„Du warst wunderschön heute Abend.“ Matthias‘ Hand glitt langsam über ihren Oberschenkel und Anne wünschte, er würde sie am Steuer belassen. Es war doch noch gar nicht lange her, als eine solche Geste ihren Unterleib zum Schmelzen gebracht hatte.
„Fast könnte ich darüber vergessen, dass du versucht hast, mich auszuspionieren – aber nur fast.“ Seine Stimme war streichelzart.
„Du trägst einen eigenwilligen Duft – wie heißt das Parfum? – Es wird noch lange in meinem Zimmer hängen.“ Seine Finger kniffen hart in die empfindliche Haut der Innenseite ihres Schenkels und Anne schrie auf.
„Was hofftest du denn zu finden? Frauenleichen wie bei Blaubart?“ Sein Lachen war hart und ungut.
In Anne regte sich Widerspruch. „Ich habe lediglich die Tür verwechselt. Ich dachte nicht, dass es tatsächlich ein Geheimnis um dein Zimmer gibt, aber da du es jetzt so betonst …“
„Meinst du nicht, dass es möglich sein könnte, dass wir beide unser Leben genau jetzt neu beginnen?“, fragte er so sanft, dass Anne die Brutalität seiner Berührung grotesk erschien.
„Ohne Wurzeln ist eine Beziehung nicht lebensfähig“, antwortete sie bestimmt. „Und wir wissen eigentlich so gar nichts voneinander.“
„Wir wissen, dass wir aufeinander gewartet und uns endlich gefunden haben. Ist das nicht genug? … Ich dachte, dir geht es genauso wie mir.“
Anne hörte den drohenden Unterton. Nur keinen Verdacht erregen, dachte sie. „Und ich glaubte nicht, dass du daran Zweifel hast. Du wirkst nicht wie ein Mann, der zweifelt.“
„Da hast du absolut recht – und du solltest es nie vergessen.“
Sie waren vor ihrer Wohnung angekommen und Anne verabschiedete sich endgültig von der Hoffnung, allein sein zu können, als Matthias ausstieg und seinen BMW abschloss. Sie wagte nicht, noch einmal auf Kopfschmerzen zu verweisen, nachdem er gerade deshalb darauf bestanden hatte, sie selbst nach Hause zu fahren. Irenes Einwand, nicht fahrtüchtig zu sein, hatte er entrüstet zurückgewiesen und Anne war sich – leider – sicher, dass er sich ziemlich genau einschätzen konnte.
Annes Gedanken waren weit weg, während ihre Hände in der Handtasche nach dem Schlüssel kramten. Jeder Amateurpsychologe hätte ihr vermutlich bestätigt, dass sie den Zeitpunkt, mit Matthias ihre Wohnung betreten zu müssen, unterbewusst verzögerte und in der Tat suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie dem, was jetzt auf sie wartete, entkommen konnte. Es gab nicht allzu viele Alternativen. Sie konnte versuchen zu diskutieren. Seiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen, ohne allzu großen Verdacht zu erregen, lag ihr am meisten am Herzen. Aber das würde ihn reizen.
Sie konnte seine Leidenschaft entfachen, um das Unvermeidliche schnell hinter sich zu bringen – aber das würde er durchschauen und sie noch mehr quälen. Ein Fluchtinstinkt gebot ihr, einfach wegzulaufen. Bei Angie konnte sie wahrscheinlich für kurze Zeit bleiben. Aber Matthias würde sie finden, wo immer sie sich aufhielt. Und bei einer Befragung überzeugend sein – glaubwürdiger jedenfalls als sie selbst mit ihrer abenteuerlichen Story.
Die Panik drückte ihr fast die Kehle zu. Langsam zählte sie bis zehn. Nein, sie würde diese Geschichte durchstehen. Noch wusste sie nicht, ob Matthias tatsächlich hinter all den Anschlägen steckte, oder ob sie halluzinierte.
Doch halt – immerhin hatte ihr jemand einen anonymen Brief geschickt.
Der kleine Zettel bewies, dass ihr Verfolger nervös wurde und anfing, Fehler zu machen. Sie musste lediglich wachsam bleiben.
Was aber, wenn beides nicht zusammenhing? Sie konnte durchaus auch zwei Feinde haben, die nichts voneinander wussten.
„Ich frage mich, warum du so lange in deiner Tasche wühlst, Anne. Wir wissen doch beide, dass du deinen Schlüssel wahrscheinlich vergessen hast.“
Klang Matthias amüsiert oder höhnisch? Sein leises Lachen verursachte ihr Gänsehaut, während seine Finger über ihre Wange streichelten.
