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Es war bitterkalt an diesem Morgen, als Anne aus dem Haus trat, obwohl die Sonne die Wolken der vergangenen Tage vertrieben hatte. Anne zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und steckte die Hände in die Taschen.

Unwillkürlich schaute sie nach rechts und links, halb erwartend, dass Matthias ihr auflauerte. Das Telefon hatte am Vortag so lange geklingelt, bis sie es ausstöpselte, und auch die Türklingel hatte sie zu guter Letzt einfach abgestellt.

Ihr Auto stand in einer Seitenstraße und Anne sah in dem hellen Licht, dass die Delle an ihrem Kotflügel schon zu rosten begann. Sie musste den Schaden in den nächsten Tagen unbedingt beheben lassen. Die Scheiben waren vereist und sie musste sie freikratzen. Anne wünschte, sie wäre nicht so leichtsinnig gewesen, ihre Handschuhe zu vergessen, ihre Finger waren klamm, als sie endlich einsteigen und losfahren konnte.

Im Innenspiegel prüfte sie ihr Gesicht. Sie hatte das Make-up vielleicht etwas zu dick aufgetragen, aber es verdeckte immerhin die verräterischen Spuren, auch der Rollkragen ihres Pullis war enganliegend und hoch genug. Sie war bei ihrer Ärztin gewesen an ihrem freien Tag und hatte lange mit ihr gesprochen. Es war nicht einfach gewesen, ihre Scham zu überwinden und der verständnisvollen Frau ungeschönt zu erzählen, dass sie verprügelt und gewürgt worden war. Deren Verständnis hatte allerdings abrupt geendet, als Anne sich weigerte, zur Polizei zu gehen. Immerhin hatte sie ihr ein Attest über die Verletzungen ausgeschrieben. Anne würde es ganz sicher noch brauchen.

Anne wunderte sich nicht über die Reaktion ihrer Ärztin. Wie sollte sie auch verstehen können, dass Anne sich von diesem Schritt nicht allzu viel versprach. Natürlich hatte sie daran gedacht, Matthias anzuzeigen und sich das Gespräch in allen nur möglichen Varianten ausgemalt. Sie hatte schnell davon abgesehen, wenn sie sich Matthias Reininger vorstellte, wie er zu Protokoll gab, dass Anne auf dem nassen Boden ausgeglitten sei und sich natürlich jetzt nicht mehr genau an den Vorfall erinnerte. Es bedurfte für sie keiner allzu großen Phantasie, sich auszumalen, wem die Polizei glauben würde. Ihm, dem Untadeligen, oder ihr, der paranoiden Geschichtenerzählerin.

Anne parkte ihren BMW im Parkhaus Graben. Lieber ging sie ein paar Schritte zu Fuß, bevor sie sich irgendwelche Kommentare zu dem rostenden Kotflügel anhörte. Sie kaufte einen Joghurt und zwei Vollkornbrötchen für ihre Mittagspause, weil sie im Archiv kramen musste.

Ihr war ein bisschen bange vor einem Zusammentreffen mit Kurt, als sie die Redaktion betrat, wohl weil sie nicht recht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte und auch, weil sie seinen Sarkasmus fürchtete.

Sie fühlte sich in ihrem Innern zerbrechlich wie Glas und brauchte heute bestimmt keine neuen Gefühlsstürme.

Sie sah ihn jedoch nicht, als sie über den Flur ging. Die Tür zum großen Büro, in dem Angie, Wolfgang und Christian ihre Schreibtische hatten, war offen, und sie sah Phil lebhaft gestikulierend im Gespräch mit Angie und Wolfgang. Anne wollte unauffällig vorübergehen, aber Wolfgang hatte sie bereits bemerkt. Abrupt unterbrachen die drei ihr Gespräch und sahen sie an. Auf Annes Morgengruß nickten sie ihr kühl zu. Angie vertiefte sich in den Text auf ihrem Bildschirm, Wolfgang griff zum Telefon und Phil griff nach einem Manuskript auf Angies Schreibtisch, wobei er Anne nachdrücklich den Rücken zuwandte.

Also muss Kurt bereits geplaudert haben, dachte Anne, in welcher Form auch immer. Er hatte ja einen ganzen Tag lang Zeit gehabt, seine Version der Ereignisse bei Matthias und Irene Reininger zum Besten zu geben. Das Verhalten ihrer Kollegen schmerzte, mehr als Anne je geglaubt hatte. Sie schluckte den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunter und verdrängte energisch ihre Enttäuschung.

Das Pensum des Vormittags schaffte sie mehr schlecht als recht. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, verweilten bei den Bruchstücken der Unterhaltung, die sie bei den Reiningers aufgeschnappt hatte und die ihr neue Rätsel aufgaben. Sie musste unbedingt die Eiszeit, die zwischen Phil und ihr neuerdings ausgebrochen war, überwinden. Phil recherchierte schließlich den Tod Morenos – und dieser war bedeutend, so viel hatte sie begriffen. Sie war viel zu nachlässig gewesen, zu sehr mit ihren eigenen Problemen belastet, um sich mit Phils Aufgaben zu beschäftigen. Kein Wunder, dass er auch über ihre Interesselosigkeit enttäuscht war.

