50

Selten war Anne lieber zur Arbeit gegangen als an diesem Morgen. Hinter ihr lag ein Feiertag – Allerheiligen – an dem sie zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, nicht nach Hause gefahren war, um das Grab ihrer Großmutter zu besuchen. Sie hatte befürchtet, dass der Besuch bei ihrer Mutter und ihrem Onkel ihre Depressionen nur verstärken würde. Allerdings hatten die Schuldgefühle darüber ihr auch den ganzen Tag vergällt.

Sie hatte mit sich gehadert, mehr oder weniger aus Schwäche doch zugesagt zu haben, mit Matthias auf den Ball zu gehen und sich mit Bügeln abgelenkt. Den ganzen Tag klingelte das Telefon, Anne nahm nicht ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es einen einzigen Menschen geben könnte, durch dessen Anruf sie sich besser statt schlechter fühlen würde.

Schließlich hatte sie das Telefon ausgestöpselt, nur um zu erkennen, dass sie auch dadurch nicht ihren trüben Gedanken entkommen konnte.

Früher, zu besseren Zeiten, hätte sie Angie angerufen oder sie besucht, aber auch das war durch die jüngsten Ereignisse unmöglich geworden.

Sie hatte kaum geschlafen und war erleichtert, als der Wecker klingelte.

Der Morgen war klar, in der Nacht hatte es gefroren und der Frost hatte den Nebel der vergangenen Tage in glitzernden Raureif verwandelt. Anne beschloss, zu Fuß zu gehen und jetzt auf dem Weg durch die geschäftige Stadt ging ihr erneut Angie durch den Kopf. Sie hinterfragte ihren eigenen Anteil an dem gespannten Verhältnis zu ihrer Freundin. Wann hatte es angefangen, dass Angie sie mied? War es wirklich erst seit den Anschuldigungen gegen Wolfgang, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Was hatte sie eigentlich noch gesagt? Ihre Beobachtung im Archiv ging ihr nicht aus dem Kopf. Der Vertrauensbruch schmerzte noch immer – Angie und Wolfgang. Anne schüttelte unwillkürlich den Kopf – von allen Konstellationen, die sie für möglich gehalten hätte, war diese die unwahrscheinlichste. Fast noch mehr als die Tatsache an sich quälte Anne, dass Angie ihr etwas so Wesentliches verschwiegen hatte. War sie zu egozentrisch gewesen oder nicht mehr vertrauenswürdig? Sie musste in einer ruhigen Stunde Angie fragen.

Aber – erschrocken verhielt sie ihren Schritt – konnte sie sich diesen Luxus überhaupt noch leisten oder war es auch schon gefährlich, mit ihrer ältesten Freundin zu reden?

Sie war zu keinem Ergebnis gekommen, als sie das Tagblatt erreichte.

„Bist du nicht zu früh dran?“, schallte ihr Carlas Stimme entgegen, als sie die Redaktion betrat.

„Kann man dir eigentlich nichts recht machen, warst du es nicht immer, die mir mein Zuspätkommen vorgehalten hat?“, gab Anne zurück.

„Ich werde nur misstrauisch, wenn man sich nicht einmal mehr auf die Unsitten seiner Kollegen verlassen kann“, antwortete Carla, während sie die verschiedenen Ausgaben des Tagblatts sortierte, um sie Wieland auf den Schreibtisch zu legen.

Alles ist doch wie immer, dachte Anne auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Höre auf, ständig Gespenster zu sehen. Das vertraute Geplänkel hatte ihr wenigstens einen Teil ihres Seelenfriedens zurückgegeben. Sie würde mit Matthias zum Ball gehen und ihn dann vor vollendete Tatsachen stellen: Wenn du zum Oberbürgermeister nominiert werden möchtest, musst du mich loslassen, so einfach ist das.

Sie startete ihren Computer und hörte auf die vertrauten morgendlichen Geräusche. Türenschlagen und scherzhafte Bemerkungen kündigten einen ganz normalen Tag der Redaktion an. Anne beschloss, sich nicht länger auszuschließen und sich bei Carla einen Kaffee zu holen.

„Der Bayerische Städtetag begrüßt die Kehrtwende des Freistaates Bayern in Sachen Konnexitätsprinzip.“ Phil lehnte an Carlas Schreibtisch, in der einen Hand die Kaffeetasse, in der anderen ein Fax, aus dem er genüsslich zitierte. Als Anne hereinkam, stoppte er seinen Vortrag. „Das wäre doch wieder mal so ein richtiges Behörden-Ungetüm für dich, Anne – Schmunzeln garantiert.“

Kurt stand ihm gegenüber und rührte seinen Kaffee. „Wäre doch mal wieder etwas für unsere interne Phrasendreschmaschine“, wandte er ein und spielte damit auf die Computer-Spielerei der Redaktion an, Floskeln so lange beliebig auszutauschen, bis sie immer neue und immer haarsträubendere Begriffe ergaben. Er lächelte breit als Phil fortfuhr: „Schon seit langem hat der Bayerische Städtetag zusammen mit den anderen kommunalen Spitzenverbänden die Verankerung eines Konnexitätsprinzips in der Bayerischen Verfassung gefordert. Die meisten anderen Bundesländer haben bereits eine solche Regelung. Unter Konnexitätsprinzip versteht man den Grundsatz: ‚Wer anschafft, der bezahlt.‘ Dies bedeutet, dass der Staat für die den Kommunen entstehenden Belastungen aufkommen muss, wenn er den Kommunen neue Aufgaben zuweist …“

