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Anne legte letzte Hand an ihr Make-up, als sie die Haustürglocke hörte und die Stimmen der ersten eintreffenden Gäste. Sie zwang sich zur Ruhe. Keiner erwartete von ihr, dass sie die Gäste begrüßte, ermahnte sie sich. Dies war immer noch Irenes Aufgabe als Hausherrin. Sie legte noch etwas Abdeckstift auf, um die dunklen Ringe unter ihren Augen zu verbergen, schminkte sich die Lippen und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Ihr dunkelblaues Etuikleid saß nicht mehr ganz so knapp wie das letzte Mal, als sie es getragen hatte. Die Ereignisse der vergangenen Wochen hatten offenbar auch an ihrem Gewicht gezehrt. Nun – dieser Effekt sollte ihr recht sein.

Sie hatte dieses Kleid gewählt, weil es lange Ärmel hatte und die Spuren der letzten Nacht verbarg. Aus dem gleichen Grund trug sie ein winziges, silbergraues Nickituch im Ausschnitt. Sie schlüpfte in ihre Stilettos und betete, dass sie nicht allzu lange würde stehen müssen.

Warum tat sie dies eigentlich? Sie war doch Matthias in keiner Weise verpflichtet. Hatte er sie hypnotisiert oder verhext? Das würde zumindest die maßlose Sogwirkung erklären, die er auf sie ausübte. Sie wunderte sich über sich selbst, dass sie jetzt wieder in der Lage war, derartige Fragen zu stellen. Der entspannte Nachmittag mit Irene hatte anscheinend bewirkt, dass sich ihre Lebensgeister wieder regten. Allerdings sagte ihr eine innere Stimme, dass es nicht so einfach sein würde, sich aus Matthias‘ Klammergriff zu befreien. Sie hatte noch seine Stimme im Ohr, die ihr in der vergangenen Nacht leicht, fast spielerisch ins Ohr geflüstert hatte: „Du solltest nicht einmal daran denken, mich jemals zu verlassen. Das tust du doch auch nicht – oder? Weißt du, ich würde dich überall finden.“

Sie hörte erneut die Türglocke. Es wurde Zeit, sich dem Abend zu stellen. Leise schloss Anne die Tür und ging hinaus.

An der Haustür standen Irene und Matthias mit einer Gruppe von Männern. Anne erkannte lediglich Rossol, den Besitzer der florierenden Altenheime.

Irene nahm ihm gerade Hut und Mantel ab und Matthias schüttelte einem etwa vierzig Jahre alten, sehr großen und sehr blassen Mann mit blondem Haar enthusiastisch die Hand. Anne kannte sein Gesicht flüchtig von verschiedenen Presseaufnahmen, konnte ihn jedoch noch nicht einordnen.

Der Mann neben ihm war etwa so groß wie Matthias, wirkte aber aus irgendeinem Grund viel kleiner. Er hatte eine salbungsvolle Stimme und eine beginnende Glatze, die er mit einer von einem Seitenscheitel ausgehenden akkurat gekämmten Frisur zu verbergen suchte. Er trug eine Weste unter seinem Anzug und seinen Hut noch in der Hand und war Anne spontan von Herzen zuwider.

Sie war so nervös wie bei ihrem allerersten Pressetermin und zögerte auf dem oberen Treppenabsatz. Matthias musste sie gehört haben. Abrupt ließ er die Hand seines Gegenübers los und wandte sich um. Wie auf ein geheimes Stichwort flogen jetzt alle Köpfe herum, die salbungsvolle Stimme des Gastes mit dem Hut verstummte und Anne las nackte Gier in dem Blick, mit dem er ihre Beine musterte. Sie vermutete, dass er zu der Gattung Mann gehörte, die im Laufe eines Abends erst ihre Hüte, dann die Manieren und schließlich alle Hemmungen ablegten.

Matthias ging zwei Schritte in ihre Richtung und hielt dann unvermittelt inne. Sein Blick musterte sie prüfend und – als wäre er mit dem Ergebnis einverstanden – nickte er leicht, fasste sie am Ellenbogen und führte sie zu seinen Gästen.

Irene stand – noch immer mit Hut und Mantel Rossols in der Hand – wie angewurzelt und beobachtete sie beide. Als sie Annes Blick begegnete, legte sie den Hut auf die Garderobe und hängte den Mantel auf einen Bügel.

