Die Moosröschen auf dem Tisch brauchten frisches Wasser. Die warme Maisonne hatte sie voll erblühen lassen, morgen schon würden sie die Köpfe hängen lassen. Anne lächelte über die Metapher. Werden und Vergehen hieß das Alphabet, aus dem das Leben geschrieben wurde.
Nun – der Umkehrschluss kennzeichnete sein Ab und Auf genauso treffend.
Sie hatte das Ab lange genug erfahren, für sie schwang das Pendel jetzt in die Gegenrichtung.
Sie ging ins Badezimmer und cremte ihre Arme ein, sie hatten doch tatsächlich Farbe angenommen von dem Tag, den sie werkelnd auf dem Balkon verbracht hatte. Rote Geranien zierten jetzt das Geländer, auch sie auf dem Weg nach oben. Anne sammelte die herumfliegenden Blätter ein, auf denen sie ein paar Notizen festgehalten hatte. Sie musste sich nicht viel notieren, ihre Geschichte war eingemeißelt in ihr Gedächtnis. Sie würde sich nicht unter Druck setzen mit der Niederschrift, niemand drängte sie.
Im Zeitraffer, während der Pflanzarbeit, hatte sie sie heute noch einmal durchlebt und erfahren, dass ihre Vergangenheit sie nicht mehr ängstigte.
Einige wenige Details fehlten noch, aber sie war zuversichtlich, dass Phil ihr bei der Rekonstruktion helfen würde. Sie dachte zurück an die wenigen Tage, die sie beide zusammen im Krankenhaus verbracht hatten, verletzt an Körper und Seele – oder wie die Ärzte sagten – schwer traumatisiert.
Phil hatte den Weg zurück schneller gefunden als sie, aber auch dieser Albtraum hatte sich letztlich zum Guten gewendet. Ohne den Schock, dass sie fähig gewesen war, einen anderen Menschen lebensgefährlich zu verletzen, wäre die Depression, die sie wohl schon ihr ganzes Leben begleitet hatte, nicht so offenkundig zutage getreten. Schließlich war auch Irene im selben Krankenhaus behandelt worden und – zumindest körperlich – genesen.
Ihr Geist war wohl schon länger krank gewesen. Und vielleicht, so vermutete Anne, hatten auch bei ihr die traumatischen Ereignisse ihren latenten Wahnsinn zum Ausbruch gebracht. Vielleicht war der Schock über den Tod des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte, Ludwig Moreno, der Vater ihrer Tochter, größer gewesen, als sie sich eingestanden hatte. Zumindest hatte Kurt dies in seinem Abschiedsbrief behauptet.
Sie lebte jetzt in einer psychiatrischen Klinik in ihrer eigenen Scheinwelt, aber Anne bezweifelte, dass die Drogen, die irgendwie ihr ganzes Leben begleitet hatten und ohne die sie jetzt nicht leben konnte, sie glücklich machten. Einen Prozess musste sie wohl nicht erwarten, die Ärzte hatten ihr absolute Schuldunfähigkeit bescheinigt.
Annes Gedanken richteten sich auf die Zukunft und blieben – wieder einmal – bei Phil hängen. Sie waren die wenigen Male, die er sie in der psychosomatischen Klinik besucht hatte, sehr vorsichtig miteinander umgegangen, so, als wäre das Gefühl zwischen ihnen zu zerbrechlich, um darüber zu reden. Es war nur zu verständlich, sagte sie sich, wenn Phil von ihrer irregeleiteten Wahrnehmung verletzt war, aber sie würde um ihn kämpfen, wenn er sie denn noch liebte.
Der Wasserkessel pfiff und Anne ging in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen, einen richtig starken Kaffee mit einer Prise Zimt, wie sie ihn liebte. Sie hatte in all den Wochen den Geschmack von Alkohol nicht vermisst und sie würde sicher jetzt nicht wieder mit ihren schlechten Gewohnheiten beginnen, auch diesem falschen Tröster begegnete sie am besten mit Distanz. Ihr Leben lag vor ihr wie ein weißes Blatt. Welche Vergleiche fielen ihr wohl heute noch ein?, fragte sie sich. Allerdings würde sie sich nicht quälen müssen, es zu füllen.
Es klingelte – und Annes Gefühle fuhren Achterbahn. Hatte Phil tatsächlich daran gedacht, dass sie wieder zuhause war? Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel und fand sich in Ordnung, so wie sie war. Sie musste an sich halten, nicht hinauszulaufen, die Treppe hinunter und ihm entgegen. Wenn sie sich täuschte – und lediglich Thomas hatte wieder eines seiner unaufschiebbaren Anliegen?
Aber es war unzweideutig Phil, der zögernd, mit langsamen Schritten die Treppe heraufkam, mit einem kürzeren neuen Haarschnitt, einer schicken Hose und einem Hemd, dessen Blau mit dem seiner Augen um die Wette strahlte.