„Unsere Politiker sind lernfähig“, warf Kurt ein, „zumindest erklären sie ihre Phrasen inzwischen, vielleicht lernen sie dadurch selbst, was sie bedeuten.“

„Mit der Festlegung des Konnexitätsprinzips allein ist es aber noch nicht getan“, las Phil weiter, „damit dieses Prinzip nicht nur geschrieben steht, sondern auch tatsächlich zum Tragen kommt, ist die Einführung einer Verfahrensregelung nach dem Vorbild des österreichischen Konsultationsmechanismus erforderlich …“

Er drückte Anne das Fax in die Hand mit den Worten: „Du hast doch immer so ein glückliches Händchen bei der Übersetzung solcher Pressemeldungen.“

„Was um Himmels willen ist denn ein Konsultationsmechanismus?“, fragte Kurt und Phil gab zurück: „Vielleicht das, was Wieland mit seinen Redaktionskonferenzen zelebriert? … Ihr wirkt nicht überzeugt, gut – ich ziehe den Beitrag zurück.“

Anne musste lachen: „So lange sie in ihren Meldungen nicht auch noch die Durchführung durchführen, kann ich damit leben.“

„Jetzt seht zu, dass Ihr Land gewinnt“, funkte Carla dazwischen, „ich habe noch etwas anderes zu tun, als eurer Albernheit zuzuhören.“ Allerdings sagte ihr Gesichtsausdruck etwas anderes.

Ich habe mich wirklich abgekapselt, dachte Anne, mein Gott, wie hat mir das gefehlt.

Die Atmosphäre wandelte sich schlagartig, als die Türe aufging und Angie hereinkam. Sie warf einen abweisenden Blick auf Anne und ging, ohne auf das Gelächter einzugehen, zur Kaffeemaschine. Schweigend schenkte sie sich eine Tasse ein, goss Milch hinzu und ging wieder. Mit einigen lahmen Bemerkungen folgten ihr Kurt und Phil.

„Was war denn das jetzt?“, wandte sich Anne an Carla.

„Das musst du sie schon selbst fragen“, antwortete diese rätselhaft und drückte sich ihre unvermeidlichen Stöpsel in die Ohren.

Genau das werde ich jetzt tun, dachte Anne und machte sich auf den Weg in Angies Büro. Eine unsichtbare Faust griff nach ihrer Kehle und sie schalt sich wegen ihrer Feigheit. Wie soll ich denn die ganze Misere bewältigen, wenn ich schon Angst vor meiner Freundin habe. Ich werde der Auseinandersetzung nicht aus dem Wege gehen.

Angie telefonierte, als Anne in ihr Büro kam, das sie mit Wolfgang und Christian teilte. Als sie Anne sah, drehte sie den Stuhl und wandte ihr den Rücken zu. Anne zwang sich dazu, vor ihrem Schreibtisch stehenzubleiben, obwohl sie Wolfgang fast mit Blicken aufspießte. An ihrem flauen Gefühl änderte auch Christians Verlegenheits-Kalauer vom Berg, der zu Moses kommen müsse, nichts. „Hast du mal eine Viertelstunde Zeit“, fragte Anne, als Angie den Hörer auflegte, „wir müssen reden, denke ich.“

„Ach, Mylady geruhen, mit dem Finger zu schnippen“, gab Angie zurück, „und jetzt soll ich wohl alles stehen und liegen lassen – oder wie hast du es dir vorgestellt?“

„Ich weiß zwar immer noch nicht, warum ich hier die Bittstellerin spielen muss“, sagte Anne, verletzt von dem sarkastischen Ton, „aber ich würde es gerne erfahren.“

„Das will ich dir sagen, obwohl ich es eigenartig finde, dass du unter partieller Amnesie zu leiden scheinst.“ Angriffslustig sprang Angie auf und richtete ihren Zeigefinger wie eine Waffe auf Annes Brust. „Aber ich helfe deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge.“

„Bitte, Angie“, wandte Anne ein, „nicht hier, gehen wir zu mir.“

Anne vermochte nicht zu sagen, ob es an ihrem eindringlichen Einwand lag oder daran, dass noch mehr Bindung zwischen ihnen beiden bestand, als es jetzt den Anschein hatte. Angie brach ihre Verbalattacke ab und folgte ihr schweigend.

„Wenn die Damen Sekundanten brauchen“, rief ihnen Christian nach, „wir sind sofort zur Stelle.“ Idiot, dachte Anne, verärgert darüber, dass die beiden Kollegen jetzt wohl wieder ihre Witze über keifende Frauen reißen würden. Warum nur sind Frauen immer hysterisch und Männer bei einem gleichen Vorfall zornig? – sinnierte sie.

