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Anne wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl sie innerlich fröstelte. Die Redaktionskonferenz war ein einziger Stress gewesen. In angespannter Stimmung hatten ihre Kollegen jeglichen Blickkontakt mit ihr vermieden, Wolfgang war aufbrausend und Kurt sarkastisch gewesen und Phil ungewohnt einsilbig. Selbst Wieland hatte heute nur mit halber Kraft gepoltert. Angie und Wolfgang behandelten sich, als wären sie Luft füreinander, eine wirkungsvolle Tarnung, dachte Anne. Wie lange ging das wohl schon?

Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen Zettel mit Carlas Handschrift, auf dem die Telefonnummer ihrer Mutter mit der dringenden Bitte um einen Rückruf stand. Anne warf den Zettel mit dem ganz normalen schlechten Gewissen, den der Gedanke an ihre Mutter immer verursachte, in den Papierkorb. Sie hatte ohnehin genug Probleme, sie brauchte nun wirklich nicht noch ein zusätzliches. Und sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals angerufen hätte, ohne ihren gerade akuten Müll abzuladen, geschweige denn, sich ernsthaft für Annes Leben zu interessieren.

Tränen traten in ihre Augen, aber sie fühlte sich nicht stark genug, sie hinunterzuschlucken. Sie barg ihren Kopf in den Armen auf dem Schreibtisch und ließ ihnen freien Lauf. Das ging heute weit über das „Keiner-liebt-mich-Syndrom“ hinaus, das sie manchmal heimsuchte, soviel spürte sie. Sie war so allein wie eine verirrte Expeditionsteilnehmerin in der Antarktis. War sie auch so sicher dem Tod ausgeliefert?

Nein – sie hatte nicht umsonst überlebt. Wenn es denn sein musste, würde sie auch allein einen Weg finden. Aber, hatte nicht Phil heute Morgen ganz verstohlen in ihre Richtung geschaut?

Anne ging zum Spiegel und wischte die Spuren der Tränen weg. Sie beschloss, eine Soll-und-Haben-Liste aller Punkte aufzustellen, alles aufzuzählen, was sie wusste und das, was noch im Dunkeln lag. Sie hatte genug Material, um Matthias zu überführen, wenn er sie nicht freiwillig freigab. Das Druckmittel, alles zu veröffentlichen, sollte doch reichen. Er wollte schließlich Oberbürgermeister werden.

Wieland würde allerdings nichts veröffentlichen, womit er sich unbeliebt machen könnte. Schon spürte Anne wieder, wie Angst und Verzweiflung ihre Krakenarme nach ihr ausstreckten. Ihre Handflächen wurden feucht und sie begann immer oberflächlicher zu atmen. Gleich würde sie hyperventilieren.

Sie schloss die Augen und zählte langsam bis zehn, zwang sich zu tiefer Bauchatmung und versuchte, sich zu beruhigen. Warum gelang es ihr nicht, ihre Panik zu besiegen?

Sie hatte die Angst doch in all ihren Ausprägungen schon erlebt, sie bot ihr doch nichts Neues mehr. Der Gedanke wärmte sie. Sie tauchte in ihn ein wie in ein heißes Bad. Ich kenne dich, Zustand, sagte sie sich vor. Zaghaft erst, dann immer bestimmter – bis sie aufstand und den Satz wie ein Mantra laut vor dem Spiegel wiederholte. Du wirst vorübergehen, ohne mich umzubringen, begann sie von vorne – und es wirkte. Zwar fühlte sie noch immer ihr Herz klopfen und ihre Hände kribbelten, aber sie würde diese Störungen ihres Befindens behandeln wie einen Schnupfen. Auch der ging vorüber, irgendwann.

Anne griff zu dem ungeordneten Papierstapel auf dem Schreibtisch und prüfte die alten Notizen. Rigoros warf sie in den Papierkorb, was ihr einmal als unbedingt sammelnswert erschienen war. Was hatte sich für ein Müll angesammelt in den letzten Wochen – an ihrem Arbeitsplatz und in ihrem Leben. Sie brauchte nichts mehr davon.

Und wozu brauchte sie eigentlich Wieland und sein korruptes Blatt? Die Idee drängte sich in ihr vernageltes Denken wie ein vorwitziges Kind in ein Erwachsenen-Gespräch. Sie würde einen Blog einrichten und dort veröffentlichen, was das Tagblatt ihr zu drucken versagte. Die Wirkung wäre schließlich gleich.

