Der Saal war hell erleuchtet, als Anne mit dem Taxi vorfuhr. Festlich gekleidete Menschen promenierten im Foyer, dessen Spiegel das helle Licht reflektierten und durch die Verdopplung die fast perfekte Illusion schufen, das ohnehin grandiose Ereignis Bäckerball sei gigantisch. Der Blumenschmuck von Schweinfurts Gärtner- und Floristikbetrieben bestand aus Rosen in allen Schattierungen von Rot und weißen Lilien – oder waren es Callablüten? Das Blumenmeer musste ein Vermögen gekostet haben.
Sie warf einen Blick in den Spiegel, der ihr am nächsten stand, und war von sich selbst überrascht. Sie hatte abgenommen und das Kleid ließ ihre Taille noch schmaler erscheinen als damals, als sie es probiert hatte. Ja, auch der gestrenge Zensor in ihrem Kopf, der in Kleider- und Stilfragen nie zufriedenzustellen war, heute musste sogar er schweigen. Wenn es nur ein anderer Anlass gewesen wäre, zu dem sie sich so hätte schmücken können.
An der Eingangstüre stand eine Gruppe Männer in Smokings. Aus ihr löste sich jetzt Matthias und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„Ich habe es gewusst, du bist das eigentliche Ereignis heute Abend. Neben dir wird jede andere Frau im Saal verblassen“, sagte er laut, während er sich gierend nach Applaus – zu seinen Gesprächspartnern umdrehte, die beifällig nickten.
Anne konnte kaum ihren Zorn zähmen. „Nicht so laut“, zischte sie ihm zu, „ich bin keine preisgekrönte Zuchtstute.“
„Du wärst wahrscheinlich unbezahlbar“, sagte er leichthin, während er mit festem Griff ihren Arm nahm und beim Hineingehen jedem Gast einzeln zulächelte, so schien es wenigstens Anne.
Er steuerte auf einen Tisch direkt an der Tanzfläche zu. Natürlich, dachte Anne, er kann nur auf einer Bühne wirklich existieren. Eigentlich müsste noch ein Scheinwerfer den Tisch anstrahlen, an dem er Platz nimmt.
Es war ein Vierertisch und Anne war gespannt, wer noch bei ihnen sitzen würde. Noch waren sie jedenfalls allein. Die Bigband, die den Abend gestalten sollte, bestand aus mindestens zwanzig Musikern, die leise ihre Instrumente stimmten. Beifall brandete auf und Anne schaute um sich, wem er wohl galt. Sie erkannte den Oberbürgermeister, der mit souveränem Charme seine Frau zu ihrem Platz geleitete und dann auf die Bühne ging und zum Mikrofon griff.
„Guten Abend, verehrte Damen, sehr geehrte Herren“, begann er, „der heutige Ball ist zurecht schon seit Jahren der Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens in Schweinfurt. Und wenn ich so in die Runde blicke und all die schönen Damen sehe, weiß ich, wie er zu diesem Ruf gekommen ist.“ Er verbeugte sich galant und nickte zu Matthias und Anne herüber.
In Anne brandete Panik auf. Er würde doch um Himmels willen keine Bemerkung über sie und Matthias machen, dachte sie, und wurde durch das selbstgefällige Lächeln, mit dem Matthias seine Aufmerksamkeit quittierte, in ihrer Befürchtung bestätigt. Sie konnte seiner weiteren Rede bei aller Anstrengung nicht mehr folgen, aber er musste es wohl unterlassen haben, denn irgendwann klatschten die Festgäste erneut und die Musiker begannen zu spielen. Wahrscheinlich wäre sie aus dem Saal gelaufen, wenn sie im Zentrum der Aufmerksamkeit hätte stehen müssen, dachte Anne, dankbar, dass sie noch einmal davongekommen war.
Ein weißbefrackter Ober brachte einen Sektkühler mit einer Flasche Champagner an ihren Tisch und Anne fragte sich, wie es ihr entgangen sein konnte, als Matthias ihn bestellte. Formvollendet schenkte er die Sektschalen ein und Matthias entließ ihn mit wohlwollendem Lächeln.
„Auf die schönste Frau im Saal“, prostete er ihr zu und Anne hob wortlos ihr Glas. Gierig trank sie einen großen Schluck und nahm dankbar wahr, wie der Alkohol sie wärmte.
„Der Stehkragen deiner Bluse könnte als Halsband dienen“, sagte er gedehnt, „man müsste eine silberne Leine daran befestigen.“
„Und was bringt dich auf diese perverse Idee?“, fragte Anne ungehalten. „Oder anders gefragt: Was ist erforderlich, um dich von abartigen Gedanken abzubringen?“
Träge lehnte er sich zurück, während er sie aus halbgeschlossenen Lidern betrachtete und fuhr fast beiläufig fort, ohne auf ihren Einwand zu achten: „Du bringst mich auf eine Szene aus der ‚Geschichte der O‘ – hast du sie jemals gelesen? Obwohl dieser Abschnitt eigentlich in der Verfilmung noch besser zum Ausdruck kommt, wenngleich natürlich der Film an das Buch nicht heranreicht“, setzte er seinen Monolog fort, als sei seine Betrachtung nichts weiter als eine intellektuelle Spielerei. Anne wusste, dass es anders war.
