musste vorsichtig sein. Er las seinen Bericht noch einmal durch.

Nein – bisher konnte ihm noch niemand einen Strick drehen, auch Wieland nicht – aber er zögerte dennoch, den Artikel freizugeben.

Außerdem konnte er sich seit Carlas Störung nicht konzentrieren. Er hatte ja auch den Verdacht, dass Anne irgendetwas Ernsthaftes mit sich herumschleppte. Sie war schon eine geraume Zeit nicht mehr ganz sie selbst. Verdammtes Weib! Wütend warf er die Manuskriptblätter auf den Schreibtisch und drehte sich eine Zigarette. Wann bekam er es endlich in seinen Schädel, dass sie nichts von ihm wollte. Er spielte Sir Galahad, und sie war wahrscheinlich viel gerissener, als er dachte.

Phil stand auf und streckte sich, er war schon total verkrampft und würde sich erst einen Kaffee holen, beschloss er. Und heute Abend würde er sich das Archiv vornehmen. Er hatte ja ziemlich genaue Zeitvorstellungen von der Sauerei, die da in der Vergangenheit abgelaufen war.

Auf dem Flur hörte er Barbara mit Wolfgang kichern. Er setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl – nein für Albernheiten fehlte ihm gerade jeder Draht. Der Kaffee würde warten müssen. Hatte Anne Depressionen?

Er hatte sich mit dem Thema zwar noch nicht auseinandergesetzt, aber oberflächlich war ihm schon bekannt, dass es gerade solche Typen erwischt, von denen man es in aller Regel nicht annimmt. Trotz all ihrer Sturheit war sie doch immer darauf bedacht, um Himmels willen niemanden zu verletzen.

Es kam schließlich nicht von ungefähr, dass alle sie mochten, auch wenn sie selbst das offensichtlich am wenigsten zu begreifen schien.

Auf dem Gang war es wieder still geworden, Phil nahm seinen Kaffeebecher und ging zum Automaten. Auf halbem Wege änderte er seinen Plan. Carla hatte doch ein großes Herz und ihr Kaffee schmeckte einfach besser.

„Ich bringe morgen eine Tüte Kaffee mit, Carla, großes Ehrenwort!“ Phil hob drei Finger zu Carla, die gar nicht zu bemerken schien, dass er sich großzügig von dem Kaffee auf der kleinen Anrichte neben ihrem Schreibtisch bedient hatte, so vertieft war sie in den Text, den sie gerade abtippte und Phil war gerade an ihr vorbeigeschlichen, als er sie vor sich hin murmeln hörte: „Ich könnte einen Laden aufmachen mit all dem Kaffee, den du mir auf diese Weise schon versprochen hast …“

Phil beschloss, darauf besser nicht zu antworten und schloss leise hinter sich die Tür.

Anne saß an ihrem Schreibtisch, als er an ihrem Büro vorüberging und Phil hielt so abrupt in seinem Schritt inne, dass er einen Teil des heißen Kaffees verschüttete. Ein Spritzer verbrühte ihm die Hand und er stieß einen lauten Fluch aus. Er stellte seinen Kaffeebecher auf Annes Schreibtisch und rieb sich die Hand, doch sie starrte nach einem abwesenden Blick auf ihn weiter aus dem Fenster.

Phil ging auf die Herrentoilette und ließ kaltes Wasser über seine verbrühte Hand laufen und rief sich zur Ordnung: ‚Lass sie einfach in Ruhe‘, befahl er sich, ‚es ist doch offensichtlich, dass sie keine Lust auf einen Smalltalk hat‘. Doch unweigerlich fand er sich kurze Zeit später wieder vor ihrem Schreibtisch.

Anne hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schien ihn gar nicht zu bemerken. Phil sah, dass ihre verletzte Hand, die sie offenbar selbst mit Heftpflaster verklebt hatte, noch geschwollen war. Anne trug ein dunkelgraues Kostüm mit einem kurzen Rock, ein weißes T-Shirt und dunkle Strümpfe. Phil interessierte sich im Allgemeinen wenig bis gar nicht für Frauenkleidung. Ihm ging es immer mehr darum, was diese Kleidung hervorhob oder verbarg – und bei Anne betonte der kurze Rock ihre langen, schlanken Beine. Sie musste dünner geworden sein – oder war es nur ihr Outfit? Sie erschien ihm heute extrem zerbrechlich.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Der Arzt sollte doch eigentlich besser wissen, warum er dich so lange krankschreibt, was also soll dieser Anfall von plötzlichem Diensteifer?“, fragte er streng.