Konnte es tatsächlich sein, dass auch Phil ein bisschen Angst vor ihrer ersten Begegnung außerhalb der sicheren Welt der Klinik hatte? Aber er schien sich zu freuen. Er trug einen Karton unter dem Arm und eine Papiertüte in der einen Hand, in der anderen hielt er einen Strauß von mindestens zwei Dutzend Rosen, deren berauschender Duft das ganze Treppenhaus erfüllte. Es waren alte Rosen, von der Art wie sie Rubens gemalt hatte. Anne konnte sich nicht erinnern, jemals ähnliche in einem Blumengeschäft gesehen zu haben.
„Hallo Anne, willkommen daheim.“ Seine Stimme hörte sich heiser an.
Bedächtig stellte er den Karton auf den Tisch, die Papiertüte daneben und die Rosen warf er achtlos auf die Couch.
„Lass dich anschauen!“ Mit zwei Händen hielt er ihre Oberarme auf Armeslänge von sich entfernt und schaute ihr in die Augen. Anne hielt nichts mehr, kein noch so ausgefeiltes taktisches Spielchen hätte jetzt ihre Gefühle unterdrücken können. Sie warf ihm beide Arme um den Hals und küsste ihn mitten auf den Mund, bevor Phil sie so fest an sich drückte, dass es fast schmerzte. Anne fühlte sein Herz klopfen, als er sie so leidenschaftlich küsste, dass sie meinte, er wollte nie mehr ein Ende finden.
„Am liebsten würde ich dich nie mehr verlieren“, sagte er leise und Anne raunte ihm ins Ohr: „Und was sollte dich jetzt noch daran hindern?“
Sehr viel später stellte Anne die Rosen in eine Vase, setzte sich ihm gegenüber.
„Das sind die schönsten Rosen, die ich jemals gesehen habe“, sagte sie mit einem Lachen, das sich in ihren Ohren ausgesprochen töricht anhörte, aber Phil schien sich nicht daran zu stören, „aber die Moosröschen hätten es auch getan – sie haben mich sehr gefreut, als ich gestern heimkam.“
„Jetzt könnte ich ja direkt noch ein paar Bonuspunkte mehr sammeln“, lachte Phil. „Aber der kleine Strauß auf dem Tisch ist von Angie und sie wird endgültig der letzte Mensch bleiben, der deine Wohnung noch einmal betritt, ohne zu klingeln.“
Angie – Annes Gedanken gingen zurück zu dem einzigen Besuch, den sie ihr im Krankenhaus abgestattet hatte. Es war der zaghafte Versuch einer Versöhnung gewesen, sie würden beide abwarten müssen, ob sie an ihre frühere Beziehung anknüpfen konnten. „Vielleicht sind wir ja jetzt quitt“, hatte Angie gemeint, „du mit deinem Matthias – ich mit meinem Wolfgang. Weißt du, auch ich habe das Recht auf einen Fehler.“
„Schade, dass ich keinen Kuchen gekauft habe“, entschuldigte sich Anne und goss Phil eine weitere Tasse Kaffee ein.
„Hast du noch nichts davon gehört, dass verliebte Menschen mit erstaunlich wenig Nahrung auskommen? Phil zwinkerte ihr zu. Soll am Oxytocin liegen, des besten Mittels für eine natürliche Gewichtsreduktion, obwohl ich mir dazu durchaus ein Zusatzprogramm vorstellen kann.“ In seinen Augen tanzten Teufelchen, und Anne wurde es heiß.
Hatte Phil in dem Karton auf dem Tisch einen kleinen Safe mit Juwelen versteckt und in der Papiertüte die Einbruchwerkzeuge, ihn zu öffnen?, fragte sich Anne, weil er den Karton alle naselang anfasste und sich zu vergewissern schien, ob die Tüte noch auf ihrem Platz stand.
„Was machst du da eigentlich dauernd?“, fragte sie.
„Ganz langsam“, gab er zurück, „immer der Reihe nach.“ Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tüte und einen ausgeschnittenen Zeitungsbericht. „Ich musste mich erst überzeugen, ob du schon bereit bist für all die Details, die uns bislang fehlten.“
Anne blätterte in dem Notizbuch und schaute Phil fragend an.
„Kannst du dich noch an den ungestümen Besucher erinnern, der dir dieses Buch auf den Schreibtisch geknallt hat? Ich habe es beim Ausräumen von Kurts Schreibtisch gefunden“, sagte er und zog mehrere handbeschriebene Blätter aus der Tüte. „Kurts Abschiedsbrief“, erläuterte er ernst. „Ich konnte mich bisher nicht entschließen, ihn der Polizei auszuhändigen … Aber ich werde es tun, wenn du Skrupel hast, mit einem Mann zu leben, der Beweise unterdrückt.“
„Ich werde den Antrag wohlwollend prüfen“, gab sie lachend zurück. „Haben wir den Satz eigentlich schon in der Phrasendreschmaschine?“
„Längst“, antwortete Phil, „aber höre dir erst einmal an, wieso ich überhaupt auf die Idee gekommen bin. Weißt du“, begann er, „auch für mich fielen die verschiedenen Puzzleteilchen erst nach mehrmaligem Lesen an den richtigen Platz. Ich hatte von Anfang an den richtigen Riecher. Ludwig Morenos Tod war weder ein Unfall noch Selbstmord. Ich hatte die Spur aufgenommen und meinen Bericht fast schon fertig …“
„Davon hast du mir aber auch nie etwas erzählt“, unterbrach ihn Anne.
