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„Tja, liebe Anne, Takt war noch nie die Stärke meines Bruders, er kann wie eine Dampfwalze über andere Menschen hinwegfahren, wenn es ihm in den Kram passt. Niemand weiß das besser als ich.“

Irene lehnte mit verschränkten Armen an der geschlossenen Küchentür. Ihren Blick konnte Anne nicht so recht deuten. War er schadenfroh oder mitleidig? In Anne regte sich Widerspruch.

„Du machst nicht den Eindruck, als littest du unter seinem Charakter.“

„Und auch du wirst dich arrangieren“ sagte Irene fest. Ein feines Lächeln glitt über ihre Lippen, „wenn ich Kurt richtig verstanden habe.“

„Du meinst also auch, ich sei so etwas wie eine Glücksritterin, die eine gute Gelegenheit beim Schopfe packt“, fuhr Anne auf.

„Touché – das habe ich wohl verdient!“, gab Irene zurück und setzte sich Anne gegenüber. „Nein, das meine ich nicht – ich bin davon ausgegangen, dass du Kurt und seine zuweilen schneidende Ironie auch so gut kennst wie ich.“

Anne hörte die Esszimmertür schlagen und kurz darauf erschien Matthias in der Küche. „Wo bleibt Ihr beiden denn – man möchte uns zusammen sehen, Anne“, fragte er, mit gerunzelter Stirn und höchst vorwurfsvoller Stimme.

Irene winkte ab und Anne kaute noch an einer Entgegnung, als er wieder zu seinen Gästen zurückging. Sie stand auf und goss sich ein Glas Wasser ein. „Warum ist eigentlich Kurt heute Abend da?“, fragte sie. „Soweit ich weiß, fürchtet er parteiliches Engagement gleich welcher Art wie der Teufel das Weihwasser.“

„Kurt ist ein alter Freund von uns, wir kennen uns seit vielen Jahren“, antwortete Irene. „Sowohl Matthias als auch ich haben uns in unserer gemeinsamen Studienzeit auf seinen Rat verlassen, wenn etwas Entscheidendes anstand.“

„Ihr habt zusammen studiert?“, fragte Anne verwundert. „Warum hat er nie etwas davon erwähnt?“

„Warum sollte er?“, antwortete Irene schroff. „Es geht schließlich niemanden etwas an.“

„Aber er wäre dann doch der Geeignetste gewesen, ein Portrait über Matthias zu schreiben“, insistierte Anne, „geradezu prädestiniert dafür.“

„Und wegen seiner Befangenheit hätte ihm niemand abgenommen, was er geschrieben hätte. Du bist noch nicht lange hier, die Bürger in Schweinfurt können durchaus Zusammenhänge erkennen. Und jetzt gehen wir wirklich zurück zu den anderen.“

Anne schaute Irene ein paar Sekunden lang an und nickte, entschlossen, der Gesellschaft den Rücken zu kehren, wann immer sich eine Gelegenheit bieten würde. Sie hatte Stoff zum Nachdenken für Tage und war durcheinander. Wobei dieser Begriff wohl die Untertreibung des Jahres ist, dachte sie.

„Eine Verlobung mit allem Drum und Dran noch vor der Nominierung wäre da durchaus hilfreich …“, hörte Anne Dr. Beitz sagen, als sie zurückkam. Sein anzüglicher Blick maß sie von Kopf bis Fuß. Ich komme mir vor wie eine preisgekrönte Zuchtstute, dachte sie. Daran änderten auch Matthias‘ abbittender Blick und seine liebevolle Geste nichts, mit der er ihre Wange streichelte, als er ihr den Stuhl neben sich zurechtgerückt hatte. Kurts Augen folgten Irene, als sie mit außergewöhnlicher Eleganz ihm gegenüber Platz nahm.

Die Lagebesprechung war offensichtlich schon leicht durchtränkt von Alkohol, die Bemerkungen wurden seichter, das Gelächter wurde lauter. Kurt hatte sich vollkommen ausgeklinkt, sein Augenspiel hielt stumme Zwiesprache mit Irenes Blick und Anne fragte sich zum wiederholten Male, was zwischen den beiden wirklich vorging. Irenes Erklärung hatte etwas lahm geklungen. Matthias hatte seine Hand auf die von Anne gelegt und sie wünschte sich, sie hätte etwas anderes dabei empfunden als diese vage Beklemmung, die sie schon den ganzen Abend begleitete.