Anne nahm endlich die Hände vom Gesicht und bedachte ihn mit einem abwesenden Blick. Ihre Augen waren von dunklen Schatten umrandet und ihr Gesicht blass. Ihr Blick verriet, dass sie von einer langen inneren Reise zurückkam und nichts gehört hatte. „Du hast dir doch – weiß Gott – ein paar Ruhetage verdient, so hart wie du gearbeitet hast in letzter Zeit“, versuchte er es noch einmal.

„Meinst du ernsthaft, ich könne meinen vielen missglückten Anläufen zu vernünftiger Arbeit noch einen weiteren hinzufügen?“, sagte sie mit bitterem Auflachen.

„Wieland kocht auch nur mit Wasser“, knurrte Phil und Anne runzelte überrascht die Stirn.

„Was ist mit Wieland?“, wollte sie wissen.

„Das tut jetzt nichts zur Sache – ich muss mir erst sicher sein, dann werde ich ihn mir schon zur Brust nehmen“, antwortete Phil. Das fehlte ihm gerade noch, dass Anne in ihn drang und ihm Dinge entlockte, die er selbst noch nicht ganz klarsah. Und er wusste, wenn sie erst zu fragen begann, würde er reden. Sie hatte so eine unvergleichliche Art zuzuhören, die ihm das Gefühl gab, er sei das Wichtigste auf der Welt für sie.

Aber diese Sorge war überflüssig. Anne wirkte schon wieder völlig desinteressiert. Zerstreut blätterte sie in ihren Manuskripten, stand auf, setzte sich wieder.

Ihr Verhalten beunruhigte Phil jetzt wirklich. So unkonzentriert hatte er sie noch nie erlebt. Und er – was suchte er hier überhaupt?

Es war doch unverkennbar, dass sie ihn gar nicht beachtete. Er sollte längst wieder hinter seinem Schreibtisch sitzen.

„Kann ich dir helfen, Anne?“

„Oh Phil – entschuldige – wohl nicht mein höflichster Tag heute.“ Annes Lächeln war verzagt und Phil war sich sicher, dass sie seine Anwesenheit völlig vergessen hatte.

„Wie hast du denn das hier überhaupt geschafft?“ Sanft betastete Phil ihre verletzte Hand. „Und was war das überhaupt für ein Unfall? Ich bin neulich nicht recht schlau geworden aus deinen Erklärungen.“ Rasch entzog ihm Anne ihre Hand.

„Ich habe nach Wolfgangs Eröffnung neulich nur ein Verkehrsschild gerammt. Es hat nur meinen Kotflügel erwischt, nicht mich.“

„Und deine Hand? Sie musste immerhin genäht werden.“

„Ach das!“ Irrte sich Phil oder klang sie jetzt ein bisschen atemlos? „Da war ich nur ungeschickt mit meinem Brotmesser.“

Phil zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, doch Anne stand unvermittelt auf, ging zum Fenster und öffnete es. Ein eisiger Luftzug ließ Phil schaudern. „Es ist so stickig hier drin – ich bekomme fast keine Luft.“ Phil traute seinen Ohren kaum. Es war überhaupt nicht warm im Raum, die Heizung musste ziemlich heruntergedreht sein.

Phil beobachtete Anne, wie sie sich an ihrem Computer zu schaffen machte. Ihre kurzen Haare schienen länger geworden, auf der Stirn und im Nacken kräuselten sich feine Fransen. Wollte sie sich eine neue Frisur zulegen? Oder fehlte ihrem üblicherweise so perfekt gepflegten Kurzhaarschnitt ganz einfach der Besuch beim Friseur?