Keiner der Kollegen schaute an diesem Morgen in ihr Zimmer. Gegen zehn aß sie eines ihrer Brötchen zu einer Tasse Kaffee und holte sich anschließend in Carlas Büro den Schlüssel zum Archiv.

„Da war gestern dein Kandidat – Reininger, oder so – und wollte dich unbedingt sprechen. Er hat sich dann aber mit Kurt zufriedengegeben“, warf ihr Carla hin und trennte sich gerade mal drei Sekunden von ihren unvermeidlichen Kopfhörern, viel zu geschäftig, um eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Anne war nicht böse darüber.

Es roch muffig im Dachgeschoss, in dem das Archiv des Tagblatts untergebracht war. Die Kombination von altem Zeitungspapier, Staub und schlechter Belüftung war nur schwer auszuhalten.

Das Zeitungsarchiv war seit geraumer Zeit für das Publikum gesperrt, auch das Tagblatt bediente sich jetzt der modernen Technik und archivierte nur noch elektronisch. In Rollschränken aus Metall waren die riesigen Bände mit alten Zeitungen chronologisch geordnet und Anne hatte rasch den Band vom Oktober 1986 gefunden. Sie wuchtete den großen Band aus dem Regal und legte ihn auf einen Tisch, der unter dem kleinen Fenster stand. Der aufgewirbelte Staub verursachte ihr Hustenreiz und sie wischte Reste von Spinnweben, die sich auf ihrem Pulli verfangen hatte, beiseite.

Das Papier des über zwanzig Jahre alten Bandes war teilweise brüchig und Anne verstand jetzt die Verfügung des Verlags, jede öffentliche Einsichtnahme zu verbieten, sehr viel besser, wenn diese Einsicht die Pöbeleien einiger Besucher wohl auch nicht einschränken würde.

Anne blätterte in dem Band. Die alten Nachrichten brachten ihre Kindheit zurück. Sie las von der Gründung des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag und erinnerte sich an ihre Ängste wegen des Kriegs in Jugoslawien.

Somebody Dance With Me von DJ Bobo stürmte die Hitparaden, und Anne sah sich wieder zuhause in der Küche, die „Schlager der Woche“ mitschneiden. Ach ja, 1993 wurden auch neue Postleitzahlen eingeführt. Sie war überrascht, wie anregend die alten Nachrichten auf sie wirkten. Also stimmte die Behauptung, dass nichts so alt wie die Zeitung von gestern sei, auch nur bedingt. Auf tröstliche Art fand sie sich und ihre tägliche Arbeit bestätigt, auch wenn sie erst vor Kurzem herzhaft gelacht hatte über eine der vielen sarkastischen Bemerkungen Phils, mit denen er den täglichen Frust kommentierte. „Was quält Ihr euch so“, hatte er in den Raum geworfen, „morgen wickeln sie mit dem Ergebnis unserer Schufterei auf dem Markt die Kohlköpfe ein.“

Anne ermahnte sich innerlich. So würde sie nicht weiterkommen, sie durfte sich nicht ablenken lassen. Zielstrebig blätterte sie, bis sie zum Anfang Dezember 1996 kam. Der 3. Dezember enthielt keinen Hinweis auf den Tod eines Mädchens. Sie nahm sich den 4. Dezember vor, die Meldung, die sie in Irenes Küchenschrank gefunden hatte, war sicher aus einer überregionalen Zeitung und hatte im Tagblatt einen Tag später gestanden. Doch auch in der Ausgabe vom 4. und 5. Dezember fand sie nichts.

Anne hätte vor Enttäuschung am liebsten geheult. Mit einem solchen Flop hatte sie nicht gerechnet. Genauso gut konnte sie den Band wieder zurückstellen. Ihr Starrsinn allerdings ließ dies nicht zu. Monoton blätterte sie weiter, mehr, um sich ihre Niederlage nicht eingestehen zu müssen, als in echter Erwartung. Deshalb übersah sie es auch zunächst, bevor sie stutzte und ungeduldig zurückging. Am 10. Dezember 1993 fand sie im Anzeigenteil eine Todesanzeige: Regina Hetzelt stand in der Mitte einer zweispaltigen Anzeige, und weiter: Viel zu früh hat sie uns verlassen. Die Beerdigung hatte wohl am 12. Dezember auf dem Schweinfurter Hauptfriedhof stattgefunden. Unterschrieben war die Todesanzeige mit Eugenie und Walter Hetzelt, eine Zeile darunter stand Melanie.

Anne schrieb die Namen in ihr Notizbuch und klappte den Band zu. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, als sie die Tür zum Archiv quietschen hörte. Dann war es still. Eine merkwürdige Situation. Wer auch immer bei Carla den Schlüssel geholt hatte, musste wissen, dass sie, Anne, ebenfalls hier war. Ihr Widersacher war zu allem entschlossen, soviel hatte sie inzwischen gelernt.