„Lass dir doch einfach helfen. Ich tue es gern“, sagte er und drückte, ohne lange nachzudenken, ihren Nummerncode. Die Tür sprang auf.
Und hier im Chaos ihrer Gedanken vor der Haustür, kristallisierte sich endlich heraus, was ihr bislang nicht aufgegangen war. Sicher, Phil hatte es schon angedeutet, aber Anne hatte damals nicht begriffen, was er sagen wollte. Zu ungeheuerlich war die Annahme gewesen, jeder mit einigem Verstand könnte sich ihres Codes bedienen. Doch genauso war es.
Buchstäblich jeder konnte in ihrer Wohnung ein- und ausgehen, konnte tote Vögel platzieren und wieder wegräumen und sie mit subtilen Mitteln buchstäblich in den Wahnsinn treiben. Sie war wirklich zu naiv gewesen.
Ein warmer Strom floss durch Annes Glieder, gut und kraftvoll. Sie musste nicht mehr zweifeln. Alles rückte an seinen Platz. Fast hätte sie laut gelacht vor Erleichterung. Ein unbestimmter Impuls hielt sie zurück. Sie würde das Spiel weiterspielen müssen. War sie stark genug dazu? Ihre altbekannte Unsicherheit meldete sich zurück. Wie sollte sie gegen einen Feind kämpfen, wenn sie gar nicht wusste, wo er lauerte?
Es roch nach abgestandenem Rauch, als Anne und Matthias in die Wohnung kamen. Sie warf ihren Mantel über den Sessel und schlüpfte aus ihren Schuhen. Frische Luft strömte ins Zimmer, als sie die Balkontür öffnete und Anne atmete tief ein, während sie ihre schmerzenden Füße rieb. Sie sah, dass Matthias ihren Mantel inzwischen auf einen Bügel an die Flurgarderobe gehängt hatte. Ihre Schuhe stellte er akkurat nebeneinander darunter.
Sie würde ganz sicher jetzt nicht ihre eigene Nachlässigkeit kommentieren, dachte sie und wollte die kleine Kerze auf dem Tisch anzünden, als sie sah, dass sie ganz heruntergebrannt war. Das Wachs war ausgelaufen und mit dem Tischläufer verschmolzen.
„Magst du noch einen Schlummertrunk?“, wandte sie sich an Matthias, doch er ging nicht auf ihre Frage ein und nahm ihr stattdessen den Tischläufer aus der Hand. Kopfschüttelnd ging er damit in die Küche, holte ein Messer aus dem Messerblock auf dem Arbeitstisch und trennte den Kerzenhalter von seiner Wachsumklammerung.
„Es wundert mich, dass du dich noch nicht umgebracht hast, Anne.“ Sein Gesicht war ernst, als er ihren gesenkten Kopf mit dem Zeigerfinger am Kinn anhob. „Schau mir in die Augen! Hast du vergessen, die Kerze zu löschen?“
Anne wandte das Gesicht ab und ging in die Küche.
„Ich habe noch einen guten Rotwein da – trinken wir noch ein Glas?“, versuchte sie ihn abzulenken, aber er war ihr schon gefolgt und hielt sie an beiden Armen fest.
„Schau, mein Kleines“, sagte er mit samtzarter Stimme. „Es bringt uns beide nicht weiter, wenn du es mit Ausflüchten versuchst. Du musst dich der Wahrheit irgendwann stellen. Du kannst dich überhaupt nicht an die Kerze erinnern, nicht wahr?“
Anne konnte fast nicht mehr atmen vor der Wut, die in ihr hochbrandete. Noch gestern, nein noch vor wenigen Stunden, hätte sie ihm geglaubt und verzweifelt nach einer Erklärung gesucht. Jetzt wusste sie, wohin er sie treiben wollte. Am besten, sie antwortete nicht – jeder Satz würde sie jetzt verraten.