So lange Phil Anne kannte, hatte er dem Impuls widerstehen müssen, dieses dunkel glänzende Fell wenigstens einmal zu streicheln. Ihm war das dunkle Haar, das ihre Stirn und die hohen Backenknochen umrahmte, immer hocherotisch erschienen, er brauchte keine lange Wallemähne, um seine Hände darin zu vergraben. Sie war schon eine Rassefrau, dachte er zum hundertsten Male, genau der Typ, der auch im Alter noch schön sein würde.

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner Betrachtung. Anne griff so schnell nach dem Hörer, als ob sie kein zweites Läuten ertragen könnte.

Sie meldete sich kurz und knapp und Phil sah, wie sich ihr Gesicht verfinsterte. Es wurde noch eine Spur blasser als zuvor.

„Mein Gott, Mama, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dir nicht alles gefallen lassen sollst …“, hörte er sie mit gepresster Stimme antworten, nachdem sie eine ganze Weile zugehört hatte. „Bei einer Venenentzündung sollte man wirklich liegenbleiben – und – nein – ich komme nicht heim am Wochenende. Ich habe zu viel um die Ohren im Augenblick. Ich rufe dich heute Abend zurück, Mama, ich bin im Moment beschäftigt …“ Energisch legte sie den Hörer wieder zurück. „Puh – meine Mutter hat wirklich ein Händchen dafür, mich zum unpassendsten Zeitpunkt mit ihren Klagen zu überschütten.“ Aufsässig stand Anne auf, riss am Kragen ihres T-Shirts und zog den Blazer aus. Einige ausgeschnittene Zeitungsartikel wehten dabei vom Schreibtisch. Beide bückten sich gleichzeitig danach und stießen fast mit den Köpfen zusammen. Annes T-Shirt rutschte nach oben und Phil erstarrte.

Über ihren Rücken zogen sich dunkelrote Striemen, als wäre sie mit einem harten Ledergurt geschlagen worden. Vielleicht hätte er die Blutergüsse auf ihren Unfall zurückgeführt, aber die Verletzungen waren ebenso eindeutig wie ihr seltsames Verhalten. Tief errötend zog sie blitzschnell ihr T-Shirt wieder nach unten und griff nach ihrer Jacke.

„Wer hat dir das angetan?“ Phil fasste sie an beiden Oberarmen, und Anne zuckte mit einem leisen Klagelaut zusammen. Er lockerte seinen Griff und bemerkte auch an ihren Armen blauverfärbte Hämatome.

Phil fühlte, wie Zorn in ihm hochschoss. Am liebsten hätte er das Schwein, das für diese Misshandlung verantwortlich war, krankenhausreif geprügelt.

„Sag mir, wo du das herhast – und komm mir nicht mit irgendeiner lahmen Erklärung, du wärest gestürzt oder ähnlichem Schwachsinn“, fuhr er sie an.

Anne sank auf den Besucherstuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand. Beide Hände vors Gesicht geschlagen, zuckte ihr ganzer Oberkörper vor lautlosen Schluchzern und Phil wünschte sich in seiner Hilflosigkeit weit weg.

Die wirrsten Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Wo hatte Anne die vergangenen Tage tatsächlich verbracht und in welche Gesellschaft war sie nur geraten? War sie zuhause gewesen? Dunkel dämmerte in seiner Erinnerung ein Streitgespräch herauf, das sie in der Redaktion anlässlich einer besonders hässlichen Gerichtsverhandlung über häusliche Gewalt geführt hatten. Annes heftige Reaktion damals: „Ihr redet alle von Dingen, von denen ihr nicht die geringste Ahnung habt. Mich widert euer selbstgerechtes Faseln an“, hatte in ihm den Verdacht genährt, dass Anne von der Thematik besser Bescheid wusste als sie alle mit ihren Spitzfindigkeiten.

„Anne, lass dir doch helfen!“, probierte er es noch einmal, indem er ihr sanft die Hände vom Gesicht zog. „Ich weiß, dass ich mich wie ein Trampel aufgeführt habe, aber …“

Anne schüttelte heftig mit dem Kopf und Phil fühlte sich, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Die Zurückweisung, die in ihrem Verhalten lag, schmeckte wie bittere Galle. Sie wollte offensichtlich in ihrem Sumpf steckenbleiben. Er machte sich doch nur zum Narren. Brüsk stand er auf und ging.