„Ich meine die schöne Szene, als Sir Stephen mit O, die übrigens ein ähnliches Kleid trug wie du heute, den Ballsaal betritt.“ Matthias beugte sich zu ihr, als sei seine Bemerkung ein intimes Geständnis, das nur sie allein anging. „Da führt er sie an einer silbernen Leine. Allerdings ist ihr Kleid völlig durchsichtig und sie darunter nackt. Ja – und vorne ist es bis oben hin geschlitzt – man kann es jedoch nur sehen, wenn sie geht – damit sich seine Freunde bequemer an O bedienen können, während er sie ausleiht.“
Anne fühlte, wie sie würgen musste, und eilte zur Toilette. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, während sie wartete, bis sich ihr hämmerndes Herz beruhigte. Sie würde es schnell hinter sich bringen, schwor sie sich, und dann gehen. Für Matthias war durchaus real, was er so leichthin als geistreiches Geplänkel deklarierte und sie wollte keine Minute länger mit ihm zusammenbleiben.
Im Saal tanzten inzwischen fünf Paare – es waren die Erstplatzierten des Tanzturniers, wenn sie sich recht erinnerte – zu den aufreizenden Klängen eines Paso Doble. Die Blicke der Männer hingen an den Damen mit ihren knappen Tanzkleidern. Auch Matthias bildete keine Ausnahme, stellte Anne mit einem kurzen Blick fest.
Sie blieb an der Tür stehen und entdeckte Phil, der die Gruppe eifrig fotografierte. Anne überlegte, wie sie zu ihm durchkäme, aber sie konnte wohl kaum quer durch den Saal mitten durch die Darbietung gehen. Außerdem waren an der Seite, wo sie stand, die Tische zu eng gestellt. Ohne Aufhebens zu machen, war auch hier ein Durchkommen unmöglich.
Die Gruppe beendete ihre Darbietung und das Publikum applaudierte. Der Bandleader forderte auf zum Eröffnungstanz und kündigte den Walzer ‚An der schönen blauen Donau‘ an. Anne schaute noch einmal in die Menge, Phil war verschwunden. Ich bringe es besser hinter mich, dachte sie und ging mit energischen Schritten zum Tisch mit Matthias zurück.
„Hat sich dein zartes Seelchen wieder beruhigt?“, fragte er, während er charmant lächelte und mit einer förmlichen Verbeugung um den ersten Tanz bat.
Er tanzte meisterlich, aber etwas anderes hatte Anne gar nicht erwartet. Zu einer anderen Zeit hätte sie den Tanz sicher genossen. Eine junge Frau fand nicht oft die Gelegenheit, mit einem Könner Walzer zu tanzen. Schließlich galt es als hip, sein Unvermögen, die Standardtänze zu beherrschen, laut in die Welt hinauszuposaunen. Ihre Fähigkeit, tanzen zu können, war ihr oft als Anachronismus vorgekommen. Sie war ausschließlich das Ergebnis des gnadenlosen Tanzunterrichts ihrer Großmutter. Anne hörte sie noch sagen: „Kind, bevor du keinen Walzer tanzen kannst, brauchst du gar nicht auf den Kirchweihtanz zu gehen.“ Eigenartig, dass sie ihrem Können, auf das sie immer so stolz gewesen war, heute völlig gleichgültig gegenüberstand.
„Passen wir nicht perfekt zusammen?“, flüsterte Matthias ihr ins Ohr und Anne stolperte.
„Nein, Matthias, das tun wir nicht“, brach es ungewollt aus ihr heraus. Sie hatte im Kopf eine andere Rede vorbereitet, aber nun gut, die Steilvorlage würde sie nutzen. „Das Ganze war ein riesengroßer Irrtum – sexuelle Anziehung, nichts weiter. Liebe ist es sicher nicht, was uns zusammenführte. Ich glaube auch nicht, dass du überhaupt weißt, was sie bedeutet.“
„Ich weiß aber, dass du ohne mich ein absolutes Nichts bist – und wie du es auch bezeichnen magst, ob Liebe oder Sex oder was auch immer – du hast es verdammt genossen.“ Er würde es nicht einmal ansatzweise verstehen, wovon sie sprach, erkannte Anne. Er war zu bedauern.