„Dein schuldbewusstes Gesicht spricht Bände“, fuhr er fort. „Aber du wirst noch lernen, ein verlässlicher Mensch zu werden, mein Liebes, und ich werde dir dabei helfen. Du kannst wirklich froh sein, dass du mir begegnet bist.“ Fast gedankenverloren strich er über ihr Haar. „Du bist doch glücklich darüber, oder?“ Unvermittelt packte er eine Haarsträhne und zog fest daran. „Sage es mir, dass du froh bist – los sprich es aus!“, herrschte er sie an, als Anne aufschluchzte. „Wiederhole einfach – Ich bin glücklich, dass du mich liebst.“
„Siehst du, es ist doch ganz einfach“, sagte er, als Anne tat, was er befahl. „Du wirst mir eine wunderbare Gefährtin sein, wenn du erst begriffen hast, dass du nur durch mich lebensfähig bist …. Wie schön du bist“, raunte er und Anne verlor fast den Halt, als er sie in die Ecke drängte. Angst schnürte ihr die Kehle zu, als ihre Augen auf das Messer fielen, mit dem er das Wachs vom Läufer gekratzt hatte. In Reichweite lag es auf der Anrichte. Schnell schaute sie zurück, doch er hatte ihren Blick bereits bemerkt. Fast spielerisch griff er zum Messer und drehte es in der Hand, ohne sie freizugeben.
„Was hast du doch für verderbte Gedanken“, sagte er. „Viel zu böse Fantasien hinter dieser schönen Stirn. Was traust du mir eigentlich zu?“ Wütend warf er das Messer weg. „Ich zerstöre doch kein Kunstwerk – und du bist eines. Ein paar kleine Korrekturen noch hie und da, ein wenig Schliff – und du bist perfekt.“
Er fasste sie um ihre Taille und strich über ihre Brüste, bevor er sie hart küsste. Anne spürte seine Erektion, seine körperliche Leidenschaft, die erst durch Gewalt aufwallte, wie sie inzwischen wusste.
„Ein Körper wie von einem Bildhauer gemeißelt“, flüsterte er, während er ihren Slip und die Strumpfhose auszog und ihr Kleid nach oben schob. „Vielleicht ist es etwas zu kurz, dein Kleid – meinst du, ich habe nicht bemerkt, wie Beitz dich in Gedanken heute ausgezogen hat. Hast du sie vielleicht genossen, die Blicke des alten, geilen Bocks, ein kleines bisschen herausgefordert?“
Anne stöhnte, als er gewaltsam in sie eindrang.
„Hättest vielleicht lieber ihn gehabt?“ Seine Hand klatschte in ihr Gesicht, als er sie penetrierte, einmal, zweimal, wieder und wieder. Anne verbiss sich ihre Schreie. Sie würden alles nur verzögern – es war ja gleich vorüber. Es dauerte nicht lange, wenn er so in Rage war.
Da ließ er unvermittelt von ihr ab, als hätte er – wieder einmal – ihre Gedanken gelesen.
„Ich bin doch ein Barbar“, sagte er und kniff in ihre Brustwarzen. „Keine Frau mag es schließlich so schnell.“ Er streichelte die Haut, die der Ausschnitt ihres Kleides freiließ und über ihren Hals. „Was haben wir denn da Schönes?“
Seine Hand fand das kleine Tuch, mit dem Anne die Flecken an ihrem Hals verdeckt hatte, und zog daran, während er wieder in sie eindrang.
„Das steigert deine Lust“, zischte er, während Anne mit beiden Händen das Tuch um ihren Hals zu lösen versuchte. Sie rang nach Luft und hörte Matthias Stimme von ganz weit her. Sie kämpfte und kratzte und fühlte ihre Sinne schwinden. So wollte sie nicht sterben, dachte sie noch, bevor es dunkel wurde.
Sie lag auf dem Boden, stellte Anne fest, als sie wieder auftauchte aus der dunklen Nacht, die doch alles beendet hatte und beinahe bedauerte sie es, dass sie noch lebte. Es war so schnell gegangen. Sie fühlte sich so müde, viel zu erschöpft, um aufzustehen. Da sah sie das Messer, das Matthias fortgeschleudert hatte und war mit einem Satz auf den Beinen.
Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich festhalten, als die Erinnerung einsetzte. Wo war Matthias?
Sie bückte sich nach dem Messer und hielt es wie einen Schutzschild vor sich, bevor sie ins Wohnzimmer ging. Es war leer und völlig durchkühlt. Noch immer stand die Balkontür offen. Anne ging ins Schlafzimmer – es war ebenfalls leer. Sachte tastete sie sich durch den Flur und öffnete die Tür zum Badezimmer. Es war dunkel. Sie suchte nach dem Lichtschalter und griff das Messer fester. Licht flammte auf – und niemand war zu sehen. Sie sah hinter den Duschvorhang, auch die Dusche war leer.