Irgendjemand fragte nach Musik und Anne ergriff die Gelegenheit, zum CD-Player zu gehen, zumal weder Matthias noch Irene Anstalten machten, aufzustehen. Sie fand eine wohlsortierte Sammlung von Klassik, sämtliche Wagner-Opern, Mahler, aber auch Brahms und Beethoven. Nicht das Richtige für eine zwanglose Einladung, dachte sie, und nahm sich die umfangreiche Kollektion alter Langspielplatten vor. Eine wahre Fundgrube verschiedenster Musik offenbarte sich ihr, und sie bedauerte, nicht jede einzelne der Platten hören zu können. Sie fand leichte Klassik wie Rossini-Ouvertüren und frühe Mozart-Symphonien, Ravels Bolero, aber auch Nat ‚King‘ Cole und Leonard Cohen. Offenbar hatte sich der Geschmack der Geschwister Reininger gravierend verändert, wenn sie richtig interpretierte, dass die Schallplatten aus deren Jugendjahren stammten.

Sie wählte die LP mit den Ouvertüren – die schmissige Musik Rossinis war ein idealer Background – als ihr Blick auf eine Platte mit dem Titel „The Best of Simon and Garfunkel“ fiel. Sie liebte die sensiblen Songs der beiden, fühlte sich seelenverwandt ihrer unterschwelligen Melancholie. Anne steckte die Rossini-Platte zurück in ihr Cover und nahm stattdessen die von Simon and Garfunkel heraus.

Die Schutzhülle auf Cellophan schien völlig neu und auch die Platte selbst sah absolut ungebraucht aus. Sie glänzte nach all den Jahren noch so tiefschwarz, als wäre sie erst frisch aus der Presse gekommen. Nicht der geringste Fingerabdruck deutete darauf hin, dass sie jemals gehört worden war. Im Gegensatz zu ihren eigenen Platten, die leider gerade an bei ihren Lieblingssongs oft Kratzer zeigten, weil sie ganz einfach zu oft gespielt worden waren. Nun, ich habe eben Ecken und Kanten, dachte sie.

Anne war seltsam befangen und zweifelte. Sollte sie tatsächlich etwas auflegen, das aus irgendeinem Grund auch früher schon nicht angekommen war? Vielleicht doch besser Rossini, beschloss sie und schob die Platte wieder zurück. Dabei traf sie auf einen geringen Widerstand. Sie betastete das Papier und erspürte einen kleinen weißen Zettel, der in der Schutzhülle steckte.

Matthias, meine einzige Liebe, las sie, geschrieben in einer fast noch kindlichen Handschrift. Sie kam sich vor, als läse sie ein fremdes Tagebuch und konnte doch nicht widerstehen. Nur du weißt, dass ich der „Bridge over Troubled Water“ nicht nur sinnbildlich geglichen habe – und ich war einverstanden. Aber ich kann nicht mehr. Ich werde es schon irgendwie schaffen. Ein Kind bedeutet schließlich Leben, auch für mich.

Emily Dickinson drückt es besser aus, was ich fühle – obwohl ich nicht glaube, dass du den Gedichtband gelesen hast. Es ist besser für uns beide, wenn ich dich verlasse. Viel Glück, Regina.

Anne stopfte den Zettel zurück, als hätte sie sich daran verbrannt und steckte die Schallplatte wieder ins Regal – gerade rechtzeitig, denn Matthias stand neben ihr. Wie lange schon? Hatte er bemerkt, was sie gelesen hatte? Mit großer Kraftanstrengung gelang ihr ein Lächeln, obwohl ihr Herz hämmerte, dass sie seinen Schlag wie dumpfen Trommelwirbel in den Ohren hörte.

