Der Regen, der von einem zornigen Wind den ganzen Tag lang an die Scheiben gedrückt wurde, hatte aufgehört. Es war dunkel geworden – aber war es heute überhaupt einmal hell gewesen? – fragte sich Anne, als sie über den fast leeren Parkplatz zu ihrem Auto ging. Dafür war es jetzt neblig. Die Straßenlampen waren nur noch als diffuse Lichtquelle auszumachen. Das Wetter passte zu diesem Tag, die schmutzig-graue Suppe kam ihrer Stimmung fast gelegen.
Sie beobachtete es immer öfter in letzter Zeit, dass heller Sonnenschein ihren trostlosen Zustand noch verstärkte, als müsse sie sich dann besonders anstrengen, den Erwartungen die normale, glücklichere Menschen an einen solchen Tag stellen, gerecht zu werden, was sie völlig erschöpfte. Etwas weniger Nebel hätte sie sich heute allerdings gewünscht. Sie würde es nicht schaffen, in zehn Minuten bei den Reiningers zu sein, wie sie Irene noch vor zwei Minuten am Telefon versichert hatte. „Es gibt nichts Besonderes“, hatte Irene versprochen, nur ein Chili con Carne und etwas Salat – zehn Minuten sind ideal.
Die Aussicht auf einen Abend am Kamin mit dem Mann, der sie heiraten wollte und freundschaftliches Geplänkel mit Irene hätte sie doch eigentlich fröhlich stimmen sollen, aber Anne fühlte sich gerädert.
Die Nacht mit Matthias hatte wieder nur Angst zurückgelassen und der anonyme Brief hatte sie verstört. Eigentlich wollte sie sich nur noch zu Hause verkriechen, um nachzudenken. Aber ein Nein ließ Irene nicht gelten und ihr fehlte ganz einfach die Kraft dazu, der bestimmenden Energie ihrer neuen Freundin eine Absage entgegenzusetzen. Ob Irene von der destruktiven Anlage ihres Bruders etwas wusste?
Sie ließ ihr Auto an und überlegte, wann sie wohl mit einigem Anstand und dem Verweis auf Kopfschmerzen gehen konnte. Aus purer Gewohnheit legte sie eine neue CD ein, doch die Klänge von Mozarts heiterem dritten Violinkonzert verstärkten ihre Nervosität eher noch. Anne drehte die Musik ab und fühlte sich jetzt völlig isoliert, fernab jeder menschlichen Nähe. Ein irrationales Gefühl, gestand sie sich ein – und wahrscheinlich nur auf den dichten Nebel zurückzuführen.
Die Straße wurde jetzt enger. Hatte sie die Abzweigung verpasst? Sie fand sich plötzlich auf der Landstraße wieder und konnte gerade noch rechtzeitig eine Linkskurve ausmachen und das Steuer herumreißen. Scheinwerfer kamen geradewegs auf sie zu und sie lenkte buchstäblich in letzter Sekunde nach rechts. Lebensgefährlich, was sie da trieb, dachte sie. Der Nebel schluckte jeden Laut und sie hatte jetzt völlig die Orientierung verloren. Irgendwo musste sie doch wenden können. Sie befand sich offenbar auf der Straße nach Bad Königshofen.
Von hinten näherte sich ein Wagen. Sie würde abbremsen und den Fahrer überholen lassen, so könnte sie sich wenigstens bis Üchtelhausen an den Wagen anhängen. Sie fuhr nur noch etwa 30 Stundenkilometer, und der Fahrer war fast auf ihr Auto aufgefahren, bevor er zum Überholen ansetzte. Anne meinte fast zu hören, wie er „Idiot“ oder eine andere Schmeichelei dieser Art ausstieß.
