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Vor ihrer Haustür stand der Lieferwagen eines Blumengeschäfts. Als Anne ihr Auto geparkt hatte und auf die Tür zuging, sprang ein junger Mann vom Fahrersitz, öffnete die Seitentür seines Wagens, auf die eine stilisierte Blume mit lachendem Gesicht und zwinkerndem Auge gemalt war, und nahm ein voluminöses, in Folie verpacktes Blumengebinde heraus.

„Im ganzen Haus scheint niemand zuhause zu sein“, sagte der Mann im grünen Overall. „Hier wohnt doch eine Anne Michel, oder?“ Er las mit zusammengekniffenen Augen die Adresse auf dem beigefügten Brief. „Würden Sie die Blumen bitte abgeben?“ Seinen vertrauensvollen Blick hat er sicher sattsam erprobt, dachte Anne.

Sie lächelte ihm zu. „Ich bin es selbst, geben Sie her.“ Zufrieden, seinen Auftrag doch noch schnell erledigt zu haben, drückte er ihr die Blumen in die Hand und war in seinem Lieferwagen verschwunden, bevor sie ihm ein Trinkgeld geben konnte. Er wendete und fuhr mit quietschenden Reifen zurück.

Am Aufzug war ein Schild: „Außer Betrieb“, und Anne musste die Treppe nehmen. Sie fühlte sich wie eine Hundertjährige, als sie die Stufen hochstieg. Der Blumenstrauß war schwer, ihr seelischer Ballast noch schwerer. Anne verbot sich auf den Briefumschlag zu schauen in einer Art Aberglauben der Art, wenn ich brav und artig bin und nicht zu ungeduldig, ist er vielleicht von Phil. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Keim der Hoffnung mit Vernunft zu zertreten. Warum sollte er mir Blumen schicken, wenn er solche Anstrengungen macht, mich nicht einmal im Büro zu treffen.

Ihre Umhängetasche drückte auf die Schulter und Anne stellte sie vor der Wohnungstüre ab, und kramte in der Jackentasche nach dem Schlüssel. Den Blumenstrauß legte sie obenauf. Mindestens sieben Amaryllis-Blüten in Rot und Weiß, eingebettet in die verschiedensten Schattierungen von Grün, lugten aus der Folie und trotz aller guten Vorsätze fielen ihre Augen auf den weißen Briefumschlag – eine unbekannte Schrift, wahrscheinlich von einer Angestellten des Blumengeschäfts.

Sie fand den Schlüssel und im gleichen Augenblick klingelte das Handy irgendwo im Chaos ihrer Umhängetasche. Ein jäher, widersinniger Wunsch ließ sie vergessen, dass sie aufschließen wollte. Anne steckte den Schlüssel in die Tür und suchte hastig nach dem Telefon, bevor es aufhören würde zu klingeln. Als sie es endlich in den Händen hielt, waren ihr Notizbuch und ein Päckchen Papiertaschentücher auf den Boden gefallen und sie drückte versehentlich den falschen Knopf. Das Handy verstummte.

Anne klopfte sich mit beiden Fäusten auf den Kopf. Wenn es denn Phil gewesen sein sollte, ein zweites Mal würde er es nicht versuchen und würde ihre Ungeschicklichkeit als Absicht auslegen. Resigniert setzte sie sich auf die Stufen und begann, ihre Utensilien wieder in die Tasche zu räumen.

Das Handy klingelte erneut. Dieses Mal konzentrierte sich Anne.

„Hallo, Anne, ich wollte mich nur vergewissern, ob meine Blumen geliefert wurden“, hörte sie Matthias‘ Stimme, „und ich rate dir, jetzt nicht aufzulegen, sonst stehe ich in drei Minuten vor deiner Tür und klingele alle deine Nachbarn heraus. Ich stehe mit dem Wagen gleich um die Ecke.“

„Mit oder ohne Blumen, Matthias – es ist alles gesagt, was zu sagen war.“ Ihre Stimme war ein raues Krächzen. „Du solltest es ernst nehmen.“

„Weißt du – das war ein solcher Haufen Blödsinn, dass du dankbar sein solltest, dass ich ihn eben nicht für bare Münze genommen habe.“ Er lachte kurz und spöttisch. „Mein armes, kleines Plaudertäschchen, mit dir ist wieder einmal die Fantasie durchgegangen. Obwohl ich zugeben muss, dass du davon reichlich hast. Ist dir nicht dafür einmal ein Preis verliehen worden?“

„Es reicht, das muss ich mir nicht anhören“, gab Anne zurück.

