Den folgenden Tag verbrachte Anne mit einer Erkältung im Bett. Es wäre sicher vernünftiger gewesen, das leichte Kratzen im Hals am Vorabend nicht zu ignorieren und die Sauna sein zu lassen, aber sie hatte sich wieder einmal stärker gefühlt, als sie war. Dennoch bot der Tag einen Lichtblick. Phil brachte ihr frische Brötchen und kochte Tee. Gleichzeitig löste sich eines der Rätsel, die Anne an ihrem Verstand hatten zweifeln lassen, buchstäblich in Wohlgefallen auf.
Wie eine frische Brise war Phil in ihre Wohnung gefegt, kurz nachdem er an der Haustür geklingelt hatte und Anne nicht einmal Zeit gelassen, noch einmal kurz in den Spiegel zu schauen. Er würde gleich morgen selbst den Auftrag geben, das Schloss auszuwechseln, versicherte er. Anne sei nun einmal leichtsinnig und dürfe auch gerne so bleiben, wenn sie ihm nur erlaube, ein wenig auf sie achtzugeben. Das Fazit seiner etwas längeren Gardinenpredigt, die wieder einmal Annes Nummerncode an der Haustür zum Inhalt hatte, ließ sie noch heute lächeln.
„Seit wann beherbergst du übrigens tote Vögel?“, hatte er völlig unvermittelt gefragt, als sei ihm etwas sehr Wesentliches blitzartig wieder eingefallen.
Anne hatte gespürt, wie ihr Atem stockte. Auch sie hatte den toten Vogel in ihrem Schlafzimmer bis jetzt erfolgreich verdrängen können, weil sie inzwischen selbst an eine Halluzination glaubte. Ihre Entgegnung musste sich deshalb auch etwas widerstrebend angehört haben, weil Phil sich beeilte, ihre Verwirrung aufzulösen.
„Ich weiß, dass du den Tag in Wielands Büro am liebsten vergessen würdest, aber Angie und ich haben uns nun mal Sorgen gemacht und – ja, ich war an diesem Morgen schon einmal in deiner Wohnung, um nach dir zu sehen. Da lag ein toter Vogel vor deinem Schrank. Wenn du ihn ausstopfen lassen wolltest, tut es mir leid. Ich habe ihn in die Mülltonne geworfen.“ Anne war ihm vor Erleichterung um den Hals gefallen. „Pass auf, ich könnte mich daran gewöhnen“, hatte er sie gewarnt.
Jetzt – am Samstagmorgen – saß Anne tagträumend am Frühstückstisch und trank bereits die dritte Tasse Kaffee. Irgendwie weigerte sie sich, sich dem Tag zu stellen, an dessen Ende der Ball stand, der Bäckerball in Schweinfurt, ihre finale Auseinandersetzung mit Matthias.
Anne stand seufzend auf, räumte das Frühstücksgeschirr in die Spüle und brachte ihr Schlafzimmer in Ordnung.
Je mehr sie an den Abend dachte, desto mehr verließ sie der Elan, mit dem sie noch aufgewacht war und festgestellt hatte, dass ihre Halsschmerzen verschwunden waren. Sie hatte sich eine Menge vorgenommen und würde ihr Programm durchziehen. Diesen einen Abend mit Matthias würde sie noch aushalten, dann könnte sie endlich angstfrei leben.
Ein kleiner Teufel suggerierte ihr, den leichteren Weg zu gehen. Niemand konnte sie schließlich zwingen, die Staffage abzugeben für Matthias‘ Ehrgeiz. Aber sie wusste, dass sie damit die Lösung ihres Problems nur aufschob. Sie würde es schon schaffen, auch wenn sie im Augenblick beinahe der Mut verließ. Fast noch mehr Bedenken als die Kontroverse mit Matthias, verursachte ihr das unweigerliche Zusammentreffen mit Phil. Warum war sie nur so feige gewesen, ihm nicht zu erzählen, was sie vorhatte? Jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie gestern nur die gute Atmosphäre nicht hatte kaputtmachen wollen. Sie baute jedoch auf Phils Verständnis. Wenn sie nur eine Gelegenheit fände, ihn zu bitten, ihr nur dieses eine Mal noch zu vertrauen.
Das Telefon klingelte und Annes erster Impuls war, es klingeln zu lassen. Aber auch das war keine Lösung. Sie nahm ab.
„Hallo Anne“, hörte sie Matthias‘ Stimme. „Ich kann ja deine Verweigerungshaltung verstehen“, sagte er, „ich habe schon xmal versucht, dich zu erreichen. Aber du hast mir versprochen …“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Anne „ich werde dieses Versprechen auch halten.“
„Wann also darf ich zu dir kommen?“
„Überhaupt nicht“, sagte sie kalt. „Ich fahre mit dem Taxi, du kannst mir ja einen Platz reservieren.“
„Aber Anne, lass uns doch reden wie zwei erwachsene Menschen. Dein Verhalten ist das eines pubertierenden Mädchens.“
„Überlass es ruhig mir, mein Verhalten zu definieren“, gab sie unbeeindruckt zurück. „Ich glaube nicht, dass du es auch nur ansatzweise verstehst. Um halb acht dann im Gemeindehaus“, fügte sie hinzu und legte auf, als sie ihn zu einer weiteren Erwiderung Luft holen hörte.
Den weiteren Tag verbrachte sie in aggressiver Anspannung. Sie holte jenes märchenhafte Gebilde aus Samt und Chiffon, das Matthias ihr geschenkt hatte, aus dem Schrank, betrachtete es wie ein widerliches Insekt und hängte es wieder zurück. Aber auch wenn sie ihren Kleiderschrank mehrmals ausräumte und die verschiedensten Kombinationen probierte, keines ihrer Outfits war für einen solchen Ball geeignet.
Schließlich entschied sie sich doch, es zu tragen. Es war letztlich doch nur ein Stück Stoff und Matthias würde nach dem heutigen Abend nur wegen eines überteuerten Geschenks keine Besitzansprüche ableiten können.
Geht diese Rechnung auf?, meldete sich die Stimme des Zweifels. Sie spielte ein gewagtes Spiel. Nein, sie würde alles auf eine Karte setzen. Wenn er sie nicht freigäbe, würde sie ihm mit einem Bericht in der Zeitung drohen.
Außerdem war Wieland erst einmal beurlaubt. Aber war Kurt denn besser?
Sicher würde er noch viel weniger etwas tun, das den Reiningers schadete. Es blieb ja immer noch die Möglichkeit einer Veröffentlichung auf ihrer Website. Und – es gab ja jetzt Phil. Er würde sie unterstützen, davon war Anne überzeugt.