Sie bremste noch etwas weiter ab, aber der Fahrer überholte nicht. Er blieb lediglich dicht hinter ihr und kam immer näher. Er musste ebenso schlecht sehen wie sie, dachte Anne und ihr Herz klopfte bei dem Gedanken, dass sie womöglich einen Unfall provoziert hatte. Sie ahnte schon den unvermeidlichen Zusammenprall, als sich der PKW wieder zurückfallen ließ, um dasselbe Manöver zu wiederholen. Ihr wurde fast schlecht, als sich nicht mehr verdrängen ließ, dass der Fahrer hinter ihr all dies mit Absicht tat. Wollte er sie in den Straßengraben drängen? Sie konnte den Gedankengang nicht beenden, ohne einen Panikanfall zu provozieren. Ganz ruhig befahl sie sich – doch der Fahrer attackierte sie von Neuem, und wieder und wieder. Sie gab Gas und hörte, dass ihr Handy klingelte. Wenn sie doch ihr Mobiltelefon nur zu fassen bekäme, aber mit einer Hand in ihrer Tasche zu suchen, war zu riskant. Wie eine Rettungsinsel sah Anne plötzlich die Abzweigung nach Weipoltshausen mit dem aufgelassenen Parkplatz auf der linken Seite auftauchen. Sie bremste, bog nach links ab und holperte über einen Laubhaufen, bis sie auf dem Schotter des Waldparkplatzes zum Stehen kam. Gehetzt schaute sie zurück – das fremde Fahrzeug war verschwunden.
Anne blieb reglos sitzen, das Klingeln ihres Handys hatte aufgehört. Langsam setzte das Zittern ein. Zuviel Adrenalin, dachte sie und empfand es als widersinnig, dass sie zwar glasklar denken, aber sich nicht rühren konnte. Sie musste auf der Stelle umkehren, machte sie sich klar. Der Verrückte konnte zurückkehren, aber sie schaffte es nicht. Sie war noch nicht einmal in der Lage, ihr Handy zu bedienen.
Anne wusste nicht, wie lange sie so saß, im Wageninnern begann es kalt zu werden. Frieden wünschte sich Anne, warum konnte sie nicht für alle Zeit so sitzen. „My car is my castle“, fiel ihr als Abwandlung die englische Redensart ein. Warum eigentlich nicht hier sterben. Sie hatte ihr Leben schon lange nicht mehr im Griff – und was sie erwarten würde, wenn sie Matthias heiratete, wusste sie inzwischen. Auf Dauer würde das genauso todbringend, wie ihn zu verlassen. Es wäre so einfach, das Kohlenmonoxid des Auspuffs ins Innere zu leiten. Aber dazu fehlte ihr der Mut.
Als es an ihre Scheibe klopfte, war jeder Überlebensinstinkt aus ihr gewichen. Sie erwartete alles und nichts mehr. Die Autotür wurde geöffnet, und vor ihr stand eine junge Streifenpolizistin mit Brille und Pferdeschwanz.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte sie und Anne musste einen hysterischen Lachanfall unterdrücken. Nichts war in Ordnung, aber das würde die junge Polizistin nicht verstehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass neben der Polizistin ihr alter Bekannter, ihr ganz spezieller Freund bei der Polizei, aufgetaucht war. Er hatte flüchtige Ähnlichkeit mit dem Dorfpfarrer ihrer Kindheit, stellte sie heute fest, die gleichen roten Bäckchen, der gleiche leichte Bauchansatz. Warum war ihr das nicht schon bei ihrer letzten unseligen Begegnung aufgefallen?
„Haben Sie wieder einmal jemanden überfahren?“, fragte der Polizist sarkastisch.
„Nein“, antwortete sie resigniert, „man hat mich verfolgt und ich bin von der Straße abgekommen.“
„Darüber werden wir noch reden müssen“, antwortete er distanziert, „dürften wir bitte Ihre Wagenpapiere sehen?“ Während Anne im Handschuhfach suchte, sah sie, dass die Polizistin auf der anderen Seite ihres Wagens mit der Taschenlampe ihr Fahrzeug begutachtete.