„Höre genau zu!“, kam Matthias‘ Antwort im Befehlston. „Wir sehen uns morgen, reden wie zwei Erwachsene und dann gehen wir zusammen zum Arzt. Ich dulde nicht, dass du deine Gesundheit so mit Füßen trittst. Es muss etwas geschehen, bevor du gänzlich durchdrehst. Hast du mich verstanden? Du solltest mir dankbar sein, dass ich diesen Weg wähle und dich nicht gleich einweisen lasse. Es wäre mir ein Leichtes. Jeder vernünftige Arzt stimmt mir zu, wenn ich erzähle, was du dir in letzter Zeit geleistet hast. Ich bin morgen Nachmittag um drei bei dir – und Anne – vergiss nicht, ich finde dich überall.“

Er hatte aufgelegt, bevor Anne etwas entgegnen konnte. Du kannst mir nicht mehr drohen, dachte sie, als sie von den Stufen aufstand. Ich werde noch heute eine Zusammenfassung schreiben und alles festhalten, was ich erfahren habe. Die Opposition dürfte sicher an deinem Part an einer widerlichen, illegalen Abtreibung interessiert sein.

Am liebsten hätte Anne die Blumen in hohem Bogen durchs Treppenhaus geschleudert, aber was konnten die Blüten schließlich dafür. Sie hatten sich nicht ausgesucht, von einem Schwein gekauft zu werden. Anne ging zur Nachbarwohnung und klingelte. Sie gab dem kleinen Jungen, der öffnete, den Blumenstrauß: „Der ist für deine Mama“, sagte sie, „sag ihr vielen Dank, dass sie immer meine Päckchen entgegennimmt.“

„Mami“, brüllte der kleine Junge in die Wohnung und Anne schloss leise die Tür.

Als sie sich umwandte, um in ihre Wohnung zu gehen, sah sie Kurt im Türrahmen stehen. Er hielt den Schlüssel, den sie ins Schloss gesteckt hatte, in der Hand.

„Willst du nicht hereinkommen?“, fragte er.

Annes Sinne waren aufs höchste alarmiert. Sie sah Kurt vor dem beleuchteten Rechteck der Tür zu ihrer eigenen Wohnung scharf konturiert wie einen Scherenschnitt. Seine Stimme bohrte sich wie eine Stahlspirale in ihre Haut und sie nahm einen Geruch von Knoblauch wahr, der von ihm ausging. Sie unterdrückte den irrationalen Impuls zu fliehen.

Sie hatte noch Matthias‘ Stimme im Ohr, der sie vor wenigen Minuten mehr oder weniger für geistesgestört erklärt hatte. Er hatte mit wenigen Worten erreicht, dass all ihre Selbstzweifel fröhliche Urständ feierten. Ihre Angst vor allem und jedem hatte doch in der Tat paranoide Züge. Kurt war ihr Kollege, den sie täglich sah, mit dem sie schon die schärfsten Kontroversen ausgefochten, der sie mit seinem unendlichen Wissen und seiner Urteilskraft gefördert hatte, seit sie beim Tagblatt war.

Es war Matthias, der sie ganz langsam vergiftete und ihre Selbstachtung unterminierte. Hatte er möglicherweise recht und sie lebte im Wahn?

Wie ein Stromschlag fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf und lähmte jäh ihre Glieder. Du hast auch Angie beschimpft und dich nicht mehr erinnert. Und wo ist der Mann, den du überfahren zu haben glaubtest?

All diese Gedanken stürmten in Bruchteilen von Sekunden auf sie ein, während sie sich weigerte, ihre eigene Wohnung zu betreten.

