„Wirkt es bereits?’“ Irenes Gesicht war verzerrt, doch Anne hätte nicht sagen können, ob ihr Eindruck stimmte, denn gleichzeitig begannen die Konturen der Fenster einzuknicken und die Blumensäule davor schwebte samt dem darauf stehenden Farn hoch über ihr im Raum.
„In der Regel dauert es etwa eine Stunde – aber du bist ein ganz besonderes Medium, Anne, das habe ich gleich erkannt.“ Irene kicherte. „Du bist ein psychisches Wrack und deshalb für einen Langzeitversuch ideal geeignet.“ Anne hörte Irene sprechen, doch der Sinn ihrer Sätze tropfte nur in kleinen Dosen in ihr Bewusstsein. Es war von Harfenklängen untermalt, wenn sie sprach. Anne konnte sich nicht bewegen, sie starrte auf eine kleine, silberne Öffnung, die sich langsam vergrößerte und sie wie in einen Tunnel hineinzuziehen schien.
„Es ist fast ein bisschen schade – dass du so überreagierst“, sagte Irene in dem seltsamen Sing-Sang, den Anne wahrnahm. „Ich hätte dich gerne etwas klarer gehabt.“ Irgendein Sensor in ihrem Innern sagte Anne, dass die Szene hier kein Traum war, sondern Realität, und dass sie fliehen musste. Irene war offensichtlich wahnsinnig geworden. Annes Blick hing an der Schlafzimmertür, bis ihr einfiel, dass sie diese selbst von innen verschlossen hatte. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine waren wie Blei.
„Du hast dich zu weit vorgewagt.“ Irenes Worte kamen jetzt wie Trommelschläge. „Jetzt ist es zu spät für eine kleine Versuchsreihe … Weißt du, die Pilze und ihre Substanz sind mein Lebenswerk. Zauberpilze oder Magic Mushrooms, wie man sie heute offenbar nennen muss, sind die unbedenklichen Verwandten des LSD. Ich habe zahllose Stunden damit verbracht, ihre Wirkstoffe Psilocybin und Psilocin zu extrahieren. Hätte mein Vater auf mich gehört, sie wären ein Bombengeschäft geworden.“
Anne wollte etwas sagen, doch es gelang ihr nicht. Der silberne Tunnel kam näher, als sie sich bewegte.
„Verschaffen sie nicht schöne Träume, wenn man sich am Modergeruch nicht stört?“ Irenes Worte hörten sich beinahe zärtlich an. „Du hast nur ein wenig zu stark darauf reagiert. Schade, dass ich beim ersten Versuch nicht in der Redaktion dabeisein konnte, aber ich bin dir nachgefahren und dein Auftritt, als du einen Fußgänger angefahren zu haben glaubtest, hat sich auch gelohnt. Normalerweise machen sie glücklich und produzieren keine Albträume. Aber, wie gesagt, du bist eben ein besonderes Sensibelchen.“
Täusch dich nicht, ich sehe schon jetzt wieder klarer, dachte Anne. So ernst die Situation war, für Anne hatte Irenes Aussage eine befreiende Wirkung. Irene war es, die den Verstand verloren hatte, sie selbst war zu keinem Zeitpunkt wahnsinnig gewesen, nur das Opfer einer Psychodroge. Sie würde kämpfen wie eine Tigerin. Irene durfte nur nicht misstrauisch werden, Anne verharrte in ihrer apathischen Haltung.
„Möchtest du nicht noch einen Schluck trinken?“ Irenes Tonfall lockte und warb. „Ich gestatte dir einen berauschenden Abschied. Aber zuvor schreibst du noch einen kleinen Brief … Ich musste meine Zauberpilze leider ein bisschen verschneiden, weißt du, man braucht den Extrakt von ungefähr 14 kg Pilzen, damit sie tödlich wirken. Verzeih mir, aber der Aufwand war mir für dich zu groß.“ Anne fand keine Erklärung für Irenes Verhalten – außer dem Wahnsinn. Was hatte sie ihr denn getan? Sie fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach und sie zu zittern begann.
