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Die Luitpoldstraße in Schweinfurt, ein Lehrbeispiel der Gründerzeit-Epoche, verband die historische Altstadt mit dem Bahnhof. Die Häuser standen in dichten, geschlossenen Reihen und waren meist liebevoll restauriert.

Ihre stattlichen Skulpturen, Reliefs und üppigen Giebel zeugten vom Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts und seinem jungen Glauben an das ungebremste Wachstum durch die technische Revolution und den Aufstieg des Großbürgertums. Allerdings war auch in Schweinfurt die Luitpoldstraße wie in vielen deutschen Städten wegen ihrer Nähe zum Bahnhof vom Krieg zerstört worden.

Das Haus zählte drei Stockwerke. Im Erdgeschoß lag eine Gaststätte, der dritte Stock beherbergte eine Wohnung, nach den Vorhängen und Pflanzen an den Fenstern zu urteilen.

Anne drückte den Klingelknopf E. Hetzelt und wartete. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung am Vorhang im dritten Stock verriet, dass zumindest jemand zu Hause war. Obwohl sie am Telefon ihren Besuch mit der mehr als vagen Erklärung, eine Reportage über den Lebensstil älterer Menschen zu schreiben, begründet hatte, wusste sie noch nicht genau, wie sie vorgehen wollte. Sie musste wohl oder übel auf Improvisation setzen.

„Hallo“, krächzte eine heisere Altfrauenstimme über die Sprechanlage und Anne stellte sich mit Lena Heuser vom Gelben Blatt vor, worauf der Türöffner summte. Im Wartezimmer des Orthopäden im zweiten Stock schien kein Platz mehr zu sein, denn durch die geöffnete Flurtür sah sie Patienten im Gang stehen und ein junger Mann mit Jeans-Jacke und Gipsbein saß auf der Treppe. Paradoxerweise stieg Anne leiser Groll auf die Naivität alter Leute auf, obwohl sie ja eben von dieser Gutgläubigkeit profitierte. Kein Wunder, dass so viele ausgeraubt und betrogen werden, dachte sie, wenn sie jedem X-Beliebigen die Türe öffnen.

Wenig später saß sie in einem völlig überheizten Wohnzimmer bei einer Tasse Tee. Eugenie Hetzelt war eine dickliche Frau in den Siebzigern mit einem erstaunlich faltenfreien Gesicht und schneeweißen Haaren. Beim Gehen hinkte sie leicht – offensichtlich litt sie an Hüftgelenksarthrose – und Anne wunderte sich, wie sie mit dieser Behinderung die vielen Treppen bewältigte.

Die Wohnung war blitzsauber, auf dem Parkettboden im Wohnzimmer lag ein wertvoller Orientteppich, die hellen Velourssessel waren mit Nackendeckchen geschmückt und in einer Messingvase am Fenster stand ein gigantisches Seidenblumen-Gebinde. Die Beine des Wohnzimmer-Schrankes, einer Chippendale-Kopie, glänzten mit dem Fußboden um die Wette, getaucht in ein warmes Licht, das ein Kristall-Leuchter über dem Marmorcouchtisch spendete. Alles vermittelte den Eindruck von Gediegenheit und zeugte ganz sicher nicht von Armut.

Anne kämpfte einen Anflug von Reue nieder, während sie ein Stück des angebotenen Kuchens auf ihren Teller lud. Sie zwang sich, den Blick von der kleinen Kommode hinter der Türe abzuwenden, auf der eine ganze Galerie von Familienfotos ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sie würde später darauf zu sprechen kommen.

„Ich habe so selten Besuch“, erzählte die alte Dame und spielte mit ihrer Brille, die an einer goldenen Kette um ihren Hals hing und Anne sprach sich augenblicklich frei von dem Schuldgefühl, das sie wegen ihres hinterhältigen Verhaltens quälte. „Seit mein Mann tot und meine Tochter ausgezogen ist, lebe ich allein. Ich will ja nicht klagen, mir fehlt es an nichts, aber ein bisschen Gesellschaft ab und an wäre doch schön.“

Auf dieses Stichwort hatte Anne gewartet. Sie stand auf und ging zur Kommode. „Ist das Ihre Tochter?“ Sie zeigte auf den Schnappschuss eines Mädchens im Tennisdress, in der rechten Hand hielt sie das Racket, mit der anderen zog sie an dem Band in ihren blonden Haaren, ein Bild purer Lebensfreude.