„Ich muss mit dir reden, Anne. Ich weiß, dass du allen Grund hast, mich nach meiner ätzenden Bemerkung bei der Einladung der Reiningers abzulehnen. Sie tut mir leid – und wenn du mich angehört hast, wirst du auch verstehen, warum. Aber ich möchte ungern hier auf dem Gang mein Innenleben ausbreiten.“ Kurts Tonfall war bittend und nahm in Annes Wahrnehmung wieder eine einigermaßen normale Färbung an.

„Ich brauche jetzt erst einmal einen Campari.“ Anne schnappte sich ihre Umhängetasche und zwängte sich an Kurt vorbei in ihre Wohnung, ohne ihn jedoch einzuladen, ihr zu folgen.

Er tat es trotzdem, und sie schenkte ihm auch einen Fingerbreit Campari ein. „Mit Orangensaft?“, fragte sie und stellte wortlos das Glas vor ihn auf den Tisch, als er ablehnend den Kopf schüttelte.

„Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als du zum Tagblatt kamst“, sagte Kurt und lehnte sich zurück, den Blick gedankenverloren auf einen imaginären Punkt in der Ferne gerichtet. „Du trugst einen kurzen Rock, irgendeine bunte Bluse und hochhackige Schuhe. Ich dachte, welch eine Klassefrau und gleichzeitig: Das gibt Ärger.“

„Welchen Ärger?“

„Nun – ich kannte Wieland und all die jungen, ungebärdigen Windhunde, begierig auf einen jener typisch männlichen Kämpfe, die Frauen nie verstehen.“

„Dann hilf mir doch weiter, eine Frau kann nie genug erfahren über die männliche Psyche.“

„Dabei geht es – und diesen Eitelkeitsschnitzer machen viele Frauen – erst in zweiter Linie um sie als Person, jede attraktive Frau kitzelt diese Urtriebe wach. Es geht fast immer erst einmal darum auszuloten, wer der Stärkere ist. Weißt du, wir sind trotz aller Evolution viel näher auf dem Niveau ‚Höhle – Bärenfell – abschleppen‘, als wir selber glauben.“

Langsam begann sich Anne zu entspannen. Es war doch nur ein Gespräch wie viele andere, die sie schon mit Kurt geführt und die sie ausnahmslos genossen hatte.

„Und dann war da noch Wieland“, fuhr Kurt fort, „der Prototyp des Mannes, der Frauen in seinem tiefsten Innern eigentlich hasst. Da gibt es sicher auch ein paar schlimme Erfahrungen, aber ich tauge nicht zum Hobbypsychologen. Jedenfalls dürfte jedem einigermaßen beobachtenden Menschen klar sein, dass der ganze Mann voller Komplexe steckt. Junge, attraktive Frauen sind für diesen Typ nur in untergeordneter Position auszuhalten, sie erwecken all seine Angstdämonen. Und dann wirst du ihm vom Verleger quasi aufgedrückt und beweist ihm täglich, welche Null er doch ist. Ich habe schon am ersten Tag geahnt, was auf dich zukommen würde …“

„Kurt – mit Verlaub – du bist doch sicher nicht gekommen, um über Wieland oder Wolfgang, oder sonst jemanden mit mir zu reden“, intervenierte Anne, die sehr genau erkannte, welcher Name ihr nicht über die Lippen kommen wollte.

„Du hast Phil vergessen“, kam es prompt zurück. „Er ist einer der Gründe, warum ich dir gegenüber so ausfallend geworden bin. Der arme Junge ist schon so lange in dich verliebt. Aber ich will nicht abschweifen.“

Kurt trank einen Schluck aus seinem Glas, das er bis dahin nicht angerührt hatte. „Ich bin zu deinem Mentor geworden, weil ich mich aus irgendeinem, schwer zu bestimmenden Grund für dich und deinen Werdegang verantwortlich gefühlt habe. Nein – ich will bei der Wahrheit bleiben …“ Kurt stand auf, ging zum Fenster und wandte Anne den Rücken zu. „Du – die ganze Situation – weißt du, es gibt einer Parallele und die liegt noch gar nicht so lange zurück. Eine fast gleiche Konstellation: eine junge, schöne Frau mit Geist und Charisma und Männer, die einen Hahnenkampf austrugen. Nur – dass aus einem ganz normalen männlichen Wettstreit blutiger Ernst wurde.“

