43

„Sollen wir Sherry als Aperitif anbieten?“ Irene saß mit der Sherrykaraffe in der Hand auf dem Boden vor den geöffneten Türen des Esszimmer-Schrankes und begutachtete die Auswahl an edlen Kristallgläsern, die sie um sich herumgestellt hatte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und runzelte die Stirn.

„Ist Sherry nicht eher etwas für ältere Ladies beim Tee? Ich denke, dass gestandene Männer Martinis vorziehen, es sei denn, du willst sie mit dieser erlesenen Karaffe beeindrucken.“ Anne stand mit einer Zigarette an der geöffneten Terrassentür; sie hatte den ganzen Nachmittag schon nach einem Nikotinstoß gegiert und nicht gewagt, sich eine anzuzünden.

„Du hast recht.“ Irene räumte die Gläser wieder zurück in den Schrank.

„Der Aufwand wird wahrscheinlich sowieso nicht honoriert.“ Sie ging in die Küche. „Vor allem haben wir uns jetzt erst einmal einen Kaffee verdient.“

Der Aufforderung kam Anne nur allzu gern nach. Sie fühlte sich wohl in Irenes Gegenwart, was sicher auch damit zusammenhing, dass Matthias in der Stadt zu tun hatte. Sie hatten Geschirr gespült, Salat geputzt, Pasteten vorbereitet, gescherzt und einträchtig geschwiegen und Anne stellte wieder einmal fest, dass körperliche Arbeit die beste Medizin gegen Grübelei und Anspannung war.

„Jetzt sag nur nicht, du hättest aus Rücksicht den ganzen Tag hier drinnen nicht geraucht. Du solltest ganz einfach sagen, was du willst, Anne.“ Resolut stellte Irene einen Aschenbecher neben Annes Kaffeetasse.

„Eine Nichtraucherin wie ich merkt natürlich nicht, dass dir etwas fehlen könnte. Und ein Kaffee wird für Raucher doch erst mit einer Zigarette perfekt, habe ich mir sagen lassen. Ist das so?“

„Nun, ganz so süchtig bin ich nicht.“ Dankbar zündete sich Anne aber doch eine neue Zigarette an und nahm einen Schluck Kaffee. Er war heiß und stark, verfeinert mit einer Prise Zimt.

Überraschend blitzte die Sonne durch die Wolken und schien durch blankgeputzte Scheiben direkt in Irenes Gesicht. Sie rückte ihren Stuhl etwas zurück und streckte die Beine weit von sich. Und hier in der anheimelnden Stimmung der Küche, umgeben von Töpfen und Schüsseln, beschloss Anne Irene alles zu erzählen. Wer eignete sich besser für einen objektiven Rat. Sie mochte sie, das spürte Anne, und hatte die nötige Distanz.

Und sie musste dringend mit jemandem reden. Alles einfach nur einmal formulieren, um Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen. Ja, Irene war die geeignete Person. Anne atmete tief ein und begann zu erzählen: Von ihrem missglückten Start beim Tagblatt, Wielands Mobbing, Wolfgangs Übergriff, den Zwischenfall mit den Graffiti, von ihrer Beschuldigung Wolfgangs, an die sie sich nicht erinnerte, ihrem eigenartigen Unfall und der Reaktion der Polizei. Ihre persönliche, ungesunde Beziehung zu Matthias ließ sie aus. Vielleicht war Irene dafür dann doch nicht die richtige Ratgeberin.

„Wenn du diese ganzen Hintergründe jetzt im Zusammenhang siehst mit dem Mordanschlag auf der Straße – nicht mehr und nicht weniger war nämlich diese Attacke – und dem toten Vogel, hat es doch offenkundig jemand ganz schön auf mich abgesehen“, schloss Anne ihren Bericht.

Ohne sie zu unterbrechen, ja nahezu regungslos, hatte Irene zugehört, obwohl sich die verschiedensten Facetten wechselnder Mimik auf ihrem Gesicht abgezeichnet hatten: Ungläubigkeit, Zweifel ebenso wie Anteilnahme und Zorn. Jetzt rückte sie ihren Stuhl näher an den Tisch und sah Anne ernst an.

„Was ist denn eigentlich aus dem Vogel geworden? Tut mir leid, Anne – ich habe nicht mehr daran gedacht. Du Arme, hast ihn schließlich doch alleine entsorgen müssen.“

„Er war weg, als ich heimkam …“

„Wie – einfach nicht mehr da?“

Anne hörte den Zweifel aus Irenes Worten und ihr wurde klar, wie absonderlich sich das anhören musste. Außer ihr hatte ja keiner den Vogel gesehen. Und sie hatte auch keine Erklärung dafür, wo er geblieben war. Natürlich glaubte ihr Irene nicht. Wie sollte sie auch. Sie wusste ja selbst nicht, was mit ihr geschah.

„Vielleicht solltest du einfach einmal eine Weile ausspannen – du hast in deinem Beruf bestimmt mehr gegeben als jeder andere. Und Mobbing ist eine üble Geschichte.“ Mitfühlend griff Irene über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Anne, eine Geste, die ihr sofort die Tränen in die Augen trieb. Sie versuchte, sie wegzublinzeln, aber Irene hatte sie schon gesehen.

„Schwäche zeigen ist nie ein Weg, glaube mir, Anne. Und du bist stärker als du meinst. Und jetzt arbeiten wir weiter, wir haben noch eine Menge zu tun.“ Irene zog ihre Hand zurück und räumte die Kaffeetassen ab. Hinter ihren Bewegungen steckte eine Energie, die Anne ihren eigenen Mangel umso deutlicher fühlen ließ.