„Du hast ja eine beeindruckende Plattensammlung“, presste sie heraus und hörte selbst, wie unecht ihre Bemerkung klang. „Ich würde gerne einmal hineinhören.“

„Das kannst du gerne“, gab er zurück, „wir haben noch so viel Zeit.“

Es klang verheißungsvoll und Anne lauschte auf einen falschen Ton. Sie musste sich zusammennehmen, dass ihr Misstrauen nicht auffiel.

„Komm zurück an den Tisch“, flüsterte er ihr zu. „Wir werden versuchen, die ganze Meute loszuwerden, bevor der erste unter den Tisch fällt.“

Anne folgte ihm widerstandslos. Die Gespräche am Tisch drehten sich inzwischen um Parteifreunde und ihre kleinen und größeren Affären. Wäre Anne nicht so beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen gewesen, hätte sie sich über die Häme, die aus vielen Bemerkungen sprach, gewundert. Sie zwang sich, mit nichtssagenden Antworten an dem Gespräch teilzunehmen und anscheinend machte sie tatsächlich an den richtigen Stellen die passenden Bemerkungen, denn das Geplauder plätscherte weiter.

Aber ihre Gedanken überschlugen sich, und ein schrecklicher Verdacht nahm Gestalt an. In dem Zeitungsartikel, den sie in Irenes Küchenschrank gefunden hatte, war der Vorname der jungen Frau, die ihren inneren Verletzungen erlag, mit R. abgekürzt gewesen. Sie musste sich Klarheit verschaffen. Am liebsten wäre sie sofort aufgestanden und hätte nach dem Emily-Dickinson-Gedichtband gesucht.

Die ehemalige Abgeordnete gähnte inzwischen und auch der Junge mit den Aknenarben blinzelte angestrengt den drohenden Schlaf weg.

Rossol verwies als Erster auf den Aufbruch. „Es reicht Freunde“, dröhnte er, „wir müssen wieder früh aufstehen morgen.“

„Halt – so einfach geht das nicht! Wir haben noch nicht die geringste Terminplanung“, hielt ihm Beitz vor. „Terminkalender auf den Tisch, wir machen jetzt Nägel mit Köpfen. Weiß der Himmel, wann wir wieder zusammenkommen.“ Aufgescheucht folgte die Runde seiner Anweisung, Litzel von der Jungen Union blinzelte nicht mehr und auch Matthias war plötzlich hellwach.

Das konnte dauern, dachte Anne und sah ihre Chance gekommen, zumal auch Irene in einem vertraulichen Gespräch mit Kurt vertieft schien. Mit der Entschuldigung, zur Toilette zu gehen, huschte sie hinaus. Matthias schien sie nicht gehört zu haben.

Mit schnellen Schritten hetzte sie in Matthias‘ Zimmer. Sie würde so schnell keine Gelegenheit mehr haben, dort zu suchen. Den Bücherschrank im Wohnzimmer konnte sie sich immer noch vornehmen.

Matthias‘ Zimmer war spartanisch möbliert. Ein Ledersessel vor einem Schreibtisch, eine Wand mit Büchern und ein riesiges Bett. Hinter der Tür befand sich ein begehbarer Kleiderschrank mit unzähligen Anzügen. Wie eitel er doch ist, dachte Anne, der jetzt erst bewusst wurde, dass sie zum ersten Mal das Zimmer des Mannes sah, der heute Abend verkündet hatte, sie heiraten zu wollen.

Auf dem Nachttisch stand das Foto einer Schönheit mit aufgesteckten, schwarzen Haaren, gekleidet im Look der 50er-Jahre. Matthias‘ Mutter, folgerte Anne und durchsuchte mit fliegenden Fingern die Bücher in der Schrankwand. Sie fand Anthologien und Biografien, einen Fotoband mit Wüstenbildern, James Joyces „Ulysses“ und Niccolo Machiavellis „Der Fürst“. Matthias war sichtlich kein Mann für Gedichte, resümierte Anne.

Sie hörte Türenschlagen unten und wollte schon aufgeben, als ihr zwischen einem Straßenatlas und einem Fotoalbum ein kleines Buch in die Hände fiel. Es war gebunden in rotes Leder. Sein Titel „Ich öffne jede Tür dem Morgenrot“ war in gotischen Lettern in Gold geprägt, die Unterzeile „Emily Dickinson – Gedichte“ klein, bescheiden.