Er wandte sich um und schaute Anne direkt an, sein Blick hatte etwas Entrücktes, das ihr plötzlich Gänsehaut verursachte. „Du hast mich immer an die Tochter erinnert, Anne, die ich so gerne gehabt hätte und die ich nie hatte.“

„Bist du dir da ganz sicher“, brach es aus Anne heraus, „dass du nie eine Tochter hattest?“

„Du bist ein kluges Mädchen“, antwortete er fast zärtlich, „gerade ich sollte doch wissen, dass man deine Intelligenz nicht unterschätzen darf. Du spielst auf Regina Hetzelt an“, redete er weiter in der gleichen eigentümlich monotonen Sprache, fast als rezitiere er einen fremden Text.

„Ich weiß längst, dass du mit Melanie gesprochen hast. Ja, ich habe Irene geliebt, mehr als ich sagen kann, aber ich bin nicht der Vater ihrer Tochter.“

„Du hast sie zur Abtreibung begleitet, warum?“

„Weil ich Irenes Sklave war!“ Er stieß ein bitteres Lachen aus. „Und wohl immer bleiben werde.“

Es klingelte an der Wohnungstür und Anne sprang wie elektrisiert auf, aber Kurt war vor ihr an der Tür, nahm völlig zwanglos den Schlüssel, den Anne total vergessen hatte, aus der Hosentasche und sperrte ab.

„Oh nein“, sagte er mit merkwürdigem Lächeln, „wir werden uns jetzt nicht stören lassen. Ich bin noch lange nicht fertig.“

Nonchalant setzte er sich wieder in den Sessel und fixierte Anne mit starrem Blick. Ihr brach der Schweiß aus allen Poren. Ihre Gänsehaut war einer massiven, ganz realen Todesangst gewichen. Sie hätte doch auf ihre Eingebung hören und bereits im Treppenhaus flüchten sollen. Sie war nicht übergeschnappt, der anonyme Drohbrief war keine Einbildung gewesen. Kurt war nicht mehr der, den sie kannte.

„Weißt du, Anne“, fuhr er fort, „wenn man so weit gegangen ist wie ich, dann soll es wenigstens einen Zweck haben, nämlich den, dass sich die ganze Tragödie nicht wiederholt. Und spätestens jetzt dürfte dir aufgegangen sein, warum ich anfangs so weit ausgeholt habe.“

Anne wollte nichts mehr hören. Kurt hatte längst eine Schwelle überschritten, wenn sie auch nicht wusste, welche. Er würde sie umbringen. Fieberhaft suchte sie nach einem Fluchtweg und dachte gleichzeitig: Er muss weiterreden, ich muss ihn dazu bringen, weiter zu erzählen.

„Ich kann dir immer noch nicht ganz folgen, Kurt.“ Sie hörte selbst, wie gepresst ihre Stimme klang, hoffentlich bemerkte er ihre Angst nicht. Sie musste in ihr Schlafzimmer gelangen, bevor er Verdacht schöpfte. In der Tür steckte innen ein Schlüssel. Vielleicht konnte sie durch das Fenster fliehen. Sie hatte doch neulich erst die Fassade inspiziert, als sie geglaubt hatte, jemand sei eingestiegen. Es gab Simse und Mauervorsprünge. Es war zu schaffen – lieber mit einem Knochenbruch in der Öffentlichkeit als mit einem Mörder eingesperrt in der Wohnung.

„Erzähl weiter!“, sagte Anne und betete, dass Kurt das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerken möge. „Ich hole mir nur noch einen Schluck Campari.“ Die Ausrede gab ihr immerhin die Gelegenheit, unverdächtig aufzustehen. Sie goss von der braunen Flüssigkeit in ihr Glas und blieb mit verschränkten Armen hinter dem Sessel stehen.