„Das war meine andere Tochter.“ Ein Schatten fiel über das Gesicht Eugenie Hetzelts, die auch nähergekommen war und jetzt neben Anne stand. „Sie ist seit vielen Jahren tot.“

„Das tut mir leid“, entgegnete Anne, wenigstens dieser Satz war ehrlich, „möchten Sie darüber reden?“

„Ich meinte diese Tochter, Melanie“, sagte die ältere Frau statt einer Antwort und zeigte auf das Bild einer Frau mit Brille und dunklen, dünnen Haaren, die auf der einen Seite hinter das Ohr gestrichen waren und auf der anderen Seite bis auf Kinnhöhe herunterfielen. Ihre stämmigen Beine steckten in halbhohen Schuhen, über dem Tweedrock trug sie Pullunder und Bluse. Sie saß auf einer Gartenbank und blickte ernst in die Kamera.

„Das war in besseren Tagen, heute sehe ich sie vielleicht noch ein- bis zweimal im Jahr und vielleicht wäre es besser, wir würden uns auch da nicht begegnen.“

„Fotos sagen oft mehr aus als tausend Worte“, bemerkte Anne scheinheilig und griff mit einem „darf ich?“ nach einem Familienbild, das das blonde Mädchen im Alter von etwa zwei Jahren im Kinderwagen mit einer jüngeren, offensichtlich stolzen Eugenie Hetzelt dahinter zeigte. Im Hintergrund stand ein großer, hagerer Mann mit beginnender Stirnglatze und Schnurrbart, ein etwa 12-jähriges Mädchen mit mürrisch-trotzigem Gesichtsausdruck hatte sich bei ihm untergehakt.

„Interessieren Sie sich wirklich für diese alten Fotos? Haben Sie denn so viel Zeit?“, fragte die alte Dame hoffnungsvoll und nahm aus einer Schublade der Kommode ein leinengebundenes Fotoalbum und trug es zum Tisch.

Sie rückte ihren Sessel näher an Anne heran und legte das Album in die Mitte.

„Hier – sehen Sie!“ Ihre Stimme wurde eifrig. „Das war nach der Geburt meiner Tochter.“ Anne schaute auf ein verblasstes Schwarz-Weiß-Foto, das eine Babywaage mit einem nackten Säugling zeigte. Daneben stand die Mutter. Nach dem Stil der Wohnungseinrichtung, Gelsenkirchener Barock, musste das Bild Ende der 60er Jahre aufgenommen sein.

„Der Geburt Ihrer älteren Tochter, meinen Sie“, gab Anne zurück und wartete begierig darauf, dass Eugenie Hetzelt weiterblätterte, weil sie endlich zum Thema kommen wollte. Sie sah die verschiedensten Arten von Fotos, beim Winterspaziergang, unterm Weihnachtsbaum, bei einer Feier mit Freunden. Die Bilder wechselten von Schwarz-Weiß zu Farbe. Mann und Frau hatten an Gewicht zugelegt, doch auf ein Babyfoto ihrer zweiten Tochter wartete Anne vergebens. Offensichtlich hatte die Leidenschaft zum Fotografieren zum Zeitpunkt ihrer Geburt abgenommen, um sich später wieder zu einer Flut von Abbildungen des ausgesprochen hübschen Kindes zu steigern. Das erste Foto, das das blonde Kind zeigte, hatte Anne bereits auf der Kommode in der Hand gehalten, eine Vielzahl weiterer Bilder folgte. Die blonde Tochter im Kindergarten, bei ihrer Einschulung, in der Tanzstunde, beim Tennis, mit zahlreichen wechselnden Freundinnen und Freunden.

Ein Foto zeigte das junge Mädchen mit einem Ball im Park vor einem Herrenhaus. Anne stockte der Atem. Das Haus kannte sie. Sie hatte erst vor wenigen Tagen bibbernd vor seiner Tür in der Kälte gestanden und mit Matthias und Irene Reininger deren Gäste verabschiedet.

In Anne brandete ein wildes Triumphgefühl auf. Sie hatte den richtigen Riecher. Das war der Beweis, den sie brauchte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie gab irgendwelche Standardantworten auf das Geplauder von Eugenie Hetzelt, beherrscht von dem einzigen Ziel: Sie musste an genau dieses Foto kommen. Es kostete sie regelrecht Disziplin, nicht einfach zuzugreifen.

Es war ihre Besessenheit, die sie nicht zuhören ließ, und so hätte sie fast etwas Wesentliches verpasst: „… ging immer, als Kind schon, gerne mit mir zu den Reiningers …“, hörte sie Eugenie Hetzelt gerade sagen.

„Wie, waren Sie denn beide da?“, fragte Anne völlig perplex.

„Aber, das habe ich eben doch erzählt – Sie haben nicht zugehört“, antwortete Frau Hetzelt vorwurfsvoll.