Anne blätterte, fand jedoch keinen Brief. Enttäuscht wollte sie es wieder auf seinen Platz stellen, als sie auf der vorletzten Seite zwei Gedichte fand, die mit schwarzem Filzstift unterstrichen waren.

„Ein Zauber kleidet ein Gesicht,

nur undeutlich geseh’n. –

Die Dame hebt den Schleier lieber nicht,

Aus Furcht, er könnt vergeh’n –

sie späht nur durch die Maschen –

Und sehnt sich – und verwehrt –

Damit die Nähe nicht – den Wunsch zerstört –

Den das Bild – erfüllt.“

Das zweite Gedicht trieb Anne die Tränen in die Augen, so sehr fand sie auch ihre eigenen Gefühle in den Zeilen ausgedrückt:

„Wasser wird durch Durst gelehrt;

Land durch überquerte Ozeane,

Entzücken durch Leid,

Friede durch Schlachtengetümmel,

Liebe durch Grabesschimmel,

Vögel durch Schnee.“

Anne fühlte sich tief berührt von den Worten der Dichterin, eine unbestimmte Trauer erfasste sie. Welch eine Verschwendung, dachte sie, eine Frau, die mit ihrer Andersartigkeit nicht in das Klischee des 19. Jahrhunderts passte, jene Epoche, die es sensiblen Frauen nicht vergönnte, ihr Leben zu leben und die Liebe auch ohne Grabesschimmel zu erfahren.

Sie war jetzt überzeugt davon, dass der Gedichtband von jener mysteriösen Regina stammte, die ebenfalls ihr Leben nicht leben durfte. Nachdenklich stellte sie das Buch zurück und nahm sich vor, gleich morgen einen Band dieser wortgewaltigen Dichterin zu kaufen, als sie Rufe hörte.

„Anne – wo um alles in der Welt steckst du?“, kam von unten Matthias‘ Stimme, gefolgt von dem Geräusch seiner die Treppe hocheilenden Schritte. Sie hörte die Türen zum Gästezimmer und zum Bad schlagen.

Anne hielt den Atem an.

Einem Reflex gehorchend hastete sie hinter den Vorhang und wieder zurück. Das war absolut lächerlich. Wenn sie hier stehenblieb, konnte sie immerhin sagen, sie wäre nur neugierig gewesen – wenn sie sich aber hinter dem Vorhang verbarg, gar nichts. Aber sie kannte Matthias inzwischen. Die Gewalt, die folgen würde, wollte sie sich nicht ausmalen.

Sie erreichte gerade noch den Wandschrank, als Matthias die Türe öffnete. Sie hörte ihn umhergehen und lauschte durch die dünne Schranktür auf seine Atemzüge, bevor er sich umwandte und die Tür wieder schloss.

Seine Schritte entfernten sich, und Anne begann vor Erleichterung zu zittern. Sie setzte sich in Bewegung, spähte auf den Gang und sah ihn leer. Sie hastete hinunter und durch die Haustüre in den Garten. Es gelang ihr gerade noch, ein paarmal tief zu atmen als schon die ersten Gäste zusammen mit Matthias und Irene aus der Türe traten.

„Hast du mich nicht rufen gehört?“, fragte er beiläufig, während er seine Parteifreunde verabschiedete und Anne hoffte, dass er ihre Ausrede von den Kopfschmerzen und der dringend benötigten frischen Luft glaubte. Sie klapperte mit den Zähnen – vor Kälte – wie er, dem Himmel sei Dank, offensichtlich vermutete. Anne ließ die üblichen Abschiedsfloskeln an sich vorbeirauschen und brachte es irgendwie fertig, sich lächelnd von den angetrunkenen Besuchern zu verabschieden.

Es musste ihr gelungen sein, denn Kurts lapidares „bis morgen“ ließ keinen Argwohn erkennen. Sie bezweifelte allerdings, dass er sie überhaupt bemerkt hatte, nachdem er es offenbar nicht schaffte, Irenes Hand loszulassen. Anne hatte keine Lust, ihm zu erklären, dass sie morgen nicht in der Redaktion wäre.