Reglos starrte Anne auf die geschlossene Tür, ein Rechteck aus weiß gestrichenem Holz, das die Außenwelt ausschloss. Jetzt war also auch Phil unwiederbringlich verloren. Sie war allein auf sich gestellt. Sie empfand eine Art perverser Befriedigung, jetzt waren wenigstens die Dinge klar und eindeutig und sie wusste, wohin sie gehörte.
Die Welt bestand aus Licht und Schatten und ihre Heimat war das Dunkel. Hatten nicht alle Anstrengungen ihres Lebens am Ende das gleiche Ergebnis? Ihre Kraft reichte nicht aus, die schwarzen Seiten ihrer Persönlichkeit und der Umwelt in Schach zu halten.
Spätestens seit der vergangenen Nacht mit Matthias war ihr endgültig klar geworden, dass sie ihre Seele verkauft hatte. Es hatte dazu keiner großen Überredungskunst bedurft, gestand sie sich mit bitterem Auflachen ein. Sie hatte doch schon ihr ganzes Leben auf gerade dieses Pendant gewartet.
Die leise Stimme, die ihr vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft mit diesem Mann an eingeflüstert hatte, keine Wahl zu haben – zum ersten Mal schwieg sie. Mit einem Anflug von Trotz ging sie zu dem kleinen Spiegel, den sie hinter ihrer Garderobe angebracht hatte. Sie sah ihr blasses, übernächtigtes Gesicht, die schwarzen Ringe unter den Augen, ihren glanzlosen Blick. Ja, die Spuren der Nacht standen ihr gut, sie genoss die Tragik, die sie umhüllte wie ein graues Tuch. In diesem Empfinden fühlte sie sich daheim.
Sie stand in der Mitte ihres Zimmers, dessen Tür so selten geschlossen war, weil sie seine Enge bislang so schwer ertragen hatte. Von hier aus nicht mehr als ein großer Schritt zu ihrem Schreibtisch, zum Fenster, zur Tür, eine Besenkammer, wie ihre Kollegen zurecht gespöttelt hatten. Ihr angemessen eben. Zwischen den gebeizten Deckenbalken blätterte der Putz, ohne dass sie es bisher bemerkt hatte, die Fensterscheiben waren staubblind. Sie hatte die Augen verschlossen vor den Zeichen des Verfalls – jetzt konnte sie sie sich ansehen.
Phil stand für eine andere Welt, die der Morgensonne auf einer vom Tau nassen Wiese, des Murmelns eines Bachs und des Summens der Bienen an einem trägen Sommertag. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie Zugang gesucht zu dieser Welt – in den gestohlenen Stunden nach der Schule, als sie den Holzstapel auf der Wiese hinter dem Bauernhof ihrer Großmutter als Versteck entdeckt und sich dort eingerichtet hatte. Der Hackklotz war ihr Tisch, ein großes, rundes Holzscheit ihr Stuhl gewesen.
Aber auch damals schon war diese Idylle ein Traum gewesen. Die Realität, das waren laute Stimmen in der Küche, in den Stallungen, das Geräusch umgetretener Stühle und Schemel, Aggression und die gespenstische Ruhe, die ihr folgte. Ein Schluchzen war immer das Ende der Schlacht, die keiner gewinnen konnte. Auch in ihrer Kindheit hatte es sie hingezogen zum Schauplatz des Geschehens, war der Wunsch, ihrer Mutter, ihrer Großmutter beizustehen, fast übermächtig geworden. Doch die Angst hatte jedes Mal gesiegt und von Mal zu Mal ihr Schuldgefühl wachsen lassen.
Anne wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, versunken in ihre Betrachtungen und überwältigt von Erinnerungen. Draußen begann es zu dämmern – es wurde so früh dunkel in diesen Tagen – und sie bemerkte, dass es auf dem Gang still geworden war. Sie schaute aus dem Fenster und sah das weiße Licht der Straßenlaterne, reflektiert von milchigem Nebel. Sie hörte das Schlagen von Autotüren, Gelächter und das Starten eines Motors – Geräusche einer anderen Welt, Boten eines fernen Landes, durch eine unüberwindliche Grenze von ihr getrennt.
Ihr Herz raste und ihr Kopf dröhnte. Sie versuchte, sich dem Text zu widmen, der sich ihr so beharrlich widersetzte. Sie schrieb Sätze und wusste an deren Ende nicht mehr, wie sie sie begonnen hatte. Ständig drifteten ihre Gedanken ab. Mit fast übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr schließlich, den kleinen Zweispalter fertigzuschreiben. Sie griff nach ihrer Tasche, suchte zwei Aspirin und fand dabei das Rezept ihrer Gynäkologin. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass sie sich beeilen musste, es einzulösen. Die Apotheke würde gleich schließen.
Sie schluckte die Tabletten mit dem Rest des abgestandenen Mineralwassers, der noch vom Morgen auf dem Schreibtisch stand und machte sich auf den Weg. Sie überquerte die Straße einige Meter hinter der Ampel, die gerade auf Rot geschaltet hatte und wäre fast in ein Auto gelaufen. Wütendes Hupen und das Geräusch quietschender Bremsen begleiteten sie bis in die Apotheke hinein.
Anne hätte sich gerne an die einzige Frau gewandt, die sie hinter dem Tresen ausmachen konnte. Diese allerdings klärte ein junges Pärchen, dessen männliche Hälfte trotz eines gewagten rotgefärbten Irokesenkamms eher hilflos daneben stand, über den richtigen Gebrauch eines Schwangerschaftstests auf. Fehlte nur noch, dass der Junge Hahn heißt, dachte Anne in einer Aufwallung ihres alten Sarkasmus, bevor sich der schon etwas ergraute Apotheker ihr zuwandte. Er prüfte ihr Rezept so lange und gründlich, als wäre es eine Examensarbeit.
„Ihre Ärztin hat zweimal das gleiche Antibiotikum verordnet“, stellte er in einem Tonfall fest, der wohl fürsorglich sein sollte und Anne warf einen hastigen Blick zurück auf die kleine Menschentraube, die sich inzwischen angesammelt hatte. „Einmal als normale Version und einmal als Vaginalzäpfchen. Das ist kein Versehen, oder?“
„Nein, das ist schon in Ordnung so“, antwortete Anne ein wenig atemlos. Sie spürte ihren Nacken heiß werden, während sie eilig zahlte und die Apotheke verließ.
Sie musste an die besorgten Ermahnungen ihrer Gynäkologin denken, während sie heimwärts fuhr. „Gewalt beim Sex ist ein Teufelskreis“, hörte sie sie sagen, „er entwickelt seine eigene Dynamik. Was vielleicht noch mit einem gewissen Kick beginnt, endet meist tragisch und ist sehr gefährlich. Sie sollten diese Beziehung genau überprüfen.“