Annes Wohnungstür stand weit offen, als sie mit Irene die Treppe hinaufging, demnach musste Kurt gegangen sein. Dennoch zögerte sie hineinzugehen und ließ Irene den Vortritt. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es erstaunte sie, dass alles noch genauso aussah wie am Nachmittag. Zwei Sessel um den Tisch im Wohnzimmer, darauf eine halbgeleerte Campariflasche, zwei Gläser und ein halbvoller Aschenbecher. Wenn Irene über die merkwürdige Szenerie, einschließlich der offenstehenden Wohnungstür, verwundert war ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Im Stillen fragte sich Anne, wann sie wohl ihre Wohnung wieder einmal gern betreten würde ohne Angst vor dem Telefon oder anderen unliebsamen Entdeckungen.
Sie konnte es Irene wohl kaum verübeln, dass sie in ihrem Eiskeller ihren Mantel nicht ablegen wollte. Irenes Gesichtsausdruck machte ihr das Herz schwer und sie bereute schon jetzt, sich auf ein Gespräch – ausgerechnet über Matthias – eingelassen zu haben. Eigentlich wollte sie nichts mehr von ihm hören und schon gar keinen Kommentar zu ihm abgeben müssen. Ein wenig bedauerte sie es, um ihres Seelenfriedens willen, künftig auch den Kontakt zu Irene abbrechen zu müssen. Sie hatte die wenigen Gespräche mit der weltgewandten, klugen Frau immer sehr genossen. Es hätte eine Freundschaft werden können, dachte sie – schade.
„Einen Tee?“, fragte sie beiläufig, mehr aus Unsicherheit und um die angespannte Gesprächspause zu füllen, als aus echter Gastfreundschaft.
„Mir wäre etwas Stärkeres lieber.“ Auch Irene lachte verlegen und Anne bemerkte, dass diese ebenso zauderte, von ihren Sorgen anzufangen, wie sie selbst sich sträubte, zuzuhören.
Anne holte frische Gläser und schenkte Campari ein. Irene nippte und sagte dann: „Hast du ein bisschen Eis da, Anne – tut mir leid, aber er ist lauwarm.“ Ist dir denn der letzte Rest Höflichkeit abhandengekommen, schalt sich Anne, während sie unter Entschuldigungen aufsprang und Eis holte.
Irene machte einen verlorenen Eindruck, wie sie so im Sessel saß und sich krampfhaft an ihrem Glas festhielt. Sie gab es auch nicht aus der Hand, als Anne die Eiswürfel hineingleiten ließ und diese in der Flüssigkeit leise knackten.
„Willst du nicht ablegen?“, fragte sie und Irene schaute sie an, als käme sie aus einer anderen Welt.
Es dauerte eine kleine Weile, bis sie antwortete: „Nein, es dauert nicht lange.“ Sie hob ihr Glas. „Santé – auf deine Gesundheit.“ Anne trank einen kleinen Schluck, der Campari schmeckte leicht modrig und sie fragte sich, ob das Wasser, aus dem sie das Eis gefroren hatte, wohl nicht mehr ganz frisch gewesen sei, aber Irene schien nichts zu bemerken.
„Ich scheue ein bisschen davor zurück, mit dir über Matthias zu reden“, begann sie zögernd. „Vor einer Stunde schien es mir noch der einzig richtige Weg, jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher … Es ist einfach nur so, dass ich keinen einzigen Menschen kenne, mit dem ich reden könnte.“
„Und Kurt?“, fragte Anne spontan, hätte aber ihre Frage gerne zurückgenommen, als sie Irenes Blick sah – unwillig, abweisend, überrascht. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie angenommen, Irene sei aus dem Konzept gebracht.
„Kurt ist kein Ratgeber“, antwortete Irene barsch ohne jeden weiteren Kommentar. „Hast du etwas zum Schreiben da?“, fragte sie stattdessen und fügte hinzu, als sie Annes Stirnrunzeln bemerkte. „Ich will dich nicht herumscheuchen, aber besondere Gelegenheiten erfordern nun einmal besondere Maßnahmen.“
Anne schwankte leicht, als sie zu ihrem Schreibtisch ging, ein Blatt Papier aus dem Drucker zog und einen Kugelschreiber aus der Schublade holte. Der Campari war keine gute Idee, dachte sie, der heutige Tag fordert jetzt endgültig seinen Tribut. Sie legte Papier und Kugelschreiber vor Irene auf den Tisch und setzte sich. Der Fußboden begann zu kreisen und Anne starrte eine Weile darauf, bis er langsam wieder Konturen annahm. Sie spürte, wie ihr Magen rebellierte, ganz vorsichtig hob sie deshalb den Kopf und schaute direkt in den Lauf einer Pistole.