„Anne, darf ich dir Herrn Felix Arnheim vorstellen, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes und unentbehrliche Stütze unserer Partei.“ Der bleiche Mann verbeugte sich leicht und drückte Anne die Hand mit so festem Griff, dass sie sich beherrschen musste, nicht die Finger zu spreizen, als er losließ. Zumindest sein Händedruck ist nicht farblos, dachte Anne und begrüßte Rossol, der Matthias‘ Vorstellung mit einem wiehernden Lachen und der Feststellung: „Wir kennen uns bereits“, unterbrach.

„Dr. Albrecht Beitz ist dir als Kreisvorsitzender unserer Partei sicher ein Begriff“, setzte Matthias seine Vorstellung fort und Anne fühlte sich erneut unangenehm berührt von dem wissenden Lächeln, mit dem Beitz sich mit einem angedeuteten Handkuss über ihre Hand beugte.

„Ich darf voraussetzen, dass Sie alle Frau Michel kennen“, warf Matthias in die Runde und fügte, als Anne ihn fragend ansah, hinzu: „Eine so bemerkenswerte junge Dame beim Tagblatt ist nun mal von öffentlichem Interesse.“

Die Bemerkung klang ironisch und Anne fühlte sich gedemütigt. Gehörte das auch zu einem ihr noch unbekannten Spiel? Sie war dankbar, als Irene die Gäste wie einen Schwarm Hühner in das Esszimmer scheuchte. Dort saßen bereits eine etwas behäbige Dame in Lodenkostüm, mit Brille und Dauerwelle – die ehemalige Landtagsabgeordnete Maria Lederer, wie Anne schnell erfuhr – und ein junger Mann mit Akne und Hornbrille, dessen hervorstechendstes Merkmal ein sehr beweglicher Adamsapfel war. Er nahm für die Junge Union an der Zusammenkunft teil und hieß Tobias Litzel.

Sie hatten bei der Vorbereitung am Nachmittag improvisiert und die Anrichte im Esszimmer als Bar hergerichtet und Anne war erleichtert, dass ihre Hände endlich eine sinnvolle Aufgabe bekamen. Sie mixte Cocktails und beobachtete Matthias und seine Parteifreunde. Er trug einen dunklen Anzug mit grauem Roll-kragenpullover darunter, plauderte witzig und charmant und ließ Anne nicht aus den Augen.

Er beherrschte die Kunst des Small-Talks meisterlich und Anne fühlte sich vage an einen Dirigenten erinnert, der den Einsatz seiner Musiker koordiniert. Ebenso konzentriert lauschten die Gäste jedem einzelnen seiner Worte.

Anne wünschte sich jetzt, sie hätte sich besser auf ihre Aufgabe vorbereitet, damit Matthias keine Fehler hätte korrigieren müssen. Auch wenn er seine Anmerkungen „vielleicht ein Fingerhut mehr Gin“ oder „noch einen winzigen Löffel Eis“ locker und lachend vorbrachte, verrieten sie sie doch als Amateurin. Sie fühlte sich schon jetzt total verkrampft und der Abend hatte noch kaum begonnen.

Irene dagegen schien nicht auf ein imaginäres Heben des Takt-stocks warten zu müssen. Sie kannte ihren Einsatz. Sie ging, in einem langen, dunkelblauen Samtrock, einer hochgeschlossenen weißen Spitzenbluse, mit einer Kamee am Kragen als einzigem Schmuck, die Haare hochgesteckt, zwischen den Gästen umher und fragte nach deren Befinden. Sie wirkte wie einer Fotografie der Jahrhundertwende entstiegen und ein wenig einschüchternd. Nichts mehr erinnerte an die junge Frau in Jeans vom Nachmittag – aber vielleicht war die Distanz, die sie zu Matthias‘ Parteifreunden aufbaute, auch gewollt. Anne jedenfalls fühlte sich neben ihr wie eine Hausangestellte.

Gesprächsfetzen flogen durch den Raum. Das Lachen, die Heiterkeit wichen jedoch allmählich einer zunehmenden Dringlichkeit, bis schließlich alle murmelnd und mit ernsten Mienen mitten im Raum zusammenstanden.

Anne drängte sich das Bild von Eishockeyspielern auf, die sich kurz vor Spielbeginn zusammenrotten, um sich auf ihren Einsatz einzustimmen, sich gegenseitig Mut zusprechend. „To go in a huddle“, nannten das die Engländer.

Sie hörte ihr unbekannte Namen, erfuhr etwas über die Überzeugungsarbeit, die noch zu leisten sei, von detaillierten Aufträgen, die an Einzelne vergeben wurden – und dennoch erlebte sie die Szene wie im Nebel, mit Matthias‘ Gesichtsausdruck, seinen Augen, die fortwährend die ihren suchten, als einzigem Fokus. Er war unbestreitbar das Alphatier der kleinen Versammlung, der Leitwolf des Rudels, um den sich alle, einem Naturgesetz folgend, scharten. Noch vor wenigen Tagen hätte sie der Gedanke, dass sich der Souverän einer Gruppe, der Führer, dem sich alle unterordneten, in sie verliebt hatte, berauscht und euphorisch gemacht. Heute fühlte sie sich beklommen, fast erdrückt.