„Du weißt wahrscheinlich nicht, was du bei den Männern in deiner Umgebung anrichtest – wobei man Matthias wohl nicht warnen muss.“ Kurt lachte bitter. „Aber ich werde nicht dulden, dass du Phil kaputtmachst.“ Seine Worte machten Anne schaudern. Sie bemühte sich, nicht allzu auffällig auf die Schlafzimmertür zu schauen – da klingelte das Telefon. Matthias, dachte Anne, doch sie erlaubte sich jetzt keine weiteren Schreckensszenarien. Das Gefühl nach draußen zu müssen, wurde übermächtig.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Kurt nach dem Telefonhörer griff und hastete mit zwei Schritten zur Schlafzimmertür und schloss sie von innen ab. Ihre Knie wurden weich und ihr Atem ging stoßweise. Nur jetzt nicht schlappmachen, befahl sie sich und öffnete das Fenster. Es sind nur lausige fünf Meter bis zum Fenster im Erdgeschoß sprach sie sich Mut zu, während sie ihre Beine über die Fensterbank schwang, nur nicht nach unten schauen. Neben dem Regenrohr verlief eine Leitung, Anne rief Gott an – in welcher Prägung auch immer er existierte – und hielt sich daran fest. Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass ein Kurzschluss ihrem Leben noch schneller ein Ende setzen könnte, als dies Kurt tat.

Sie hörte ihn drinnen gegen die Tür klopfen und nach ihr rufen. Bald würde er aus dem Fenster schauen und sie entdecken. Er musste sie dann nur noch unten erwarten – sie musste sich beeilen. Anne nahm mit dem Mut der Verzweiflung das eiserne Seil zwischen ihre Beine und rutschte nach unten. Sie spürte, wie das Metall ihre Hände verletzte und die Innennaht ihrer Jeans riss. Es tat höllisch weh und beinahe hätte sie losgelassen, aber sie biss die Zähne zusammen und glitt weiter nach unten. Sie hörte, wie irgendeine Halterung nachgab. Gleich würde es abreißen, aber zunächst wurde es dadurch beweglicher, und Anne hangelte sich auf das Fensterbrett im Erdgeschoß.

Von dort sprang sie ohne groß zu überlegen in die Tiefe. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren rechten Fuß, während ihr Knöchel umknickte, aber Anne gestattete sich keine Pause. Sie stand auf und tröstete sich damit, dass sie gehen konnte, auch wenn sie humpelte. Bis zu ihrem Auto würde sie kommen. Instinktiv duckte sie sich, während sie um die Ecke hinkte und sich vor Schmerz und Schwäche an die Hauswand lehnte. Die Autoschlüssel liegen in der Diele fuhr es ihr durch den Kopf, sie würde beim nächsten Haus klingeln müssen, um anzurufen. Anrufen – aber wen? Sie hatte faktisch niemanden mehr, dem sie vertrauen konnte. Jetzt spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

Wie ferngesteuert schleppte sie sich weiter, ohne Ziel und ohne Aussicht auf Sicherheit und gelangte, ohne dies recht beabsichtigt zu haben, zu ihrem kleinen Ford. War es wirklich erst eine knappe Stunde her, seit sie den Blumenstrauß entgegengenommen hatte? Anne schien es, als seien Jahre seitdem verstrichen. Hatte sie nicht tanken wollen, bevor sie nach Hause fuhr?

Das Wort tanken rief etwas wach aus den Tiefen ihrer Erinnerung, löste eine Blockade und ließ sie die letzten beiden Meter schweben. Sie hatte erst nach dem letzten Tanken den Ersatzschlüssel mit Pflaster an die Innenseite der Tankabdeckung geklebt, nachdem sie einen ganzen Nachmittag lang Autoschlüssel gesucht und einen Termin verpasst hatte.

Dankbar löste sie den Schlüssel und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Unverzüglich startete sie und fuhr los.

Ihr Fuß schmerzte beim Gasgeben und Bremsen, und das Signallicht auf der Armatur verkündete unmissverständlich, dass das Benzin zur Neige ging. Weit würde sie nicht kommen. Anne fuhr zum nächsten belebten Parkplatz und machte eine Bestandsaufnahme. Sie brauchte Geld zum Tanken und ihr Geldbeutel samt Kreditkarte lagen in der Wohnung. Außerdem musste sie irgendwo schlafen, sollte sie ein Hotelzimmer nehmen?

Vielleicht wäre es auch vernünftig, ihren klopfenden Fuß zu kühlen und hochzulegen. Anne warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, sie sah aus wie ein für Halloween geschminkter Geist. Sie beschloss, in die Redaktion zu fahren. Vielleicht hatte sie Glück und traf Carla noch an – wenn die ihr fünfzig Euro leihen konnte, würde ihr das sehr weiterhelfen.