Die Türe ging auf und Phil stand im Türrahmen. In der Hand hielt er eine Karte aus Büttenpapier und einen Umschlag. „Hast du Interesse am Bäckerball?“, fragte er. „Offen gestanden interessiert mich der Auftrieb von Schweinfurts Elite und all derer, die sich dafür halten, kein bisschen.“ Seine Miene war abwartend. „Es sei denn, du würdest mich begleiten“.

„Vielen Dank, Phil.“ Anne fühlte sich erröten vor Freude. „Du ahnst nicht, wie viel mir diese Geste bedeutet – aber ich werde dich sicher nicht begleiten, vor allem nicht zum Bäckerball. Irgendwann erzähle ich dir auch warum – einverstanden?“ Phils Gesicht verschloss sich und Anne fügte hinzu: „Reißt sich denn Wolfgang nicht um die Einladung?“

„Das ist nicht das Thema“, gab Phil zur Antwort, „die halbe Redaktion geht hin. Nur ausgerechnet ich soll über diesen Schwachsinn schreiben. Wir hätten zusammen ein bisschen ablästern können, schade – aber ich werde es überleben.“ Die Tür fiel wieder hinter ihm zu.

Annes Gefühle fuhren Achterbahn. Ihr erster Impuls war, ihn zurückzuholen. Wieder einmal, wie sie sich selbstironisch eingestand. Das Leben präsentiert dir doch immer wieder seine besten Gaben, wenn du nichts damit anfangen kannst, dachte sie. Doch sie schüttelte das Bedauern ab wie ein trotziges Kind ein unbequemes Kleidungsstück. Das fehlte noch, sie und Phil zusammen und vielleicht ein kleiner Smalltalk von Mensch zu Mensch mit Matthias. Sie musste nun wirklich nicht Russisches Roulette spielen. Doch der dumpfe Schmerz, der sie so unerwartet überfallen hatte, blieb.

Sie führte noch einige Telefongespräche, aß das mitgebrachte Sandwich mit Tomaten und Mozzarella, schrieb Routineberichte und war, als sie aus dem Fenster sah, überrascht, dass es bereits dämmerte. Anne fuhr den Computer herunter und nahm ihren Mantel. Trotz aller Enttäuschung, die immer noch nicht weichen wollte, hatte sie heute immerhin einen entscheidenden Sieg errungen. Sie hatte ihrer Angst mitten in die widerliche Fratze geschaut und sich nicht abgewendet – und hatte sie bezwungen. Sie würde das Chaos, das sie umgab, ordnen – irgendwie, einen Schritt nach dem andern.

Aus den Büroräumen drang Gelächter, Anne erkannte Barbaras exaltiertes Kichern und Phils Bass. Sie ignorierte die Eifersucht, die sie durchfuhr und ging weiter. Auf dem Parkplatz stand eine Gruppe Jugendlicher vor dem geöffneten Kofferraum eines Autos. Ein Junge zog sich eine Maske über das Gesicht und verwandelte es in die Fratze von Dr. Lecter aus dem „Schweigen der Lämmer“ und zwei Mädchen begutachteten die Löcher in einem Betttuch, das wohl als Geistergewand dienen sollte.

Erst jetzt erinnerte sich Anne, dass heute der 31. Oktober war. Die jungen Leute gingen sicher auf eine Halloween-Party. Der amerikanische Brauch eroberte mehr und mehr auch Europa, der uralte keltische Ritus kehrt also auf Umwegen wieder zurück zu seinen Ursprüngen. War es also der katholischen Kirche doch nicht ganz gelungen, einem heidnischen Ritual ein kirchliches Fest überzustülpen, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hatte einmal eine kleine Reportage über dieses Phänomen geschrieben. War es nicht vergangenes Weihnachten gewesen? Das alte heidnische Fest der Wintersonnenwende, durch die Christianisierung des Abendlandes niemals ganz auszutreiben, wurde praktischerweise zu Weihnachten, die Sommersonnenwende zum Johannisfeuer, die Austreibung der Winterdämonen zum Fasching, der anschließend mit der Fastenzeit bestraft wurde.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, philosophierte Anne, noch immer an die halb geöffnete Türe zu den Redaktionsräumen gelehnt, und ertappte sich dabei, dass sie sich amüsierte. Völlig in Gedanken, ging sie zwei Schritte, als sie von hinten zwei Arme hart umfassten. Anne fühlte wie ihr Blut buchstäblich zu Eis gefror. Sie wollte schreien, brachte jedoch nur ein Krächzen heraus. Ihr Blick flog Hilfe suchend zu dem Auto der jugendlichen Partygänger, aber sie sah sie bereits, links blinkend, vom Parkplatz fahren.