Anne reichte dem Polizisten ihre Fahrzeugpapiere. „Ich habe nicht getrunken“, beeilte sie sich in Erwartung des unvermeidlichen Alcotest-Röhrchens zu versichern.
„Na, dann haben Sie auch nichts zu befürchten“, erwiderte die junge Frau.
„Wir begleiten Sie auch gerne zu einem Arzt.“
Die Drohung hinter diesem Satz war unüberhörbar und Anne beglückwünschte sich im Nachhinein, nicht auf Christians Angebot auf einen kräftigen Drink zum Redaktionsschluss eingegangen zu sein. Christian schien die vielen Hochs und Tiefs seines exaltierten Lebens auch nur mit der Tröstung des Alkohols ertragen zu können und in den zurückliegenden Tagen hatte sie sich dieser Philosophie nur allzu gerne angeschlossen.
„Ist Ihr Wagen überhaupt noch fahrtüchtig?“, ließ sich der ältere Polizist jetzt vernehmen, während er mit einer Handbewegung seiner Kollegin zu verstehen gab, ihre Gerätschaften wieder zu verstauen.
„Man wollte mich umbringen“, antwortete Anne stattdessen, als sei ihr die Tragweite der erlebten Attacke erst jetzt aufgegangen.
„Dazu kommen wir später – jetzt fahren Sie erst einmal Ihr Auto zur Seite. Sie können es ja morgen abholen. Ich denke, Sie sind nicht mehr fahrtüchtig.“ Überrascht schaute ihn Anne an. Klang da so etwas wie Mitleid aus seinen Worten? Und mit einer unerwartet sanften Geste, die sie nie hinter ihm vermutet hätte, dirigierte er sie in den Fond seines Dienstwagens. „Wir fahren Sie nach Hause“, sagte er, „das gibt uns dann gleich Gelegenheit, ein Protokoll aufzunehmen.“
„So, nun erzählen Sie mal, begann der Polizist, „Sie sind also im Nebel von der Straße abgekommen.“
„Nein“, wehrte sich Anne, „so war es nicht.“
„Ein heller Kleinwagen, vielleicht ein Polo oder Golf, versuchte mich zu rammen und abzudrängen, er ließ sich immer wieder zurückfallen und …“
„Haben Sie die Nummer dieses mysteriösen Fahrzeugs?“, unterbrach sie der Polizist.
„Er hatte bei dem Manöver das Licht ausgeschaltet“, erinnerte sich Anne – und die kaltblütige Absicht, die dahinterstand, ließ sie noch nachträglich schaudern. Sie verstummte.
„Haben Sie etwa auch wieder einen Schatten von links gesehen?“, kam die zynische Antwort und als Anne nicht antwortete setzte der Polizist begütigend hinzu. „Ihre Nerven sind mehr als überreizt. Sie sollten meinen Vorschlag, einen Arzt aufzusuchen, wirklich annehmen. Wir bringen Sie jetzt nach Hause, Sie trinken etwas Warmes und morgen sehen Sie weiter.“
Seine Stimme war fast väterlich geworden. „Also kein Unfall“, bemerkte er, während er seinen Block zuklappte.
Er glaubt mir nicht, dachte Anne resigniert. Wie sollte er auch? Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage kam sie ihm jetzt mit einer mehr als fantastischen Story – und in dem warmen, sicheren Auto hörte sie sich selbst für sie unwahrscheinlich an.
Die ganze Situation erschien ihr jetzt grotesk und der Argwohn, den sie inzwischen jedem Menschen und jedem Ereignis entgegenbrachte, fraß sich in ihre Gedanken.
Wo war die Polizei denn so plötzlich hergekommen. Waren die Beamten gerufen worden wegen ihres auffallenden Fahrstils? Zu viele Fragen – und sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
Müde registrierte Anne, dass sie inzwischen links zum Deutschhof einbogen. Der Eingang zu ihrem Haus war hell erleuchtet und auf der Treppe, im Gespräch mit ihrer Nachbarin, standen Matthias und Irene Reininger und erwarteten sie.