Lüg dich nicht selbst an, dachte Anne, als sie ihren Wagen wendete, und Richtung Tagblatt fuhr. Du hoffst doch nur auf eine Sinnesänderung Phils, und dass er dich auf irgendeine Art rettet wie der Prinz im Märchen. Fast hätte sie laut gelacht. Mit Märchen hatte ihr Leben ja nun wahrlich nichts zu tun.

Sie warf einen Blick auf die Uhr, es war noch früher, als sie geglaubt hatte, aber es war schon dunkel. Tage, denen die Kraft fehlt, aufzustehen, dachte Anne und spürte eine tiefe Verbundenheit mit der Jahreszeit. Die Fenster in Phils Büro waren dunkel, also war er noch nicht zurückgekommen. Denke an das Nächstliegende, befahl sie sich, statt vor enttäuschter Hoffnung zu resignieren.

„Was tust du denn schon wieder hier – solltest du nicht im Bett liegen?“, fuhr Carla sie an, als Anne durch die Tür kam. „Und wie um Himmels willen siehst du denn aus? Deine Hände bluten ja.“

Die Versuchung war groß, Carla alles zu erzählen und auf ihr großes Herz und ihr legendäres Organisationstalent zu vertrauen, aber Anne widerstand ihr. Ihre Geschichte war einfach zu grotesk, um von der praktischen, bodenständigen Sekretärin geglaubt zu werden. Anne hatte viel zu viel Angst vor dem Zweifel, der unweigerlich in ihrem Blick auftauchen würde und schließlich war es einerlei, ob sie aus sadistischen Motiven oder aus Fürsorge in die Psychiatrie eingewiesen werden würde, das Ergebnis war dasselbe.

„Bitte frage nicht, Carla – es geht mir tatsächlich entsetzlich, aber ich kann im Augenblick nicht darüber reden. Kannst du mir vielleicht fünfzig Euro leihen, ich kann nicht in meine Wohnung. Du bekommst sie spätestens morgen zurück.“

„Keine Frage“, antwortete Carla, während sie bereits ihre Geldbörse inspizierte, „hast du dich ausgesperrt?“

„So etwas Ähnliches.“ Der Ton, der aus Annes Kehle kam, glich nicht einmal andeutungsweise einem Lachen, auch wenn er als ein solches gemeint war.

„Danke“, sagte sie zu Carla, als sie den Geldschein nahm. „Wie gesagt, bis morgen.“ Auch hier in den vertrauten Räumen der Redaktion brannte ihr bereits wieder der Boden unter den Füßen. Kurt konnte jeden Augenblick zurückkommen. Schon auf der Treppe nach unten, hörte sie Carla rufen. „So warte doch, Anne!“ Sie schaute zurück und begegnete Carlas bestürztem Blick. „Dein Verhalten gefällt mir gar nicht. Erzähl mir doch bitte, was eigentlich los ist, du humpelst ja.“ Und als Anne den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: „Hast du zufällig Kurt gesehen? Es waren schon wieder zwei Polizisten da und haben nach ihm gefragt.“

„Vor einer halben Stunde saß er noch in meinem Wohnzimmer“, entgegnete Anne, „ich glaube jedoch nicht, dass er da noch ist.“ So schnell es ihr verletzter Fuß zuließ, hastete sie nach draußen.

Anne tankte für zwanzig Euro und kaufte zwei Croissants an der Tankstelle und eine Flasche Mineralwasser. Vielleicht würde sie die Nacht im Auto verbringen, dachte sie, eine Decke lag schließlich auf dem Rücksitz. Sie glaubte nicht, dass sie in die Falle ihrer Wohnung zurückwollte, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass Kurt dort auf sie warten würde. Sie fuhr stadtauswärts und einige Kilometer ziel- und planlos auf der Landstraße, bis es im Wageninnern einigermaßen warm war, dann zog es sie wieder in die Stadt zurück. Die Angst, erneut verfolgt und vom Weg abgedrängt zu werden, war noch immer sehr gegenwärtig, stellte sie fest. Vielleicht ist das auch gut so, dachte sie, denn der Gedanke, verfolgt zu werden, war ihr bis jetzt nicht gekommen. Sie schaute in den Rückspiegel, aber bei der Vielzahl von Autos, die ihr folgten, konnte sie nicht feststellen, ob Kurt hinter ihr herfuhr.