Angie setzte sich auf den Besucherstuhl in Annes Büro, mit verschränkten Armen, die Miene verschlossen, wie eine Sphynx. Sie wird es mir schwer machen, dachte Anne und spürte wie sie langsam zornig wurde. Mit welchem Recht drängt sie mich eigentlich in die Defensive, fragte sie sich, wer hat denn hier den Vertrauensbruch begangen?

„Auch wenn du es mir nicht glauben wirst“, begann Anne, „ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, warum du dich so abweisend verhältst. Was wirfst du mir vor?“

„Ist das jetzt eine oscarwürdige schauspielerische Leistung oder weißt du es wirklich nicht?“, entgegnete Angie und legte ihre Stirn in Sorgenfalten. „Wenn du tatsächlich nicht weißt, was geschehen ist, bist du viel kränker, als ich bisher geglaubt habe …“

„Was ist denn geschehen?“

„Du lieber Himmel, Anne – jetzt bist du tatsächlich durchgeknallt.“ Angie zog den Stuhl näher zu Annes Schreibtisch und beugte sich zu ihr hinüber. „Hat Phil dir etwa nicht ins Gewissen geredet über die Art, wie du Wolfgang angegriffen hast, als wir über die Graffiti sprachen?“

„Doch, hat er – aber was hat das mit uns zu tun?“ Noch während sie es sagte, ahnte Anne jedoch, dass Angie ihr genau diesen Angriff nicht verziehen hatte. Die Geschichte mit den beiden war wohl ernsterer Natur.

„Nein, es hat nichts mit Wolfgang zu tun.“ Angie konnte offenbar in ihrem Gesicht lesen wie in einem Buch. „Obwohl ich dir dazu auch noch ein paar Takte erzählen möchte. Du hast an jenem Tag nicht nur ihn, sondern auch mich massiv beleidigt.“

„Dich?“

„Ja, mich – nur weil ich eingewendet habe, dass du überziehst. Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht kenne, Anne. Natürlich war mir klar, dass dich irgendetwas an diesem Tag völlig aus der Bahn geworfen hatte. Deshalb habe ich ja auch versucht, dich zu bremsen. Du hast ja nicht einmal bemerkt, wie Wieland feixte, als du dich um Kopf und Kragen geredet hast …“

Anne spürte, wie ihre Fassung bröckelte, zu beschämend waren Angies Aussagen. Doch diese redete gnadenlos weiter: „Als du mir dann allerdings an den Kopf geworfen hast, dass ich mit meinem Käthe-Kruse-Puppengesicht nirgendwo anders hinpasse als in die Puppenstube, die ich mir erschaffen hätte …“

Sie unterbrach sich, als Anne sich die Ohren zuhielt und „Oh Gott“ stammelte.

„… nur in Kategorien mein, klein, fein denken könne, außerdem die größte Verdrängerin unter der Sonne sei, war ich mehr als betroffen.“

„Ich kann mich nicht erinnern“, war alles, was Anne dazu äußern konnte.

„Weißt du, Anne“, fuhr Angie fort, „es kommt auf den Ton genauso an wie auf die Aussage – und was mich wirklich erschreckt hat, war der abgrundtiefe Hass, der aus deinen Worten und aus deiner Stimme sprach. Er offenbarte mir eine Anne, die ich all die Jahre wohl nicht richtig gekannt habe.“

„Es tut mir aufrichtig leid, Angie – das war nicht wirklich ich, die so geredet hat.“

„Mag sein, dass dir deine Nerven einen Streich gespielt haben, aber dann solltest du dich schleunigst in ärztliche Behandlung begeben. Außerdem, wenn du das alles nicht irgendwann einmal gedacht hättest, wäre es auch unter einer Extremsituation nicht ausgebrochen.“

„Ich kann nur wiederholen, dass es mir sehr leidtut“, sagte Anne.

„Das will ich dir gerne glauben, aber dein Problem geht tiefer, meine Liebe. Du kannst dir offensichtlich nicht vorstellen, dass andere Menschen außer dir vielleicht auch nicht das Paradies auf Erden und Sorgen haben. Du siehst dich, dich und immer nur dich.“

Angie hatte sich in Rage geredet und ging inzwischen aufgeregt auf und ab.

„Wolfgang zum Beispiel“, setzte sie ihre Anklage fort, „du lässt ihn doch ständig spüren, dass du ihn eigentlich verachtest. Du wirst es nicht gerne hören, Anne – aber vor allen Dingen bist du maßlos arrogant.“

„Dafür verstehst du ihn umso besser“, hörte sich Anne sagen. Sie hätte es lieber nicht angesprochen, aber jetzt war Angie zu weit gegangen. „Wie lange geht euer Verhältnis denn schon? Und weiß dein Mann davon? Augenscheinlich habe ich mich geirrt, als ich dich verdächtigte, in einer Idylle zu leben.“ Sie sah, wie Angie blass wurde und setzte hinzu: „Keine Angst, ich werde niemandem von euren heimlichen Verabredungen im Archiv erzählen. Aber ich habe doch geglaubt, du würdest mir mehr vertrauen.“

Anne erschrak, als sie Angies Mienenspiel sah. Es wechselte von Verachtung zu Wut bis hin zu Trauer. „Du verstehst leider überhaupt nichts, Anne“, sagte Angie belegt. Ich weiß nicht, warum ich glauben konnte, du seist meine Freundin.“ Und bevor Anne antworten konnte, war sie schon gegangen.