„Weil ich eifersüchtig war, als du so stark auf seinen Tod reagiert hast“, antwortete Phil und fuhr fort: „Ich hätte allerdings den Grund niemals in einer Jahre zurückliegenden Rivalität, ausgerechnet zwischen Kurt und Moreno, gesucht.“ Gedankenverloren strich er über die ausgebreiteten Briefseiten. „An dem Abend bevor Ludwig Morenos Wagen ausbrannte, haben Matthias Reininger, Kurt und Moreno zusammen gezecht und Reininger hat seine Absicht zu kandidieren, offenbart. Darüber sind Reininger und Moreno in Streit geraten. Moreno hat wohl Reininger dessen krumme Grundstücksgeschäfte vorgeworfen und ihn auf der Straße zusammengeschlagen … Magst du es überhaupt hören?“, fragte er, als er bemerkte, dass sich Annes Gesicht verdunkelte.
„Ja, erzähle weiter!“, gab sie zurück.
„Danach hat er ihn in sein Auto gezerrt und ist mit ihm ins Maintal gefahren. Kurt vermutete, dass er Reininger an Ort und Stelle mit den verseuchten Grundstücken konfrontieren wollte.“
„Das war also der ‚Unfall‘, den er im Krankenhaus auskurierte“, warf Anne ein.
„Genau.“ Phil trank einen Schluck Kaffee. „Kurt ist dann den beiden nachgefahren, um Schlimmeres zu verhindern. Plötzlich hat Moreno so stark gebremst, dass sich sein Wagen um 180 Grad gedreht hat und mit Kurts BMW kollidiert ist, schreibt er hier.“ Phil zeigte auf eine Stelle im Brief. „An diesem Punkt wird Kurts Geständnis allerdings unklar und ich musste mir seine vielen Selbstbezichtigungen zusammenreimen. Offenbar ist Matthias Reininger mit Kurts Auto geflohen und Moreno und Kurt wollten ihm folgen. Allerdings habe wohl die Benzinleitung von dem Aufprall geleckt und sie beide hatten nicht mehr gewagt, Morenos Wagen zu starten. Sie seien – wieder einmal – wegen Irene in Streit geraten. Ludwig Moreno hatte Irene so übel beschimpft und ihn einen versponnenen Träumer genannt, der die Realität nicht erkennen könne, auch wenn sie so offensichtlich war wie bei Irene. ‚Du wirst für alle Zeit der Sklave einer begnadeten Hure bleiben‘, habe ihm Moreno vorgeworfen und Irene so unglaublich verleumdet, dass Kurt die Sicherungen durchgebrannt sind. „Aber – lies selbst!“, sagte Phil. „Ich habe meine Zweifel, ob es stimmt, was Kurt dann weiter schreibt. Es klingt zu glatt.“
Anne las die Passage. „Ich habe“, hatte er geschrieben, „Moreno so lange die Kehle zugedrückt, bis dieser nichts mehr sagen konnte und dann das Auto an den Straßenrand geschoben und angezündet. Es stand sofort in hellen Flammen und ich bin geflohen.“ Sie legte die Briefseite nachdenklich zurück.
„Die Vorwürfe Morenos würden nämlich ebenso gut auf Matthias Reininger passen“, wandte Phil langsam ein, „wie wir jetzt wissen. Kurt könnte weggefahren und zu Fuß zurückgekommen sein, um die beiden zu beobachten. Kurt könnte sich in seiner verblendeten Liebe selbst im Tod noch vor Irene gestellt haben. Das war der Grund, warum ich den Brief zurückgehalten habe … Aber vielleicht bin ich ebenso uneinsichtig und möchte nur gerne in Matthias den Täter sehen und nicht in Kurt, den ich immerhin sehr lange als Vorbild gesehen habe. Da bin ich übrigens nicht allein.“ Phil drohte Anne scherzhaft mit dem Finger. „Du wolltest schließlich auch lieber Wolfgang zum Graffitischmierer stempeln als einen ausgeflippten Praktikanten.“
„Wir werden es nie mit letzter Gewissheit herausfinden“, gab Anne zurück, „und manche Dinge bleiben besser im Dunkeln. Es wären nicht die einzigen in unserem vermeintlichen Rechtsstaat.“
„Das bringt mich direkt zu meinem letzten Thema“, antwortete Phil und legte den ausgeschnittenen Zeitungsbericht vor Anne hin.
Matthias Reininger mit überwältigender Mehrheit zum Oberbürgermeister-Kandidaten nominiert, las sie und legte den Bericht wieder ab.
„So viel zur Gerechtigkeit“, war ihr Kommentar, „überrascht es dich?“
„Nein – aber er muss sich warm anziehen, sollte er gewählt werden“, sagte Phil drohend. „Unser Verleger hat mich nämlich zum Nachfolger von Wieland ernannt. Er ist vorzeitig in den Ruhestand gegangen. Meinst du, wir können zusammenarbeiten?“