„Anne – du musst mir zuhören.“ Sie hatte Matthias schon erkannt, bevor sie in seine Augen sah, zwei fanatisch glühende Kohlen in einem kalkweißen Gesicht.

„Lass mich auf der Stelle los!“, zischte sie und nahm fast verwundert wahr, dass Matthias gehorchte. Mit hängenden Armen stand er vor ihr und Anne bemerkte, dass nicht nur sie zitterte. Auch er schien zu vibrieren vor innerer Erregung.

Unterdrückte Wut?, fragte sich Anne, doch seine Stimme vermittelte eine ganz andere Botschaft.

„Ich warte seit Tagen auf eine Chance, bitte höre mich wenigstens an …“ War es tatsächlich möglich, dass Matthias stammelte? „Die vergangenen Tage waren die Hölle …“

„Für mich auch“, unterbrach Anne ihn kalt, „ich will nichts mehr hören, wenn wir einmal davon absehen, dass ich glücklich bin, dass ich überhaupt noch hören kann.“

„Das habe ich verdient, und wahrscheinlich noch mehr“, gab er zurück, „aber gestatte mir wenigstens noch eine Viertelstunde. Ich weiß, dass du nicht so gefühllos sein kannst, wie ich es deiner Ansicht nach bin und das gibt mir Hoffnung.“ Seine Stimme war drängend.

„Ach – es ist nur meine Ansicht, dass du gefühllos bist“, antwortete Anne schneidend. „Nach welchem Kodex interpretierst du denn Gefühle?“

„Genau das möchte ich dir erklären, bitte – lass uns zu dir fahren.“

„Ich fahre mit dir nirgendwo hin.“ Anne wandte sich ab, doch Matthias hielt sie blitzschnell fest.

„Oh nein – so lasse ich dich nicht gehen, Anne – du solltest mich besser kennen.“ Sie nahm den drohenden Unterton wahr und ihre alte Begleiterin Angst erstickte das zarte Pflänzchen des berechtigten Zorns. Matthias war lauter geworden und Annes Blick huschte zurück zu den beleuchteten Redaktionsbüros. Am liebsten wäre sie zurückgegangen in die sicheren Räume, aber sie war überzeugt, dass sie Matthias damit nicht aufhalten würde. Er würde sie wieder und wieder verfolgen. Sie konnte sich ihm genauso gut gleich stellen.

„Gehen wir einen Kaffee trinken“, sagte sie resigniert. Nur nicht alleine sein mit ihm – weder bei ihr zuhause, noch bei ihm. Anne steuerte das Café Callisto in der Hadergasse an. Sie war noch nie da gewesen, es war überraschend hell und freundlich. Sein Vorteil bestand darin, dass es neu eröffnet hatte und in der Redaktion noch nicht bekannt war. Sie brauchte keine Zuhörer und vor allem – es schloss in einer Stunde. Die Zeit musste reichen.

Das Café war gut besucht um diese Zeit. Das Publikum setzte sich vorwiegend aus älteren Damen zusammen, zwei Männer spielten in einer Ecke Schach. Anne versank fast in dem großen Sessel nahe der Eingangstür, aber sie hatte dennoch den besseren Part in der Sitzordnung. Matthias wirkte auf dem winzigen, samtbezogenen Messingstuhl ungefähr so passend wie ein Kaminkehrer zwischen Stapeln weißer Wäsche. Er schien es zu spüren, rutschte auf dem Stuhl und zuckte zusammen, als die Bedienung an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Anne entschied sich spontan gegen einen Kaffee, sie war wirklich nervös genug, eine heiße Schokolade tat ihr sicher besser. Matthias wählte einen Prosecco.