Fassungslos blieb Anne zurück, sie zitterte und fühlte ihr Herz gegen die Rippen hämmern. Sie zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt von Angies Vorwürfen. Warum nur konnte sie sich nicht erinnern? Hatte ihr Angie wirklich alles erzählt, oder gab es noch etwas? Etwas so Schwerwiegendes, dass sich das Gehirn weigerte, Einzelheiten freizugeben. Was in aller Welt konnte eine so vollständige Amnesie auslösen?

Anne zerbrach sich den Kopf. Die einzige Antwort ihres störrischen Gedächtnisses war neblige Leere. Sie ging Schritt für Schritt noch einmal durch jenen seltsamen Morgen und landete – wie schon so oft in den letzten Tagen – bei dem Mann, der ins Auto gelaufen war. Würde die Polizei bald bei ihr auftauchen und sie wegen fahrlässiger Tötung verhaften?

Ein seltsames Gefühlsgemisch bemächtigte sich ihrer. Aufkeimende Verzweiflung, unterdrückte Wut und Enttäuschung kämpften mit Trauer. Die Angst vor dem Verlust aller bewährten Bindungen bewirkte, dass sich ihr Bauch zu dem ihr inzwischen sattsam bekannten Knoten verkrampfte. Sie fürchtete die Panik, die in seinem Gefolge auftreten würde. Die Unruhe, die trotz einer vordergründigen Willenslähmung in ihr anschwoll, war ein Vorbote. Jetzt empfand auch sie, was ihre Kollegen schon seit Jahren behaupteten: Ihr Zimmer wurde ihr zu eng.

Anne schlüpfte in die Jacke, nahm Notizbuch und Kugelschreiber mit und ging nach draußen. Die kalte Luft brachte sie zum Schaudern und sie entschied sich, etwas trinken zu gehen.

Sie ging die wenigen Schritte zum Rossino am alten Postplatz. Die moderne Vinothek, die als Pendant zu den gediegenen Ross-Stuben gebaut worden war, befand sich auf dem besten Weg, sich zu einem Szenetreff zu entwickeln. Anne registrierte ein bunt gemischtes Publikum, vornehmlich junger Leute, teils im unvermeidlichen Jeans-Look, teils nach den ultimativen Richtlinien jüngster Designer-Mode gekleidet.

Ein Ecktisch in einer relativ ruhigen Ecke war noch frei und Anne zog es dorthin. Sie bestellte eine Apfelschorle und einen Salat mit Filetspitzen und legte das Notizbuch auf den Tisch. Sie musste vor allen Dingen Ordnung in ihre Gedanken bringen. Akribisch ging sie noch einmal durch, wie sie weiter vorgehen wollte. Sie schrieb eine Liste.

Zunächst war da der Kunstskandal, in den Irene, Ludwig Moreno und auch Kurt verwickelt waren. Wie weit reichten seine Auswirkungen bis in die Gegenwart und an welcher Stelle kam dabei Matthias mit in das unheilvolle Spiel? Denn dass er Part des Ganzen war, daran zweifelte Anne keine Sekunde.

Wer war der Verfasser der anonymen Briefe? Auch ihre Kollegen kamen infrage, einschließlich Wieland, der sie mobbte und sie lieber heute als morgen gehen sehen würde. Trotz Angies Vorhaltungen war sie in ihrem tiefsten Innern noch immer davon überzeugt, dass die Graffiti auf das Konto von Wolfgang gingen. Die Übereinstimmung mit den Zeichnungen, die sie in seiner Wohnung gesehen hatte, war zu groß.

Anne hielt inne, strich den letzten Satz wieder durch und trank einen Schluck von ihrer Schorle, die fad schmeckte. Sie winkte der Bedienung und bestellte ein Glas Rotwein. Das nagende Schuldgefühl über das Bedürfnis auf Alkohol mitten in einem Arbeitstag schob sie mit der Entschuldigung zurück, dass schließlich mehrere Gäste Prosecco oder Sekt vor sich stehen hatten.

Der Rotwein kam und Anne nahm einen tiefen Schluck. Die Wärme, die vom Wein ausging, löste einen Teil des Knotens in ihrem Bauch auf, aber nicht den leisen Zweifel, der sich in ihre Vorstellungen schob. War etwa der Wunsch Vater des Gedankens und wollte sie Wolfgang nur schuldig sehen, weil er für sie der Prototyp eines unappetitlichen und abgefeimten Menschen war?