Flüchtig kam ihr der Gedanke, nach Hause zu ihrer Mutter zu fahren, aber sie verwarf ihn wieder. Er war nicht wirklich eine Alternative, außerdem reichte das Benzin nicht für so eine weite Strecke. Im Übrigen war sie auf dem langen Weg ebenso angreifbar wie hier.

Sie ließ das kurze Gespräch mit Carla Revue passieren. Vielleicht war die Idee, zur Polizei zu gehen, doch nicht so abwegig, wie sie glaubte. Warum wurde Kurt denn gesucht? Vielleicht brauchte man ihre Aussage. Aber welche handfeste Erklärung hatte sie denn? Sie hatte immer noch nicht mehr anzubieten als anonyme Briefe, einen toten Vogel und ihre Behauptung, sie sei von der Straße gedrängt worden. Und die hatte man ihr schließlich schon einmal nicht geglaubt.

Anne zwang sich zur Ruhe, Panikgedanken brachten sie nicht weiter. Sie musste rational vorgehen. Schließlich lebte sie nicht in einem Bürgerkriegsland, sondern in einer zivilisierten Stadt in Deutschland, das immer noch ein Rechtsstaat war, auch wenn es manchmal nicht so schien. Sie würde bei ihrer Nachbarin klingeln und mit ihr zusammen in ihre Wohnung gehen oder – besser noch – im Erdgeschoss bei Thomas. Sie hatte noch einiges gut bei ihm. Dann konnte sie sich waschen, ihren Fuß verarzten und immer noch entscheiden, ob sie in einem Hotelzimmer schlafen wollte.

Langsam fuhr sie zurück. Die Fenster ihrer Wohnung waren dunkel, aber auf die trügerische Erleichterung, die sich in ihr breitmachte, verließ sie sich besser nicht. Sie sah Licht im Kellerfenster und hörte wie Thomas auf sein Schlagzeug eindrosch. Anne zog den Schlüssel ab, da sah sie, wie in dem Wagen, der vor ihr parkte, die Innenbeleuchtung anging. Die Tür ging auf und vor ihr stand Irene Reininger.

„Hast du eine halbe Stunde Zeit für mich, Anne? Ich glaube, nur du kannst mir noch helfen.“ Obwohl nur das Licht der Straßenlampe Irenes Gesicht erhellte, erkannte Anne, dass es grau war vor Erschöpfung. Zum ersten Mal registrierte sie Irenes tatsächliches Alter. Alles Strahlende hatte sie verlassen, scharf traten Falten um ihre Augen hervor, die sie bisher eher noch verschönt hatten, wenn sie lachte.

„Wenn dich Matthias schickt, ist meine Antwort in jedem Fall nein“, antwortete sie entschieden, bevor sie aus Mitleid etwas zusagte, was sie bereuen würde. „Ich sage das nur vorsorglich, damit du deine Zeit nicht verschwendest.“

„Wenn er mich geschickt hätte, wäre ich nicht so in Sorge“, sagte Irene, „aber er ist absolut unzugänglich. Er hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen, gibt keine Antwort und hört unaufhörlich Wagners ‚Walkürenritt‘. Ich wollte nur von dir erfahren, ob du eine Erklärung für sein Verhalten hast.“ Irene strich sich mit matter Geste eine Haarsträhne aus der Stirn. „Aber müssen wir das auf der Straße besprechen?“

Gut, entschied sich Anne, eine halbe Stunde würde sie Irene schenken, sie war schließlich nicht verantwortlich für Matthias‘ Grausamkeit. Das Leben hatte auch ihr übel mitgespielt, wie sie durch ihre Nachforschungen erfahren hatte. Außerdem enthob sie Irenes Anwesenheit der unangenehmen Frage, wie sie Thomas oder ihrer Nachbarin ihre Bedenken, allein in die Wohnung zu gehen, erklären sollte.

Mit einem knappen „Also dann“ ging Anne voraus zur Haustür.