„Ist das nicht ein Damengetränk?“ Anne wusste nicht, welcher Teufel sie ritt. Es bestand nun wirklich kein Anlass, Matthias hochzunehmen, nur weil er sich sichtlich unwohl fühlte. Er schien ihre Frage auch gar nicht registriert zu haben, denn er rückte seinen Stuhl näher zu Anne und sprach mit unterdrückter Leidenschaft. „Ich möchte dir eine kleine Episode aus meiner Kindheit erzählen“, begann er. „Ich hatte sie vergessen, doch sie drängte während der vergangenen Tage, als ich nicht aufhören konnte, mir Vorwürfe zu machen, unerbittlich an die Oberfläche …“

„Matthias, ich bitte dich, die unglückliche Kindheit ist ein solches Klischee, dass du sie uns ersparen solltest, ich hatte dich für origineller gehalten“, unterbrach ihn Anne, aber er fuhr fort, ohne auf sie einzugehen: „Mein Vater war ein Diktator, nichts, was ich tat, war ihm recht. Irene ist mit dem ihr eigenen Dickkopf besser damit umgegangen. Ich las gerne, er schickte mich zum Fechtunterricht. Wenn ich weinen musste und mich hinter meiner Mutter verkroch, zerrte er mich unter die kalte Dusche, bis ich keine Luft mehr bekam. Er zwang mich zum Tischtennis-Spielen, obwohl ich es hasste. Ludwig Moreno, der Sohn unserer Nachbarn, so alt wie Irene, war täglich bei uns. Mein Vater zahlte ihm ein Vermögen für die Tischtennis-Stunden. Es half nur leider nichts. Alles, was mein Vater von mir verlangte, schien irgendwie schiefzugehen …“ Er trank einen Schluck Prosecco und schaute sich prüfend im Raum um, bevor er weitererzählte: „Ich habe mir oft überlegt, einfach fortzugehen, mich im Winter im Wald zu verstecken, bis ich erfroren sein würde, aber ich war wohl zu feige. Eines Tages, ich muss so sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, warf die Labrador-Hündin der Morenos Junge. Nichts hatte mir in meinem jungen Leben bis zu diesem Zeitpunkt so gefallen wie die winzigen Fellknäuel, die um ihre Mutter tapsten und sich zum Schlafen in ihr Fell verkrochen. Ich wusste, ich wollte einen dieser Welpen haben. Mein Vater lachte schallend – doch ich flehte und bettelte und ich weiß nicht, wie meine Mutter es schaffte, sich ein einziges Mal gegen den Willen meines Vaters aufzulehnen, jedenfalls durfte ich mir ein junges Hündchen aussuchen. Ich sehe es noch genau vor mir, sein schwarzes Fell, seine feuchte Nase und seine riesigen Pfoten. Wir balgten zusammen im Garten. Ich kaufte ihm eine Leine, einen Spielknochen und war glücklich. Es schien auch ausschließlich mich zu mögen, lief mir hinterher – auch dann noch, wenn ich es ein bisschen härter anfassen musste, damit es mir gehorchte. Ich weiß noch, dass es mir wie ein Wunder erschien, dass mich dieses Tier liebte … Den einzigen Schatten, der auf mein Glück fiel, stellte der Zaun zum Anwesen der Morenos dar. Immer, wenn die Mutter meines kleinen Welpen, die alte Labradorhündin, sich im Garten aufhielt, stand mein Hundejunges am Zaun, winselte, fiepte herzzerreißend und gehorchte mir nicht mehr. Erst, wenn ich es ins Haus brachte, schien es den magischen Zaun wieder zu vergessen. Ich begann immer unruhiger zu werden, die Angst, den kleinen Hund wieder verlieren zu müssen, beherrschte mein ganzes Denken. Ich hatte das Gefühl, ich würde nicht mehr weiterleben können ohne ihn.“ Er setzte kurz ab. „Nun, es kam der Tag – unser Gärtner musste den Lattenzaun beim Rasenmähen beschädigt haben – dass eine Latte zerbrochen war und so eine Lücke entstand. Ich kam aus der Schule und suchte mein Hundejunges. Ich schaute in jedes einzelne Zimmer, in den Keller und in den Geräteschuppen, rief und lockte. Der Hund blieb verschwunden und niemand hatte ihn gesehen. Ich erinnere mich noch genau, dass der Schmerz darüber mir den Atem nahm, ich konnte den ganzen Tag nichts mehr anderes denken als an meinen Welpen. Ich suchte im Garten und entdeckte das Loch im Zaun. Der furchtbare Verdacht, der langsam Gestalt annahm, erfüllte mich mit einer solchen Wut, dass es mir in den Ohren dröhnte. Mit einer Kraft, die ich nie gekannt hatte, riss ich noch weitere Latten weg und zwängte mich hindurch. Ich ging zum Geräteschuppen der Morenos und fand mein Hündchen an seine Mutter geschmiegt, die es liebevoll ableckte. Es nahm mich überhaupt nicht wahr. Was dann geschah“, Matthias räusperte sich, legte seine Hand auf die von Anne, die atemlos zugehört hatte, „habe ich noch nie einem Menschen erzählt, weil ich mich fürchterlich dafür schäme. Es war mir so, als führe eine fremde Macht meine Hände. Ich riss das Hündchen weg von seiner Mutter und schlug seinen Kopf so lange auf den Boden, bis es keinen Laut mehr von sich gab und reglos liegen blieb. Ich nahm den kleinen Körper und schleuderte ihn in unseren Garten. Nie mehr habe ich einen Blick darauf geworfen. Ich weigerte mich auch, bei dem Begräbnis, das unser Gärtner arrangierte und ein kleines Kreuz auf der Stelle errichtete, dabei zu sein. Alle im Haus glaubten – Irene tut es wahrscheinlich heute noch – dass mein Hündchen von einem Auto angefahren wurde und sich danach in den Garten geschleppt hatte, um dort zu sterben.“