Energisch vertrieb sie den Gedanken und widmete sich wieder ihren Aufzeichnungen. Sie hielt den Besuch bei Frau Hetzelt fest und ihre Überzeugung, dass Matthias den Tod ihrer Tochter verursacht hatte. Sie beschrieb die frühere Rolle der alten Frau im Haus der Reiningers und sie schrieb auch ihre Vermutung nieder, dass Kurt früher in Irene verliebt gewesen sein musste und ihr auch jetzt noch zärtliche Gefühle entgegenbrachte. Hat er deswegen nie geheiratet?, fragte sich Anne und dachte an die intime Szene im Café.

Sie ging ihre Aufzeichnungen noch einmal durch und stellte fest, dass sie Mühe hatte, sie zu entziffern. Aus einem Impuls heraus, beschloss sie, alles in Reinschrift in den Computer zu tippen und auszudrucken.

Sie winkte die Bedienung heran, zahlte und ging zurück in die Redaktion.

Auf ihrem Schreibtisch fand sie mehrere Zettel, Anrufe die eingegangen waren und die Carla entgegengenommen hatte. Und Phil wollte unbedingt mit ihr reden, stand da in seiner hieroglyphen-ähnlichen Handschrift auf einen Zettel gekrakelt. Dies alles musste warten. Anne konzentrierte sich auf ihre Notizen und hatte sie in kurzer Zeit abgetippt. Sie tätigte ihre Anrufe und stellte fest, dass zwei Termine, die sie wahrnehmen sollte, abgesagt wurden, was sie mit einem Seufzer der Erleichterung aufnahm. Sie würde die gewonnene Zeit dazu nutzen, die Schwester von Regina Hetzelt zu besuchen.

Anne kramte in ihren Schubladen, bis sie einen noch neuen, wattierten Umschlag fand, den sie kürzlich erst gekauft hatte, und packte ihre Aufzeichnungen hinein. Sie verklebte ihn mit Tesafilm und schrieb ihren Namen und das Datum mit großen Buchstaben auf die Vorderseite.

Anne speicherte den Text auf einem USB-Stick und löschte ihn dann aus dem Computer. Sie zerknüllte die vielen Zettel auf ihrem Schreibtisch und warf sie in den Papierkorb. Nach kurzer Überlegung holte sie die Notizzettel wieder heraus. Als sie Phils Botschaft fand, glättete sie das Papier und legte es in ihren Notizblock.

Phil – dachte sie – welch eigentümliche Ambivalenz uns wohl verbindet? Ihr Verhältnis war etwas ganz anderes als die Kollegialität, die beispielsweise zwischen ihr und Kurt, oder ihr und Christian herrschte. Phils Gegenwart löste in ihr etwas aus, was sie am liebsten versteckte. Anne spürte ganz genau, dass Phil sie verwundbar machte, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Es war, als legte er durch seine bloße Anwesenheit Wünsche frei, die niemand erfüllen konnte. Träume davon, einmal klein und schwach sein zu dürfen, sich anzulehnen, die Hand in seine zu legen und sich führen zu lassen. Da weder Phil – noch irgendein anderer Mensch auf dieser Erde – jemals solche Träume erfüllten, wurde sie reizbar und aggressiv, wenn sie mit ihm zusammentraf.

Bin ich etwa in ihn verliebt? Der Gedanke kam so unerwartet wie ein Schluckauf und ließ sich ebenso wenig wieder verdrängen, nachdem er sich erst einmal festgesetzt hatte. War diese Sehnsucht nach Geborgenheit Liebe oder nur Teil eines Defizits? Wenn Menschen liebten, forderten sie, das hatte sie zeitlebens erfahren. Ihre Mutter liebte sie schließlich und war immer bedürftig, seit ihr Vater sie beide verlassen hatte. Anne hatte sich oft erschöpft gefühlt davon, ihrer Mutter geben zu müssen, was diese so offensichtlich entbehrte. Nicht nur erschöpft, gestand sie sich ein, manchmal auch wütend und angekettet. Sie hätte es niemals ausgehalten, wenn ein Mensch ihr gegenüber ähnliche Gefühle gehegt hätte. Also ließ sie es nicht darauf ankommen.

Sie fühlte instinktiv, dass sie es war, die die ständigen Wortgefechte mit Phil heraufbeschwor. Auf diesem Terrain fühlte sie sich sicherer, als wenn sie Phil erlaubte, ihre intimsten Hoffnungen zu zertrampeln. Sie waren so fragil wie eine Glasmenagerie. Vielleicht waren sie auch genauso kitschig. So war das Leben nicht. Resolut nahm Anne Phils Zettel wieder aus dem Notizbuch und warf ihn endgültig in den Papierkorb.

Es war seltsam still heute in der Redaktion. Fehlte ihr die übliche Geräuschkulisse von klingelnden Telefonen, Gelächter, hitzigen Streitgesprächen und Türenknallen? Fühlte sie sich deswegen so einsam?

Anne nahm ihre Kaffeetasse – mehr aus dem Bedürfnis nach Gesellschaft – als aus echter Lust auf einen Kaffee und ging in Carlas Zimmer. Sie traf sie nicht an und ging zurück. Die Tür zu Phils Büro stand offen und Anne ging kurzentschlossen hinein.

