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Die Sitzung des Stadtrates ging nun schon in die vierte Stunde. Anne verließ ihren Platz und setzte sich mit ihrem Block auf einen der vielen freien Plätze auf den Zuhörerrängen. Sie hatte längst aufgehört, sich darüber zu wundern, dass nicht mehr Bürger Interesse zeigten an der Verwendung ihrer Steuergelder.

Sie hatte Mühe, dem Geschehen zu folgen. Es war müßig herausfinden zu wollen, ob es am überheizten Raum lag oder an ihrer inneren Spannung. Der Schrecken des gestrigen Abends wirkte noch immer nach und die Angst trübte ihren klaren Blick wie ein zäher Fettfilm. Dazu kam ein eigentümliches Gefühl von Scham, das sich nicht verdrängen ließ, heute im diffusen Licht des Wintertages ebenso wenig wie in der Nacht, die kein Ende zu nehmen schien. Hatte sie sich zu oft und zu auffällig bedankt für Matthias‘ sichtlich geäußerte Sorge, war er misstrauisch geworden?

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Die Sitzung heute durfte sie nicht verderben, sie war vielleicht ihre letzte Chance, einem drohenden Rausschmiss beim Tagblatt zu entgehen.

Der Drang aufzustehen und dem widerlichen Spektakel narzisstischer Selbstdarstellung, das sich „Jahresabschlusssitzung“ des Stadtrates nannte, den Rücken zu kehren, wurde übermächtig. Ihr Humor, mit dem sie früher – in einem anderen Leben offenbar – solche Veranstaltungen glossieren konnte, war ihr längst abhandengekommen. Dennoch bewunderte sie die Souveränität, mit der Oberbürgermeister Dr. Hasselfeld die Sitzung leitete und den jetzt dritten Beitrag zum gleichen Thema mit dem Satz kommentierte: „Können wir vielleicht jetzt zu einer Einigung kommen – oder wollen Sie sich vorwerfen lassen, dass zwar schon längst alles gesagt ist, aber noch lange nicht von allen.“ Sie stellte sich Matthias an seiner Stelle vor und war sich ziemlich sicher, dass er diese Gelassenheit nicht aufbringen würde.

Fast hätte sie vor Schreck aufgeschrien, als sie Frank Bohland, Rechtsanwalt und Jungstar der Grünen-Fraktion, von links ansprach. Sie hatte ihn weder kommen sehen, noch bemerkt, als er sich neben sie setzte. „Wir haben noch einen Antrag vorbereitet“, raunte er ihr mit verschwörerischem Lächeln ins Ohr. „selbstverständlich wird ihn die Mehrheitsfraktion abschmettern, aber vielleicht interessiert sich ja das Tagblatt dafür?“

Anne war dankbar, dass lautstarke Zwischenrufe sie einer Antwort enthoben. Ein schwaches Nicken war das Äußerste, was ihre angespannten Nerven zuließen. Sie würde sich zusammennehmen müssen, um den Bericht nicht zu verpatzen.

Anne ließ ihren Blick über die Gruppe von Matthias‘ Parteifreunden gleiten. Morgen fand also das kleine intime Essen bei den Reiningers statt. Sie hätte einiges darum gegeben, fernbleiben zu können.