Einmal mehr kam ihr der Raum zu eng vor, das prasselnde Kaminfeuer empfand sie als bedrohlich. Sie trank bereits ihren zweiten Martini, doch der Alkohol versagte ihr heute seine entspannende Wirkung. Das Gefühl von Atemnot wollte nicht weichen. Sie ging in die Küche zu Irene.

„Eine ziemlich verschworene Gemeinschaft.“

„Ein Haufen Speichellecker, die das Terrain für ihre eigenen Pfründe sondieren – Söldner, die dem Meistbietenden ihre Stimmen verkaufen.“

Irenes Stimme verriet bei diesem Urteil keinerlei Leidenschaft. Mit zielstrebigen Bewegungen füllte sie Pastetenmasse in den vorbereiteten Blätterteig.

„Aber sie sind doch von Matthias Fähigkeiten überzeugt …“

„Geht es in der Politik um Fähigkeiten? – Du scheinst ja tatsächlich noch ein paar Ideale zu haben, Anne. Matthias braucht ihre Unterstützung für seine Nominierung und dafür werden sie ihr Honorar sehr bald einfordern.“

„Ich denke aber doch, dass Matthias in Schweinfurt etwas bewegen will – warum sollte er sonst sein angenehmes Leben gegen den stressigen Job eines Oberbürgermeisters eintauschen?“

„Deshalb braucht er die Gesellschaft Schweinfurts ja auch. „Gibst du mir bitte etwas Petersilie? – wir sollten die Pasteten schnell auftragen, bevor sie kalt werden.“ Irene drückte Anne ein Tablett in die Hand und ging mit strahlendem Lächeln und schwungvollen Schritten ins Esszimmer.

Es braucht nicht viel, um vermeintlich hochkultivierte Wesen wieder auf Steinzeitniveau zurückzuwerfen, dachte Anne, als die Gespräche verstummten und sich die Gäste mit hoher Konzentration ihrer Pastete widmeten, nur Minuten später als die Platten angerichtet waren. Aufmerksam rückte ihr Matthias den Stuhl an seiner rechten Seite zurecht und legte ihr eine Pastete vor. Das Weinglas füllte er ihr, formvollendet höflich, mit Wasser aus der Karaffe.

Anne fühlte sich befremdet. Bin ich aus Glas für ihn, schoss es ihr durch den Kopf, er scheint meine Verfassung besser zu kennen als ich selbst. Merkt man mir die zwei Drinks etwa so sehr an? Sie versuchte, unauffällig ihre Pastete zu essen, ein schwieriges Unterfangen – zumal sie Matthias fortwährend in den Mittelpunkt spielte. Sie bemühte sich, an den richtigen Stellen zu lächeln und nichtssagende Bemerkungen zu machen und stand zum richtigen Zeitpunkt auf, um Irene anrichten zu helfen. Und sie setzte sich offenbar auch korrekt wieder hin, denn die von ihr befürchtete Blamage blieb aus.

Es geschah erst beim Nachtisch, und Annes Part bei den sich überschlagenden Ereignissen war verhältnismäßig gering.

Sie hatten die Teller abgetragen und Anne hatte sich, während Irene diese mit flinken Fingern in die Spülmaschine räumte, eine schnelle Zigarette angezündet.

„Das Schlimmste wäre geschafft“, bemerkte Irene und schenkte sich und Anne Kaffee aus den vorbereiteten Wärmekannen ein. „Wir haben ohnehin zu viel gekocht“, meinte sie. „Es ist einfach schon zu spät für eine höhere Dosis Koffein. Außerdem gibt es noch Eis und Sahne und heiße Himbeeren.“

„Wir sollten sowieso langsam machen“, sagte Anne, „kein Mensch kann nach dieser Völlerei gleich wieder an Nachtisch denken.“

„Ich glaube, du irrst dich“, warf Irene ein, „ich kenne solche Gesellschaften. Sie werden schon jetzt darauf warten.“ Damit drückte sie Anne ein Tablett mit kleinen Schälchen für den Nachtisch in die Hand und öffnete ihr die Tür zum Esszimmer.

„Wir müssen alle Eventualitäten ausloten“, dozierte Dr. Beitz gerade, während Anne die Schälchen verteilte.