Sein Kopf war über ein Manuskript gebeugt und Anne hätte gern über seine Haare gestrichen – ein ungezähmter Busch zwar, aber jedes einzelne Haar fein und glänzend. Anne musste an eine schwarze Perserkatze denken. Gab’s die überhaupt? Waren Perserkatzen nicht grau?

Wenn sich Phils Haare so anfühlten, wie sie aussahen, musste es ein Genuss sein, sie zu streicheln.

Er hob den Kopf und lächelte. Seine markanten Züge wurden weich und Anne fühlte sich an einen Sommerabend am Meer erinnert, wenn das Sonnenlicht sanfter wurde und die scharfen Konturen der Klippen weichzeichnete. „Anne, wie schön – hast du meine Nachricht gefunden?“

„Ja, und mich gefragt, ob du irgendwelche neuen Hiobsbotschaften hast.“

„Du bist ein wahres Manifest der Kleingläubigkeit“, sagte Phil, aber in seinem Ton war kein Vorwurf, eher eine Nuance Nachsichtigkeit, die Anne wärmte.

„Was für eine blumige Formulierung“, gab sie zurück.

„Lass dich nicht täuschen, mein wahres Ich ist rau und herzlos. Die Redewendung habe ich gerade meiner Samstagsreportage über das Augsburger Bekenntnis entlehnt. – Das bringt mich auf Samstag und diesen unseligen Ball.“ Er schaute Anne intensiv an und fuhr fort, als sie nicht reagierte: „Du musst nicht befürchten, dass ich dich noch einmal bedränge, ich wollte nur noch einmal erwähnen, dass ich diesen Anlass zum … nein, ich sage nicht, wie ich ihn finde. Dir soll schließlich noch ein Rest an Glauben an meine gute Erziehung bleiben.“

„Die kannst du gar nicht verbergen, obwohl du ständig das Raubein gibst“, antwortete Anne mit Überzeugung.

„Ich habe noch keine Idee, wie ich mich dafür verkleiden muss. Wahrscheinlich erwarten die dort einen Smoking. Aber erstens bin ich im Dienst und zweitens habe ich keine Lust, wie ein Pinguin auszusehen“, sagte er verdrossen. Er war aufgestanden und rückte Anne den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch zurecht. „Setz’ dich doch“, sagte er, „du machst mich ganz nervös, wenn du so hier herumstehst, als wolltest du dich gleich wieder umdrehen und gehen – und hör auf, deinen Kaffee umzurühren.“

Anne folgte gerne seiner Anordnung und machte es sich bequem. „Aber du hast wohl kaum mit mir über die Kleiderordnung auf dem Bäckerball reden wollen, oder?“

„Nein“, gab er zu, nahm sich den anderen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber, wobei er seine schlaksigen Beine übereinanderschlug. „Dir ist heute Morgen etwas Wichtiges entgangen …“, begann er verschwörerisch und beugte sich näher zu ihr hin. „Wo warst du überhaupt?“ Er schien keine Antwort zu erwarten und fuhr fort: „Ich weiß auch nicht genau, was geschehen ist. Jedenfalls hat Wieland heute Morgen Kurt zu sich zitiert, nachdem er wohl einen kategorischen Anruf unseres Verlegers erhalten hat. Das weiß jedenfalls Carla, obwohl mehr nicht aus ihr herauszubekommen war – und dann hat es ein effektvolles Wortgefecht, vielleicht besser Gebrüll gegeben. Dann ist Kurt aus Wielands Büro gestürmt, und der hat sich nach einer Stunde, in der er seinen Schreibtisch aufräumte, unerwartet in den Urlaub verabschiedet.“

Phil machte eine bedeutungsvolle Pause, während er sich eine Zigarette drehte und Anne fragte nach: „Und was schließt der fachkundige Kreis der Kollegen aus dem Vorfall?“ Als Phil nur geheimnisvoll lächelte, fügte sie hinzu: „Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, es muss doch inzwischen Meinungen geben.“

„Die gibt es in der Tat – vor allem weil Kurt dann in Wielands Büro einzog und als erste Amtshandlung den Papierkorb filzte. Wir alle wissen doch, dass Wieland nur druckt, was seine Kreise nicht stört, will heißen, was die Creme der Gesellschaft hören will. Dass seine Hofberichterstattung ihm immer noch keine Eintrittskarte in dieselbe verschafft, liegt in der Natur der Sache. Wer gibt sich schon gern mit einem Schleimer ab? Irgendwie muss der Verleger von Wielands Umtrieben Wind bekommen haben.“

„Aber – was hat Kurt damit zu tun?“, fragte Anne, die noch nicht so recht an das Gehörte glauben konnte.