Anne entzog ihm ihre Hand. Sie fühlte sich abgestoßen von so viel Grausamkeit und konnte dennoch nicht umhin, den kleinen, misshandelten Jungen von damals zu bedauern. Sie musste sich vorsehen – schließlich wusste niemand besser als sie, wohin dieser Zug zum Sadismus den erwachsenen Matthias geführt hatte.

„Seit dieser Zeit suche ich nach einem Menschen, dem ich vertrauen kann“, fuhr er fort und Anne erkannte in seinem fast weinerlichen Ton, dass Matthias nahe daran war, die Fassung zu verlieren. „Ich glaubte, ihn in dir gefunden zu haben. Noch nie war ich seit der Begebenheit mit dem Hund in meiner Kindheit so glücklich. Alles schien sich zum Besten zu wandeln. Aber – da war dieser Abend. Du warst überirdisch schön und mir so fern. Ich fühlte fast körperlich, wie sehr du mir misstrautest und da war dieser alte, geile Sack, der dich mit seinen Blicken auszog …“

Matthias schlug die Hände vor das Gesicht, und Anne fühlte sich zunehmend unbehaglich. Weinte er jetzt tatsächlich? Mit abgewandtem Gesicht presste er hervor: „Ich wage es nicht, dich um Verzeihung zu bitten. Natürlich kann ich es verstehen, wenn du dich abwendest. Aber, Anne, ich weiß – wenn du mich verlässt, werde ich es nie mehr schaffen.“

Er wandte sich ihr zu und schaute ihr voll ins Gesicht. Erschrocken sah Anne, dass er in den wenigen Minuten seiner Erzählung gealtert war, tiefe Furchen zogen sich durch seine Züge. „Ich weiß jetzt, dass ich irgendwie krank bin, da gibt es einen Feind in meinem Innern, der stärker ist als ich. Aber ich weiß auch, dass ich ihn nur mit dir bekämpfen kann.“ Beschwörend nahm er Annes beide Hände. „Bitte, ich schwöre dir, es wird nie mehr vorkommen. Gib mir eine Chance. Ich verspreche dir, zum Therapeuten zu gehen, wenn du mich heiratest. Anne, verlass mich nicht … Ich bitte um nicht mehr und nicht weniger als mein Leben.“

Anne konnte nicht antworten. Alles, was sich ihr aufdrängte, war nicht passend. Geh‘ zum Teufel, wollte sie ihm sagen, ich bin nicht Mutter Teresa – und ich habe deine Misere nicht verursacht. Gleichzeitig fühlte sie sich stark und machtvoll. Noch nie hatte sie jemand auf solche Weise gebraucht. Erwartet er denn eine Antwort?, fragte sie sich beklommen oder diene ich nur als eine Art Klagemauer.

Nach einer kurzen Zeit unbehaglichen Schweigens bedrängte er sie erneut: „Ich möchte ja nicht, dass du dich jetzt gleich entscheidest. Ich bitte nur noch um eine Gelegenheit. Bitte, Anne, lass uns wenigstens noch gemeinsam zum Ball gehen. Und bitte tu mir den Gefallen und sprich nicht mit Irene über die Veränderung unserer Beziehung. Ich könnte ihren Sarkasmus im Augenblick nicht ertragen.“

Nein, ich will weg von dir, schrie es in Annes Kopf – doch zu ihrem eigenen Erstaunen hörte sie sich sagen: „Also gut – gehen wir zusammen zum Ball. Aber mehr will und werde ich dir jetzt nicht versprechen. Und jetzt lass mich gehen.“ Sie stand auf und registrierte seine überschwänglichen Dankesworte wie in einem Nebel, nahm ihren Mantel und ging.