Mit schlotternden Gliedern ließ sie sich in den Sessel fallen, bevor ein alarmierender Gedanke sie wieder hochfahren ließ. Mit zwei Sätzen war sie an der Balkontür. Das Messer fest in der Hand, schaltete sie die Balkonbeleuchtung ein. Auch auf dem Balkon war Matthias nicht. Sie schloss mit zitternden Händen die Tür und ließ den Rollladen herunter.
Offensichtlich war er tatsächlich gegangen. Die Erlösung, die sie jetzt fühlte, war so umfassend, dass sie endgültig ihre Kraft verließ. Sie setzte sich auf den Teppich. Kurze, heisere Schluchzer entwichen ihrem schmerzenden Hals, während sie Mühe hatte, das Klappern ihrer Zähne zu bezwingen. Ein unerwarteter und hässlicher Gedanke durchzuckte sie. Hatte Matthias sie tot gewähnt und war deshalb gegangen? Ihre Erleichterung verwandelte sich in neue Angst. Würde er vollenden, was er begonnen hatte oder war er in Panik geflohen?
Erst jetzt ging ihr die Ungeheuerlichkeit des Vorfalls auf. Sie hatte geglaubt zu sterben – war fast enttäuscht gewesen, wieder aufzuwachen.
Was ging denn in ihr vor? Provozierte sie solche Situationen, weil sie sich unbewusst zerstören wollte? Sie hielt inne, wollte nicht weiterdenken, und ahnte dennoch, dass sie ganz nahe an der Wahrheit war.
Eine Gedichtzeile formierte sich in ihrem Kopf wie aus milchigem Nebel ein Licht – unklar zunächst, doch immer mehr an Konturen gewinnend und schließlich so hell, dass sie Anne elektrisierte: „Stirb und werde.“ Wo hatte sie die Zeile schon gelesen, wo gehörte sie hin?
Anne stand auf und ging ins Badezimmer. Der Morgen graute bereits, sie sah das diffuse Licht der Dämmerung durchs Fenster. Sie war völlig durchgefroren von einer Kälte, die wahrscheinlich auch durch ein heißes Bad nicht zu vertreiben war. Die Gedichtzeile verfolgte sie immer noch, wie eine Hintergrundmelodie inzwischen, ein Refrain, der sich aufdrängte und nicht abstellen ließ. „Stirb und werde“, klang es jetzt wie ein Chor aus tausend Stimmen in ihrem Kopf.
Sie schaute sich im Spiegel an und erschrak über ihr graues Gesicht mit den roten Striemen auf den Wangen. Sie fuhr sich mit den Händen über den Kopf und ertastete eine riesige Beule am Hinterkopf. Das unselige Tuch hing noch immer lose um ihren Hals. Anne zog es herunter, zerknüllte es und stopfte es tief in den Korb mit Schmutzwäsche. Ihr Hals sah seltsamerweise nur unerheblich schlimmer aus als am Vortag. Na ja, sie hatte ihn ja schon gestern verbergen müssen. Ihr Kleid war zerrissen – nun gut, sie würde es ohnehin nicht mehr tragen. Irgendwann einmal hatte es ihr sehr gut gefallen.
Anne drehte den Wasserhahn auf. Sein beruhigendes Geräusch tat gut. Die Fensterscheiben beschlugen vom heißen Dampf. Es war Anne recht, dass die Feuchtigkeit den nackten, grauen Tag, der draußen auf sie wartete, wie eine Art Weichzeichner verschwinden ließ. Sie legte sich in das heiße Wasser und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Wärme fühlen konnte.
Die Gedichtzeile, die noch immer durch ihre Gedanken geisterte – jetzt endlich gab ihr Gedächtnis die Fortsetzung frei, als hätte es nur auf den günstigsten Augenblick gewartet: „Und solang’ du dies nicht hast“, rekonstruierte sie die zudringliche Botschaft als einen Vers von Goethe, „dieses STIRB und WERDE – bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“
Anne sprang aus dem Wasser, suchte Papier und Kugelschreiber. Der Satz war zu wesentlich, um wieder vergessen zu werden. Es dämmerte ihr, dass sie trotz des Nebels, der sie noch immer umfangen hielt, kämpfen wollte. Vielleicht war ja dieser neue Wille zum Leben, geboren aus Unsicherheit und Gefahr, das Einzige, das sie bekommen würde. Natürlich hätte sie sich gewünscht, ihre Ängste abstreifen und ihren Feinden unerschrocken gegenübertreten zu können. Doch sie begann zu ahnen, dass Mut etwas anderes war.