„Nun – er hatte selbst ein nachdrückliches Gespräch mit dem Verleger und hat auf Nachfragen bestimmt aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht“, versetzte Phil und fügte hinzu: „Es werden noch Wetten angenommen, Anne, du kannst für oder gegen Wielands Rauswurf setzen.“ Er beobachtete ihre Reaktion und streichelte ihr über die Wange, als er ihr Mienenspiel von Ungläubigkeit zu Erleichterung und Hoffnung wechseln sah. „Jetzt schau nicht wie ein gefangenes Kaninchen“, sagte er zärtlich. „Wie sagen die Chinesen? Wenn man lange genug am Fluss sitzt, sieht man alle seine Feinde vorübertreiben.“

„Das ist es nicht“, entgegnete Anne leise. „Wieland ist zur Zeit mein geringstes Problem.“ Unweigerlich kehrten ihre Gedanken zu ihren Aufzeichnungen zurück. Allerdings vermutete sie nach dem gerade Gehörten, dass es heute Morgen Wichtigeres zu besprechen gab als ihren unerfreulichen Disput mit Angie. Sie war erleichtert, sie schämte sich ohnehin genug und musste nicht schon wieder im Mittelpunkt des Büroklatsches stehen.

„Was ist denn dein Problem, Anne?“, fragte Phil und alle lockere Bosheit war aus seinem Ton verschwunden. Er hat mir den Klatsch gerne erzählt, erkannte Anne. Wollte er mich etwa auf andere Gedanken bringen?

„Weißt du, man muss nicht alle Sorgen alleine schultern. Du kannst mir wirklich vertrauen“, setzte er hinzu und Anne war berührt von dem Ernst, der aus seinen Worten klang. Schön wäre es, dachte sie resigniert, aber bei allem guten Willen, du kannst mir nicht helfen.

Sie sah Phil in die Augen, spürte, wie er auf eine Antwort wartete und beobachtete, wie sich seine Miene enttäuscht zu verschließen begann. Angies letzter Satz von heute Morgen flog ihr durch den Kopf. Du bist arrogant, hörte sie sie sagen und irgendwoher aus einer unbekannten Schicht ihres Gefühls dämmerte ihr die Erkenntnis, dass Angie recht haben könnte. Woher wollte sie wissen, was Phil ihr geben konnte, wenn sie es nie herausfand. Sie schluckte ihre bekannten Zweifel hinunter.

„Kommst du einmal mit in mein Zimmer?“, fragte sie und nahm ihn an der Hand.

„Ich gehe mit dir überallhin, Anne, du weißt es nur noch nicht – aber ich kann warten, bis du es entdeckst“, antwortete er, als hätte er ihren letzten Gedanken gelesen. Er folgte ihr über den Gang in ihr Büro und schloss die Tür.

„Ich glaube, ich muss dir etwas sagen“, begann er, griff nach ihren beiden Händen und zog Anne zu sich heran, aber viel lieber würde ich dich jetzt küssen.“ Eine seltsame Scheu ergriff von Anne Besitz. Sie wusste mit glasklarer Bestimmtheit, dass dies ein wichtiger Augenblick, vielleicht der weitreichendste ihres Lebens war und hatte ein wenig Angst vor allem, was sich aus ihm ergäbe.

„Lass uns noch eine kleine Weile warten, Phil“, entgegnete sie und strich ihm mit dem Zeigefinger über die Lippen. „Ich muss noch eine Kleinigkeit in meinem Leben klären, bevor ich mir einen ersten Kuss von dir wünschen darf.“

Er zog sie an sich und verbarg sein Gesicht in ihrem Haar. „Lass es mich wissen, wann – ich warte schon so lange“, murmelte er heiser.

Langsam löste er sich wieder von ihr. „Ich weiß, was dir fehlt“, sagte er, „gib mir Bescheid, wenn ich leise Geigenklänge als Hintergrundmusik ordern soll.“ Anne sah erschrocken auf, aber Phil lachte.

„Aber du wolltest mir etwas zeigen – bevor uns die Leidenschaft umwarf“, sagte er in seinem gewohnt schnodderigen Ton, perfekt in die Rolle zurückfallend, die Anne von ihm kannte, doch zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung davon, wie schwer ihm seine Beherrschung fiel.

„Zeigen nicht, Phil – ich wollte dir etwas anvertrauen“, sagte sie und zog den wattierten Umschlag aus ihrer Handtasche.

Phil drehte ihn in seiner Hand und las die Aufschrift. Sein konsternierter Blick traf Annes und sie bemerkte tausend Fragen in seinen Augen. „Bitte, frage nicht, was er enthält“, schnitt sie diese schon im Ansatz ab. „Du wirst wissen, wann du ihn öffnen musst.“

Phil runzelte die Stirn und Anne unterstrich ihre Aussage: „Doch, Phil – da bin ich mir ganz sicher.“

Er nickte wortlos und ging zur Tür. Schon im Türrahmen wandte er sich noch einmal um: „Und ich weiß immer noch nicht, was ich zum Ball anziehen werde. Ich hatte so sehr auf einen Tipp von dir gehofft.“ Sein Gesicht, ein einziges Grinsen, war das Letzte, was Anne sah, bevor die Tür ins Schloss fiel. Das war der Phil, den sie kannte. Warum hatte sie sich so lange täuschen lassen von seiner gespielten Fröhlichkeit?