„Hättest du dich nicht damit begnügen können, Matthias nur anzuschmachten wie alle anderen Frauen zuvor? Nein! Du musstest testen, wie weit du gehen kannst. Es muss dein Beruf gewesen sein, der seiner Eitelkeit zu sehr geschmeichelt hat“, sagte Irene schneidend, „denn – glaube mir – deiner Anziehungskraft als Frau verweigert er sich. War es denn eine Erfüllung mit meinem Bruder im Bett?“ Sie lachte laut und schrill.
„Ich weiß es schließlich, dass er bei jeder Frau versagt, seit er in des Wortes wahrster Bedeutung vom Schoß unserer Mutter gekrochen ist. Seitdem ist er mein Mann – und er wird es auch bleiben. Bilde dir nicht ein, dass er noch einen Pfifferling auf dich gibt, er ist längst reuig zu mir zurückgekehrt. Ich allein weiß, was er braucht und er weiß es auch. Er braucht von Zeit zu Zeit ein bisschen Strafe, um nicht gewalttätig zu werden und – ja – auch aus anderen Gründen. Das kannst du oder jede andere Frau ihm einfach nicht geben.“
Irene war aufgestanden, die Pistole schwankte in ihrer Hand, ihre Äußerungen hallten scharf und gellend durch den Raum.
„Ich werde es nicht dulden, dass du dahergelaufene Gans mein Leben kaputtmachst. Ich habe viel zu viel investiert, um auf halbem Wege stehenzubleiben.“ Irenes Stimme überschlug sich. „Nenne es elitär, aber wir Reiningers paaren uns am liebsten mit unserer eigenen Sippe. Vielleicht hat sich Matthias deshalb, ohne es zu wissen, zu seiner eigenen Nichte hingezogen gefühlt. Du passt nicht dazu.“
Sie setzte sich wieder und schob Anne das Papier und den Kugelschreiber zu. „So – und jetzt ist Schluss mit lustig. Du wirst jetzt einen Abschiedsbrief schreiben, in dem du erklärst, dass du dein Leben nicht mehr ertragen kannst und dass deine Depressionen dir keine andere Wahl lassen als den Tod.“ Sie seufzte. „Schau, Anne!“ Ihre Stimme klang jetzt beinahe liebevoll. „Irgendwie ist das ja auch die Wahrheit. Ich habe dich beobachtet, du weißt es vielleicht noch nicht so genau, aber du hättest dich früher oder später auch ganz allein für diesen Weg entschieden. Also schreib!“ Die Pistole fuchtelte vor Annes Nase. „Ich würde dich nur ungern erschießen müssen, es ist so unästhetisch, aber natürlich muss ich es tun, wenn du dich weigerst.“
Anne sann verzweifelt nach einer Möglichkeit, Irene zu überrumpeln, als sie langsam zu schreiben begann. Sie zweifelte keine Sekunde mehr, dass Irene ihre Drohung wahrmachen würde. Ihr Blick fiel auf die Campari-Flasche. Sie musste es versuchen, griff danach.
„Noch einen einzigen, reinen und unverfälschten Schluck zum Schluss, Irene“, bat sie. „Auch du bist kein solches Monster, ihn mir zu verwehren.“
Sie stand auf, um ein frisches Glas zu holen, die Campariflasche in der Hand, Irene nur einen Schritt von ihr entfernt. Anne beobachtete die Hand mit der Pistole und sah, wie sie sich langsam senkte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung zerschlug sie die Flasche an der Wand und rammte die abgebrochene Kante in Irenes Bauch. Sie hörte einen Schuss explodieren, bevor Irene zu Boden fiel und Anne stieß noch einmal zu und noch einmal, bevor ihr die Flasche aus der Hand genommen wurde.
Sie drehte sich um und fiel aufschluchzend in Phils Arme.