„Stimmt – entschuldigen Sie, ich war so gebannt von dem Bild, ich glaube, ich habe erst vor Kurzem dort eine Reportage gemacht.“ Die Erklärung klang lahm, aber sie war das Beste, was Anne einfiel. „Können Sie es vielleicht noch einmal wiederholen?“

„Regina ging immer gerne mit, wenn ich in das Herrenhaus zum Putzen ging. Ich habe fast mein ganzes Leben dort gearbeitet.“ Bedauern klang aus der Stimme der älteren Frau. „Das waren noch andere Zeiten, die alte Frau Reininger, wissen Sie, die Mutter der beiden Geschwister, war so eine feine Frau. Überhaupt nicht hochnäsig, immer hatte sie ein gutes Wort. Aber sie hat ja so gelitten unter ihrem herrschsüchtigen Mann. Auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Alle haben immer geglaubt, sie bete ihn an, aber ich habe sie oft weinen gehört, allein in ihrem Zimmer.“

„Sie haben als Putzfrau bei den Reiningers gearbeitet?“, fragte Anne ungläubig.

„Ja, und es war eine gute Stelle. Sie hat uns am Ende alle ernährt, als mein Mann nicht mehr in die Chemiefabrik gehen konnte wegen seiner Leberzirrhose.“ Sie musste wirklich außergewöhnlich gut verdient haben, dachte Anne, Tennisstunden für die Tochter wären sonst kaum im Etat gewesen.

„Matthias, ja, der war wie seine Mutter“, fuhr Frau Hetzelt fort, „gut erzogen und immer höflich. Aber Irene kam wohl mehr nach dem Vater, sie war die Hochmütigere der beiden. Sie war ja in etwa im Alter von Melanie, aber sie hat meine Tochter immer behandelt wie, ja, eben wie das Kind der Putzfrau. Melanie ist deshalb auch nie mehr mitgegangen.“

Eugenie Hetzelt hatte vom Erzählen rote Bäckchen bekommen, bemerkte Anne, die fast nicht zu atmen wagte, um die Frau, die jetzt einen Schluck aus ihrer Teetasse nahm, nicht bei ihrer Erzählung zu unterbrechen. „Ist ja ganz kalt“, stellte sie fest, „soll ich uns einen neuen kochen?“

„Nein.“ Um Himmels willen jetzt bloß keine Unterbrechung, dachte Anne. „Die Kanne ist ja noch halb voll, es wäre doch schade um den guten Tee. Erzählen Sie doch lieber weiter, Regina war da anders …“, half ihr Anne auf die Sprünge. Und es funktionierte.

„Regina war ja selbst gern eine kleine Lady, sie hat sich dort richtig heimisch gefühlt. Nur vor dem alten Herrn hat sie sich gefürchtet, hat sich immer hinter meinen Röcken versteckt, wenn er auftauchte. Er war aber auch streng, vor allem zu seiner Tochter. Aber die hat es ihm dann ja gründlich heimgezahlt.“

„Heimgezahlt?“, wiederholte Anne fragend.

„Ja, das war ein richtiger Skandal damals. Die Irene war doch auf dieser Kunstschule, wissen Sie, obwohl sie lieber in die Firma eingetreten wäre, aber das hätte der Alte doch einem Mädchen niemals erlaubt. Sie muss aber als Malerin auch gut gewesen sein, obwohl sie dann von der Schule geflogen ist. Sie und dieser Moreno von nebenan, der Tag und Nacht bei den Reiningers herumlungerte. Er ist ja auch nur wegen Irene auf die gleiche Kunstschule gegangen.“

„Was war es denn für ein Skandal?“, fragte Anne, die befürchtete, dass die alte Frau den Faden verlieren würde.

„Ach, die beiden haben zusammen richtig gute Fälschungen gemacht und sie für horrendes Geld verkauft. Ein anderer Junge war auch daran beteiligt, er war bei einer großen Zeitung in München und hat sie mit seinen Berichten so richtig herausgebracht. Er ist dann aber auch aufgeflogen, ich glaube, er arbeitet heute sogar in Schweinfurt bei unserem Tagblatt.“

Anne hatte es die Sprache verschlagen von den Nachrichten. Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Deshalb also versteckte Irene ihre Bilder, deshalb stellte sie nie aus – ein weiteres Puzzleteilchen fand endlich seinen Platz.

„Obwohl – die Lästerzungen sind ziemlich schnell verstummt, dafür hat der alte Reininger schon mit vielen Spenden an den richtigen Stellen gesorgt“, hörte Anne ihr Gegenüber weitererzählen.

„Und Irene wurde hinterher so richtig menschlich. Wir haben bis heute noch ein gutes Verhältnis.“ Eugenie Hetzelt schaute auf die Uhr. „Sie wollte übrigens zusammen mit ihrem Bruder heute zum Kaffee kommen, da können Sie die zwei gleich kennenlernen.“

Anne gefror das Blut in den Adern. Sie musste gehen – und zwar schnellstens. Hastig bedankte sie sich bei der alten Dame und versprach, noch einmal wiederzukommen. Sie hätte alles versprochen, um diese Wohnung verlassen zu können.