Anne fühlte sich wie berauscht und leicht wie eine Feder. Wer hatte einmal gesagt, dass Leidenschaft nichts anderes tue als Leiden schaffen? Sie gab dem Philosophen, dessen Name ihr nicht einfiel, recht. Leidenschaft machte schwer und Liebe leicht, pure Sinnenlust warf Fragen auf, Liebe vertrieb die Zweifel. Anne war sich noch nie so sicher über ihre Gefühle gewesen wie jetzt.

Sie bemerkte die bereits einsetzende Dämmerung – es wurde so früh dunkel in diesen Tagen – und schaute auf die Uhr. Heute war es wohl zu spät für einen Besuch bei Reginas Schwester. Sie würde sie morgen aufsuchen. Beschwingt schulterte sie ihre Tasche, um nach Hause zu gehen. Sie knipste den Lichtschalter aus und bemerkte erst dadurch, dass sie den Computer noch nicht heruntergefahren hatte. Der Bildschirmschoner warf seine bizarren Muster über den blauen Hintergrund. Sie setzte sich noch einmal an ihren Schreibtisch, als sie es klopfen hörte.

Kurt streckte den Kopf zur Türe herein. „Ich brauche deine Reportage über die Renovierung des Ebracher Hofs schon morgen – sie steht in Wielands Plan“, sagte er. Sein Gesicht sah müde aus und alt, scharf trat seine Nase hervor.

Das passte Anne überhaupt nicht ins Konzept, seine Bitte warf alle ihre Pläne über den Haufen. „Das kommt ein bisschen plötzlich“, antwortete sie. „Wieland wollte sie zum 1. Advent.“ Und fügte hinzu, als er die Stirn runzelte: „Kannst du nicht mit etwas anderem füllen?“ Er kam herein, setzte sich, nahm seine Lesebrille ab und rieb sich die Nasenwurzel.

„Wir haben zwar eine Menge Stehsatz, das ist richtig“, gab er zurück, „aber ich wollte so viel wie möglich von Wielands getürkter Berichterstattung ausmerzen, nachdem der Herr Verleger schon Nachrichtenfälschung ins Gespräch gebracht hat. Du hast doch sicher die Neuigkeiten schon erfahren, oder?“

Anne ging nicht auf seine Frage ein. „Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden“, entgegnete sie. „Du wirst noch genug Gelegenheit haben, deine Qualitäten als Chefredakteur zu beweisen.“

„Du brauchst nicht sarkastisch zu werden, Anne.“ Sein Ton war schärfer geworden, offensichtlich hatte sie eine empfindliche Stelle getroffen. „Wenn ich den Ehrgeiz hätte, wäre ich nicht beim Tagblatt.“

„Nein, dann wärst du sicher heute Chefredakteur der Süddeutschen“, rutschte es ihr heraus. Sie hatte seine verletzende Bemerkung über sie als Glücksritterin von neulich Abend auch noch nicht verwunden. Allerdings hätte sie den Satz gerne zurückgenommen, als sie sah, wie Kurt blass wurde und ein hartes Glitzern in seine Augen trat. Doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Warum auch?, fragte sie sich eigensinnig, sie hatte sich ohnehin vorgenommen, ihn zu konfrontieren.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte er, etwas Lauerndes in seiner Stimme.

Anne beschloss, aufs Ganze zu gehen. „Oh, ich hatte neulich ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit Eugenie Hetzelt, einer älteren Frau, die sich vage an deine Sturm- und Drangzeit erinnert hat.“

Kurt wurde aschfahl, Anne sah seinen Adamsapfel sich auf- und ab bewegen. Wahrscheinlich war sie zu weit gegangen, aber sie fühlte sich unbezwingbar. „Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich mit der Dame zu tun haben sollte …“, antwortete er gepresst und Anne dachte, wie schamlos der über jeden Zweifel erhabene Gentleman Kurt lügen kann.

„Und morgen treffe ich mich mit ihrer Tochter Melanie – klingelt’s bei diesem Namen? Sie wohnt im Kleinflürleinsweg.“

„Sollte es das? Nein, Anne – ich glaube nicht, dass ich dir dienen kann.“

Abrupt stand er auf. „Wie auch immer, ich brauche deine Reportage so bald wie möglich.“ Er ließ Anne keine Zeit zu einer Antwort. Anne hörte kurz darauf die Tür zu seinem Zimmer laut zuschlagen.

Sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis nach einer Dusche, möglichst heiß, andererseits wollte sie den Abend nicht zuhause verbringen, voller Angst auf das Klingeln am Telefon oder an der Haustür lauernd. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Matthias es aufgeben würde, sie zu bedrängen. Es wäre der richtige Abend, dachte sie traurig, mit Angie zu plaudern und über ihre trockenen Kommentare zu lachen. Sie war immer erst im Gespräch mit ihr auf viele Ungereimtheiten ihres Gefühlslebens gestoßen. Angie fehlte ihr sehr.

Ein eisiger Wind wehte, als Anne über den Parkplatz ging und sie zog ihre Jacke fester um sich. Das richtige Wetter für die Sauna, dachte sie, da komme ich auch zu meiner Dusche und muss nicht in meiner Wohnung sitzen.