Und wenn Matthias nach ihr gefragt hatte? Carla hätte ihm bestimmt einen Platz in der Besucherecke angeboten und sie hier angerufen. Hätte Carla wirklich so reagiert oder sich von Matthias‘ Charme einwickeln lassen, falls er angeboten hätte, selbst nach ihr zu sehen? Anne wagte nicht zu atmen – eine Panikwelle flutete über sie hinweg. Hörte sie jemanden atmen? Sie vermochte es nicht zu sagen. Hatte vielleicht nur der Hausmeister das Licht gesehen? Sie erinnerte sich jetzt wieder ganz genau, dass sie hinter sich abgeschlossen hatte. Und nur der Hausmeister hatte einen Universalschlüssel. Wie Angst doch normale Gedankengänge blockieren kann, wunderte sie sich. Aber warum hatte er dann nicht gerufen oder das Licht gelöscht?

Sie würde jetzt wie ein ganz normaler Mensch nach vorne gehen und schauen, was los war. Schließlich hatte sie alles Recht der Welt, hier zu sein. Warum nur blieb sie dann weiter sitzen und lauerte wie ein gefangenes Tier in seinem Bau? Mühsam stand sie auf. Bemüht, kein Geräusch zu verursachen, schlich nach vorne.

Sie konnte die Tür jetzt sehen. Dort stand niemand. Aber ihr kam es vor, als hörte sie ein Flüstern. Anne verhielt den Schritt und lauschte. Ja, da war ein Tuscheln und ein leises Kichern.

Sie zwang sich zur Ruhe und ging leise bis zum Ende des schmalen Pfads zwischen den Regalen. Ihr Herz hämmerte, als sie einen blitzschnellen Blick in die Zeile riskierte, aus der die Geräusche kamen, und sie erstarrte.

Alles, buchstäblich alles hätte sie erwartet, nur nicht das, was sie hier sah: Völlig in sich versunken, standen da Wolfgang und Angie – ihre beste Freundin – und küssten sich. Wolfgangs rechte Hand war unter Angies Pullover verschwunden, die linke zauste ihr Haar. Anne wusste nicht, was sie denken sollte. Hatte Wolfgang Angie ähnlich überfallen wie sie damals in seiner Wohnung – war ihr erster Gedanke. Aber nein, Angie machte den Eindruck, als wäre sie sehr freiwillig hier im Archiv und in Wolfgangs Armen. War das Archiv vielleicht ein vertrauter Rückzugsort für die beiden? Es sah ganz so aus, zumal sie ja einen Zusatzschlüssel haben mussten. Es war ja wirklich kinderleicht, sich den Schlüssel bei Carla auszuborgen und nachmachen zu lassen.

Für Anne stürzte eine Welt ein. Angie und der größte Fiesling der Redaktion. Sie – der Inbegriff einer glücklichen Ehefrau und Mutter und Annes großes Vorbild. Wem konnte sie auf dieser Welt denn überhaupt noch trauen? Jetzt verstand sie erst Angies Zurückhaltung seit der Sache mit den Graffiti. Wut wallte in ihr auf. Am liebsten hätte sie die beiden zur Rede gestellt, aber ein unerklärlicher Argwohn hielt sie zurück. Sie würde nicht zu erkennen geben, was sie herausgefunden hatte, denn eine Frage stand jetzt in riesengroßen Lettern vor ihr. Welches Spiel spielte eigentlich Angie?

Blitzschnell ging Anne zur Tür, schloss sie auf und war auch schon draußen, bevor die beiden auch nur eine Chance hatten, sich voneinander zu lösen, dessen war sie sich sicher. Mit lautem Geräusch schloss sie wieder hinter sich zu und war mit drei großen Schritten unten. Ihr Verhalten verschaffte ihr eine eigenartige Genugtuung. Natürlich konnten die beiden sie wieder aufschließen, aber die Beschämung, von einem Unbekannten beobachtet worden zu sein, gönnte sie ihnen.

Anne ließ den Schlüssel auf Carlas Schreibtisch fallen und setzte sich mit dem Telefonbuch auf den nächsten Stuhl.

„Na, hast du etwas gefunden?“, fragte Carla. „Du siehst aus wie die berüchtigte Katze, die die verbotene Sahneschüssel ausgeschleckt hat.“

Anne brummelte etwas Nichtssagendes. Offensichtlich hatte auch Carla keine Ahnung. Immerhin gut zu wissen. Ihr Finger glitt über die Namen des Buchstabens H. Sie fand zwei Einträge: M. Hetzelt, Neutorstraße 45 – Melanie? – und eine Zeile höher tatsächlich eine Eugenie Hetzelt in der Luitpoldstraße sechzehn. Anne genoss das plötzliche, wenn auch nur vage Gefühl, einen Fortschritt gemacht zu haben. Vielleicht kam sie ja endlich dem Rätsel auf die Spur.