„Besser wir beschäftigen uns jetzt mit allen unangenehmen Fragen, bevor sie ein anderer zum unpassendsten Zeitpunkt stellt“, schloss sich die Dame im Trachtenkostüm an und Felix Arnheim fügte hinzu: „Sind denn die bösen Gerüchte um die angeblichen Altlasten, die dein Vater der Firma Moreno hinterlassen haben soll, ausgeräumt?“

Matthias saß mit unbewegtem Gesicht am Kopfende des Tisches, nur das Trommeln seiner Finger auf das Tischtuch verriet seine Nervosität.

Irene war mit einem Tablett, auf dem Vanilleeis mit Minzblättern und Puderzucker dekoriert war, beschäftigt, als Rossol, von dem den ganzen Abend lang nicht viel zu hören gewesen war, eine Frage stellte, durch die Irenes perfektes Gastgeberimage einen entscheidenden Riss bekam.

„Überhaupt Moreno“, ließ sich Rossol vernehmen, „böse Zungen behaupten, sein Tod komme dir sehr gelegen. Seiner Popularität hättest du nicht viel entgegensetzen können – und seine Nominierung war bei den Liberalen schon fast abgemacht.“

Das Tablett glitt Irene aus den Händen, landete auf dem Tisch und riss die Wasserkaraffe mit zwei Weingläsern zu Boden. Das Glas zerschellte in viele kleine Splitter. Im gleichen Augenblick klingelte die Haustürglocke.

Matthias schnaubte und unterdrückte nur mit Mühe eine bissige Bemerkung. Er stürmte an Anne vorbei in den Flur, und Irene folgte ihm unter vielen Entschuldigungen. Anne brachte das verrutschte Eis notdürftig wieder in Ordnung, unterstützt von so hilfreichen Bemerkungen wie, dass Scherben schließlich Glück brächten und Glück und Glas leicht brächen.

Sie ging zum Schrank, um neue Gläser zu holen und maß dem Anschwellen des Gemurmels in ihrem Rücken keine besondere Bedeutung bei. Aber als sie sich umwandte, hätte sie fast die nächsten Scherben verursacht. Im Türrahmen standen Matthias, der eine blitzschnelle Verwandlung von einem aufgebrachten Choleriker in einen strahlenden Gastgeber vollzogen hatte, Irene mit geröteten Wangen und Kurt Falser – ihr vertrauter Kollege Kurt, mit grauem Anzug und Krawatte und mit Besen und Schaufel in der Hand.

„Ich habe mich verspätet“, begann er, während seine Augen über die Runde flogen, „wahrscheinlich …“ Das Ende seines begonnenen Satzes sollte niemand mehr erfahren, denn als er Anne sah, verstummte er und wurde blass, als habe er einen Geist gesehen.

„Wie kommst denn du hierher?“, stammelte er und bemerkte kaum, dass ihm Irene Besen und Schaufel aus der Hand nahm.

„Ist es dir so unangenehm, mich zu sehen?“, gab Anne zurück.

Mit einem etwas unbeholfenen Lächeln kam Kurt näher und gab Anne die Hand.

„Nein, das nicht, ich bin nur überrascht. Ich dachte, der heutige Abend sei eine strategische Besprechung und noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.“ Sein Blick richtete sich fragend auf Matthias.

„Eigentlich wollten wir damit noch ein bisschen warten“, gab dieser zurück und legte dabei seinen Arm um Annes Schultern. „Aber bevor die Spekulationen ins Kraut schießen …“ Dabei sogen sich seine Augen an Annes Blick fest. „… teilen wir es euch allen besser gleich mit. Anne ist in keiner anderen Eigenschaft als der meiner zukünftigen Frau heute Abend anwesend. Sie gehört also gewissermaßen zur Familie. Sind damit deine Befürchtungen gebannt?“, fragte er Kurt direkt.

„Glückwunsch“, antwortete der zu Anne gewandt, „offensichtlich habe ich dich unterschätzt, du erkennst eine Gelegenheit, wenn sie sich bietet.“

Anne fühlte sich, als hätte sie ein Pferd mitten in den Magen getreten. Die Verachtung, die in Kurts Worten lag, verletzte sie ebenso wie Matthias‘ Überrumpelung und sein harter Griff, mit dem er ihren Oberarm festhielt. Sie wollte nur noch fliehen und nahm die lauten Glückwünsche, die ihnen beiden von allen Seiten entgegengebracht wurden, nur verschwommen wahr.

Irgendwann verebbte das Gelächter und Matthias ließ sie endlich los. Verstohlen rieb sie ihren schmerzenden Arm und flüchtete in die Küche.