„Fakt ist“, sprach sie weiter, als hätte er nichts gesagt, „dass ich weder einen weiteren Tag mit dir verbringen, noch dich jemals heiraten werde.“ Sie lachte unfroh. „Unsere Zeit hat zumindest einen Vorteil, eine Frau kann zu einer Ehe nicht mehr gezwungen werden.“
„Das mag schon sein“, gab er zurück, das Gesicht zu einer abstoßenden Fratze verzogen, „aber niemand hält mich derart zum Narren. Das wirst auch du kleine Gans noch feststellen.“
„Indem du mich totprügelst wie Regina Hetzelt?“, fragte Anne, tapfer ihr Zittern ignorierend. „Wage es nicht – ich habe Vorkehrungen getroffen, deine erbärmliche Vergangenheit zu veröffentlichen, die du so erfolgreich unter den Teppich kehren willst. Es ist deine einzige Chance, Matthias, lass mich einfach gehen.“
Die Musik hatte aufgehört. Sie würden gleich allein mitten auf der Tanzfläche stehen. Hastig nahm Matthias ihren Arm und führte sie zum Tisch zurück. Anne rauschte das Blut in den Ohren und ihre Gliedmaßen begannen taub zu werden – ein eindeutiges Signal für eine beginnende Panikattacke, dachte sie. Aber nach diesem Wortgefecht konnte auch eine solche sie fast nicht mehr schrecken. Sie nahm ihre kleine Abendtasche. Es würde ihr erst besser gehen, wenn sie im Taxi nach Hause saß. Sie konnte diese tröstliche Aussicht kaum noch erwarten.
Inzwischen kündigte Oberbürgermeister Dr. Hasselberg auf der Bühne die Ehrung der erfolgreichsten Tanzpaare an und Anne sah, wie Hermann Sendner mit einer blutjungen Begleiterin – war er nicht verheiratet?, schoss es ihr durch den Kopf – auf ihren Tisch zustrebte, einen beflissenen Ober gleich im Gefolge. Später sollte sie sich hundertmal fragen, warum sie nicht trotzdem gegangen war, aber jetzt blieb sie stehen wie festgewachsen.
Anne schüttelte artig Hände, ohne jedoch von der Vorstellungsrunde irgendetwas mitzubekommen, setzte sich noch einmal, bis auch Sendner und seine Begleiterin Platz genommen hatten und beteiligte sich sogar an dem nichtssagenden Smalltalk, bis der Ober auch für die eben Angekommenen Sekt brachte. Ihr Bewusstsein begann erst wieder, seine Funktion wiederzufinden, als Sendner mit erhobenem Sektglas und dröhnender Stimme verkündete: „Diese Einladung, mein lieber Reininger, ist vielleicht als raffinierter Coup gedacht, aber einem alten Hasen wie mir können sie nichts vormachen. Geben sie es doch einfach zu, dass sie den einzigartigen Rahmen des Bäckerballs gewählt haben, um auch offiziell Ihre Verlobung mit unserer sehr geschätzten Anne Michel bekanntzugeben.“ An dieser Stelle machte er eine artige Verbeugung vor Anne und fuhr ebenso laut fort: „Eine gewitzte Strategie, mein Lieber, Gratulation – warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Eine solche Frau muss ihnen Stimmen bringen.“
Anne war zu Stein erstarrt. Gerade als Sendner mit seiner unheilvollen Rede begann, sah sie, sein Gesicht ein einziges Leuchten, mit großen Schritten Phil auf sie zueilen. Der Smoking steht ihm wirklich gut, dachte sie, und sollte sich später wundern, zu welchen Nebensächlichkeiten das Gehirn fähig ist, während gerade ihr Leben in Scherben ging.
Er hörte mit kreidebleichem Gesicht Sendners Schwadronieren zu. Anne sah, wie er verzweifelt schluckte, um etwas zu sagen, bevor ihm Zornesröte vom Hals über die Wangen kroch.
„Eigentlich wollte ich dich zum Tanzen auffordern“, begann er mit leisen, pointierten Worten, die Anne wie Donnerschläge vorkamen, „aber das erübrigt sich ja wohl jetzt. War das die ‚kleine Weile‘, die du gemeint hast Anne?“ Er lachte verächtlich. „Meinst du damit, du geschickte Hasardeurin, dass ich dein Bett wärmen sollte, nachdem du wohl einkalkuliert hast, dass ein Millionär auch keine Garantie auf Glück bedeutet? Nun – ich muss dir sagen, jetzt hast du dich verspekuliert. Für so ein Arrangement stehe ich nicht zur Verfügung.“
Er würdigte die kleine Gesellschaft am Tisch keines Blickes mehr und stürzte zum Ausgang. Phil wandte nicht einmal den Kopf, als Anne ihm nacheilte und verzweifelt rief: „So warte doch, Phil, es ist alles ganz anders – hör mich doch bitte an.“ Als Anne den Ausgang erreicht hatte, war von ihm bereits nichts mehr zu sehen. Tränenblind winkte Anne dem nächststehenden Taxi und als sie schon im Fond saß, fiel ihr auf, dass sie ihren Mantel an der Garderobe vergessen hatte.